Botschafter des Heils in Christo 1879

Das Wort Gottes - Teil 3/3

Ein anderes Hindernis zur Erlangung eines richtigen Verständnisses des Wortes besteht darin, dass man seine eignen Gedanken in dasselbe hineinträgt, anstatt die Gedanken Gottes aus demselben zu schöpfen. Man vergisst, dass das Wort die einzige Quelle aller wahren Gedanken ist; man denkt außerhalb desselben, bringt dann seine vorgefassten Meinungen und Ideen in das Wort hinein und sucht es diesen anzupassen. Auf diese Weise wird das Wort verdreht und ihm häufig ein Sinn beigelegt, der ihm ganz und gar fremd ist. Man bewegt sich, mit der Bibel in der Hand, in seinen eignen Gedanken, bleibt deshalb in Unwissenheit und tappt im Finsteren umher; zugleich liefert man den Beweis, dass man sich nicht unter, sondern über das Wort stellt. Man kommt nicht, um durch dasselbe belehrt zu werden, sondern als ein solcher, der bereits etwas zu wissen meint. Aber „wenn jemand sich dünkt, er wisse etwas, der hat noch gar nichts erkannt, wie man erkennen soll“ (1. Kor 8,2).

Das Wort „gibt Einsicht den Einfältigen.“ Es fordert unsere ungeteilte Aufmerksamkeit und eine völlige Unterwerfung, wenn anders der Zweck, zu welchem Gott es gegeben hat, in uns erreicht werden soll. Das Bewusstsein, es mit dem Wort Gottes zu tun zu haben, lässt uns den uns geziemenden Platz ihm gegenüber im Gefühl unseres Nichts einnehmen, wie Maria ihn zu den Füßen Jesu einnahm. Es müssen sowohl die Dinge dieser Welt, als auch unser vermeintliches Wissen in den Hintergrund treten. Wo Gott redet, muss das Ich schweigen; ausgeleert von uns selbst, sind wir Gefäße, die Gott füllen kann. Der Psalmist sagt: „Bevor ich gedemütigt ward, irrte ich, jetzt aber halte ich deine Worte“ (Ps 119,67). Das Bewusstsein der Gegenwart Gottes macht immer demütig und lässt uns nie leichtfertig mit seinem Wort umgehen.

So wenig wir uns jedoch bei dem Studium des Wortes durch unsere eignen Gedanken leiten lassen dürfen, ebenso wenig sollten wir die Meinungen anderer über dasselbe stellen. Dies geschieht leider nur zu oft. Es ist eins der weitverbreitetsten Übel unter den Christen und eins der wirksamsten Mittel in der Hand des Feindes, um diese von dem richtigen Verständnis der Wahrheit fern zu halten und sie zum Spielball menschlicher Vernünfteleien und allerlei verkehrter Auslegungen des Wortes zu machen. Unzählige Gläubige gelangen dadurch nie zu einer wahren Festigkeit und Selbstständigkeit, sondern werden „hin und her geworfen und umher getrieben von jeglichem Wind der Lehre“ (Eph 4,14). Den gröbsten Irrtümern ist auf diesem Weg Tür und Tor zu den Herzen geöffnet, und dies kann sicher nur die traurigsten Früchte hervorbringen. Wie viele Seelen mühen sich, in Ungewissheit über ihre Errettung und von steten Zweifeln geplagt, vergeblich ab und schleppen sich oft Jahre lang in einem gesetzlichen Zustand dahin, ohne die Ruhe des Gewissens und den ihrem Herzen so nötigen Frieden finden zu können, den das einfache, klare und köstliche Wort Gottes ihnen bietet. Wie viele Taufende nehmen in ihrem Streben nach Heiligkeit, vielleicht mit aufrichtigem Herzen, zu allerlei vorgeschlagenen Mitteln ihre Zuflucht, um entweder, ermüdet und enttäuscht durch schmerzliche Erfahrungen, schließlich eine entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, oder sich der noch schrecklicheren Täuschung einer fleischlichen Vollkommenheit hinzugeben. Doch wer vermöchte die unzähligen, krankhaften Zustände alle zu schildern! Denken wir nur an die traurige Zersplitterung inmitten der Christenheit, an die unendlich vielen Sekten und Parteien derselben, an das kraftlose Formen– und Zeremonienwesen, in welchem so manches christliche Leben verkümmert! Alle diese betrübenden Erscheinungen sind, wenn sie auch zum Teil in der persönlichen Untreue ihren Grund haben mögen, doch hauptsächlich die Frucht jener großen Unkenntnis und falschen Auffassung des Wortes, welche sich bei Taufenden von Christen vorfindet – einer Unkenntnis, die sich in den meisten Fällen auf den Einfluss anderer zurückführen lässt.

Hiermit soll aber keineswegs gesagt sein, dass wir alles, was andere in Bezug auf das Wort reden oder schreiben, verwerfen oder unbenutzt lassen sollen. Denn dadurch würden wir zugleich die Gaben verwerfen, die Christus gegeben hat „zur Vollendung der Heiligen: für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes Christi“ (Eph 4,12). Wir würden durch eine solche Handlungsweise nichts weniger als Ehrfurcht vor dem Wort Gottes beweisen. Denn ein Christ, der gegen diese Gaben, mögen sich dieselben nun in Wort oder Schrift kundgeben, gleichgültig ist, ist es sicherlich auch gegen das Wort Gottes selbst. Zugleich würden wir uns dadurch einer Verachtung der Wirksamkeit des Heiligen Geistes schuldig machen, der auf diese Weise zum Nutzen aller durch die verschiedenen Glieder des Leibes Christi wirkt. Er teilt einem jeglichen insbesondere aus, wie Er will, und kommt durch die verliehenen Gaben unserem Verständnis beim Lesen der Heiligen Schrift zu Hilfe. Dies stellt uns unter eine Verantwortlichkeit, der wir uns nicht entziehen können, ohne dadurch den Heiligen Geist zu betrüben und uns selbst großen Schaden zuzufügen. Endlich verrät es Hochmut und Einbildung des Herzens, wenn jemand meint, die Gaben entbehren zu können, die Gott anderen geschenkt hat.

Aber dennoch kann nur die Heilige Schrift unsere einzige Richtschnur sein. Wir müssen alles, was andere, wer es auch sei, darüber sagen oder schreiben, im Licht derselben und unter der Leitung des Heiligen Geistes prüfen. Wir lesen in Apostelgeschichte 16 von den Beröern, dass sie mit aller Bereitwilligkeit das Wort aufnahmen, indem sie täglich die Schriften untersuchten, ob dies sich also verhielte. Sie prüften selbst das, was Paulus zu ihnen redete, im Licht der Schriften, und als sie sein Wort in Übereinstimmung mit denselben fanden, nahmen sie es unverzüglich auf, und viele glaubten. Auf diese Weise können wir bei der Betrachtung des Wortes alles mit Dank gegen den Herrn benutzen, was der Geist Gottes durch andere darreicht, aber wir sollten uns nie der Leitung anderer überlassen. Unser alleiniger untrüglicher Leiter ist der Heilige Geist. Da wo man unter seiner Leitung, im Bewusstsein der eignen Unwissenheit, mit Gebet das Wort zu erforschen sucht, wird ein richtiges Verständlich desselben nicht ausbleiben. Denn es steht geschrieben: „Uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist, denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen Gottes. Denn wer von den Menschen weiß, was im Menschen ist, als nur der Geist des Menschen, der in ihm ist? Also weiß auch niemand, was in Gott ist, als nur der Geist Gottes ... Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, denn es wird geistlich beurteilt“ (1. Kor 2,10–11.14). „Der Sachwalter aber, der Heilige Geist, den der Vater senden wird in meinem Namen, jener wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (Joh 14,26). Der Heilige Geist ist es, der uns in alle Wahrheit einführt, der alle Dinge erforscht, selbst die Tiefen Gottes, und uns dieselben offenbart. Aber Er tut dieses durch das Wort. Dasselbe ist in seiner Hand das Mittel, uns in alle Wahrheit zu leiten und uns cm richtiges Verständnis zu geben, und das ist die erste Bedingung zu einer gesunden Entwicklung des geistlichen Lebens in uns.

Doch obwohl dies der Fall ist, so kann es, wie wir schon früher bemerkten, dennoch sein, dass jemand ein richtiges Verständnis über viele Punkte der Wahrheit besitzt, ohne deshalb in einem gesunden Zustand zu sein. Es ist durchaus nötig, dass ein solches Verständnis mit einem völligen Gehorsam verbunden ist. Josua (das Vorbild unserer wahren christlichen Stellung in den himmlischen Örtern) musste nicht allein Tag und Nacht über das Wort sinnen, sondern auch „tun nach allem, was darin geschrieben ist“; „er musste handeln nach dem ganzen Gesetz.“ Da, wo das Verständnis mit dem Gehorsam verbunden ist, kann das Wort seine Wirkungen in uns erzeugen und das Leben sich in gesunder Weise entwickeln, trotz des Widerstandes des Fleisches und inmitten einer Welt, die im Gegensatz zu diesem neuen Leben steht. Das Wort verlangt unbedingte Unterwerfung, bietet aber zugleich auch die dem Gehorsam nötige Kraft dar. Sobald die Priester der Aufforderung, mit der Bundeslade vor dem Volk her über den Jordan zu gehen, Folge leisteten und ihre Füße in den Rand des Wassers tauchten, teilte sich der Jordan, obwohl er voll war über alle seine Ufer (Jos 3,15). Der Glaube findet das Wort stets zuverlässig und köstlich und erfährt die Kraft desselben, indem er sich seiner Leitung völlig anvertraut. Aber er erfährt diese Kraft nur auf dem Weg des Gehorsams, und dieser Weg ist der Tod des Fleisches. Zuerst Gehorsam, dann die Kraft. Wenn die Priester nicht zuerst gehorcht hätten, würde sich der Jordan nimmer geteilt haben.

Das Wort Gottes ist völlig ausreichend in all unseren Beziehungen hienieden, aber nur der Glaubensgehorsam macht diese Erfahrung. Alles hängt, soweit es unsere Verantwortlichkeit betrifft, von diesem unterwürfigen Gehorsam ab. Wir bedürfen nicht nur einer ungeteilten Aufmerksamkeit gegen das Wort, um ein richtiges Verständnis zu erlangen, sondern auch der Verwirklichung dessen, was wir erkannt haben; und in dem Maß diese stattfindet, wird auch wiederum das Verständnis zunehmen. „Seht nun zu, wie ihr hört; denn wer irgend hat, dem wird gegeben werden, und wer irgend nicht hat, von dem wird selbst, was er zu haben scheint, genommen werden.“ Dies ist eine sehr ernste Sache in Bezug auf unser tägliches Leben, und umso ernster, je einfacher und gewöhnlicher die Beziehungen sind, in welchen wir uns bewegen. So bedürfen wir zum Beispiel in den täglich wiederkehrenden Umständen unseres Familienlebens am meisten Gnade und Wachsamkeit, um stets dem Wort unterworfen zu bleiben. Und diese Unterwürfigkeit gibt sich kund in der Verwirklichung dessen, was wir von dem Wort erkannt haben.

Doch wie groß ist der Mangel an dieser Unterwürfigkeit in den Häusern so vieler Christen! Wir müssen uns hier darauf beschränken, nur auf einige Punkte aufmerksam zu machen. Wie viele christliche Eltern gibt es zum Beispiel, die sehr wohl wissen, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben. Denn die darauf bezüglichen Ermahnungen des Wortes sind ganz einfach und bestimmt. Aber trotzdem erziehen sie dieselben nicht für den Herrn, sondern für die Welt. Worin hat dies seinen Grund? Nicht in dem Mangel an Verständnis, sondern in dem Mangel an Unterwürfigkeit. Eine solche Erziehung hat aber nicht nur die traurigsten Folgen für die Kinder, sondern auch für das geistliche Leben der Eltern. Die Wirksamkeit des Wortes wird in ihnen gehemmt und ihre geistliche Kraft geschwächt. Sie begehen nicht allein eine Untreue gegen ihre Kinder, sondern auch gegen das Wort, weil sie demselben nicht gehorchen, obwohl sie seine bestimmten Gebote kennen. Ein jeder Ungehorsam aber, selbst in den geringsten Dingen, ist der Beweis des Mangels an Achtung und Ehrfurcht vor dem Wort Gottes – der Beweis einer nicht unterworfenen Natur und eines ungebrochenen Willens, die Verantwortlichkeit gegen das Wort erstreckt sich jedoch nicht nur auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, sondern auch auf die Beziehungen der Kinder zu den Eltern, der Geschwister zu einander, der Herrschaften zu dem Gesinde, des Gesindes zur Herrschaft – kurz auf alle die Beziehungen unseres Familien– und öffentlichen Lebens. Stets haben wir die Autorität des Wortes anzuerkennen und uns demselben zu unterwerfen.

Auch in dem Geschäftsleben der Christen Zeigt sich oft eine große Untreue, ein bedauerlicher Mangel an Achtung vor dem Wort, obwohl es in dieser Beziehung gewiss auch nicht an genügenden, klaren und einfachen Anleitungen desselben fehlt. Viele betrachten das Geschäft als eine vom Christentum getrennte Sache und betreiben es folglich ganz nach den Grundsätzen dieser Welt, anstatt auch hierin wie in allem anderen das Wort als alleinige Richtschnur gelten zu lassen. Doch ich frage: Genügt es in dieser Beziehung nicht als alleinige Richtschnur? Oder kann ein Christ mit Ausschluss des Wortes überhaupt noch als Christ handeln? Keiner, der wirklich den Herrn kennt, wird über die Beantwortung dieser Fragen in Ungewissheit sein. Aber trotzdem weigert man sich, diesen Maßstab an sein Geschäft anzulegen und das Licht des göttlichen Wortes in jeden Winkel desselben hineinleuchten zu lassen. Verrät eine solche Weigerung nicht deutlich, wie sehr man von der Tatsache überzeugt ist, dass nicht alles im Geschäft mit dem Wort im Einklang steht, und wie wenig man geneigt ist, sich der ausschließlichen Leitung desselben zu unterwerfen? Ach, der Grund der Sache ist: man will nicht abhängig sein von Gott. Bei einer solchen Gesinnung muss das Wort seinen gesegneten Einfluss auf uns vollständig verlieren und der eigene Wille Nahrung finden. Gott erlaubt vielleicht, dass wir unseren Zweck erreichen und uns Reichtum. Ehre und Ansehen erwerben. Aber wie steht es mit unserem geistlichen Fortschritt? Wie mit dem Zeugnis als „Brief Christi?“ Kann die Welt den Fremdling in uns wahrnehmen, der nicht von der Welt ist, gleich wie Christus nicht von ihr ist? Gewiss nicht. Anstatt wie Abraham in glückseliger Gemeinschaft mit Gott auf dem Berg, fern von Sodom, zu stehen, befinden wir uns wie Lot in Verbindung mit dem, was bald einem schrecklichen Gericht anheimfallen wird. Das geistliche Leben ist geschwächt und gleicht einer Pflanze, auf welche der Mehltau gefallen ist; ihr Wachstum ist gestört, und sie selbst verkümmert mehr und mehr. Wohl schreckt das Gewissen dann und wann wieder auf; aber es ist umsonst, es ist keine Kraft vorhanden. Das Wort Gottes, dieser kostbare Schatz, der allein die Seele durch seine köstlichen Mitteilungen über das eigene Ich und über die nichtigen Dinge dieser Welt zu erheben vermag, ist in seiner Autorität bei Seite gesetzt und der Heilige Geist betrübt.

Andre erreichen zwar nicht ihren Zweck in der Verfolgung ihres eignen Willens, aber nichtsdestoweniger erzeugt dieser auch bei ihnen seine unausbleiblichen Resultate – eine Verunehrung des Herrn in der traurigsten Weise – eine Verunehrung, welche besonders in unseren Tagen eine solche Ausdehnung gewonnen hat, dass jedes christlich fühlende Herz mit Trauer und Schmerz erfüllt sein muss. Das gewissenlose, leichtfertige Schuldenmachen und so manche Fallimente, welche unter den Christen vorkommen, sind nicht eine Folge von den schlechten Zeiten, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt, sondern von dem Mangel an Achtung und Ehrfurcht vor dem Wort Gottes. BW ich nicht in Übereinstimmung mit diesem Wort, so kann mein Weg unmöglich ein gesegneter sein. Was dem Wort eine so unermessliche Wichtigkeit verleiht, ist, dass in allen Beziehungen, selbst den irdischen, der wahre Segen von der sorgfältigen Beobachtung desselben abhängig gemacht wird. „Denn alsdann wirst du guten Erfolg haben auf deinen Wegen, und alsdann wird es dir gelingen“ (Jos 1,8). „Und alles, was er tut, gelingt wohl“ (Ps 1,3). Jedoch ist es verkehrt, zu denken, dass das Wort einer irdischen Gesinnung Vorschub leistet; der geistliche Christ weiß im Gegenteil sehr wohl, dass er als ein himmlischer Mensch keine irdischen Verheißungen besitzt, und dass er berufen ist, hienieden mit Christus zu leiden und seine Schmach zu tragen. Aber dennoch ist es köstlich für ihn, seine irdischen Angelegenheiten als die Angelegenheiten Gottes betrachten und auf seine Fürsorge rechnen zu können. Wir erkennen völlig die Schwierigkeiten an, die für einen Christen mit dem Geschäftsleben verbunden sind, gegenüber den in der Welt herrschenden Betrügereien und Ungerechtigkeiten. Aber immer bleibt es wahr, dass die größte Schwierigkeit nicht darin besteht, sondern vielmehr in einer nicht unterworfenen Natur und in einem ungebrochenen Willen. Für den völligen Gehorsam sind die Schwierigkeiten nichts anders, als was auch der überflutende Jordan für die Priester war.

In seiner traurigsten Form zeigt sich die Untreue gegen das Wort jedoch auf religiösem Gebiet. Zwar ist in dieser Beziehung ein großer Mangel an Verständnis unter den Christen vorherrschend, aber nichtsdestoweniger sind sie verantwortlich, weil sie das Wort Gottes besitzen. Trägt auch der Einfluss anderer, wie oben bemerkt, die Hauptschuld an diesem Mangel, so findet er doch auch bei sehr vielen seinen Grund in ihrer persönlichen Untreue gegen das Wort. Nicht, dass sie dasselbe nicht als Grundlage ihres Bekenntnisses haben wollten; denn darauf möchte wohl keine Partei, sei sie noch soweit von der Wahrheit entfernt, verzichten, wenn sie anders Ansprüche auf ein christliches Bekenntnis macht. Aber wenn die Heilige Schrift die einzig wahre Regel und Richtschnur des Christentums ist, warum weigern sie sich dann, dieselbe bei religiösen Fragen allein reden zu lassen? Warum hören sie nicht, wenn sie klar und deutlich redet? Warum werden sie aufgebracht, wenn die Wahrheit an sie herantritt? Ein solches Verhalten verrät nur den Hochmut eines Herzens, das sich nicht unter das Wort beugen will, weil es sich in einem System gefällt, in welchem nicht Christus, sondern es selbst der Mittelpunkt ist. Es will die Autorität des Wortes nicht anerkennen, weil es seine eignen Interessen, seine eigene Ehre und seine Verbindungen mit der Welt nicht preisgeben will. Es verrät gewiss einen traurigen Zustand, wenn man sich beharrlich der Wahrheit widersetzt, ohne sie einer näheren Prüfung zu würdigen. Und in diesem Zustand befinden sich Tausende von Christen. Sie besitzen das teure Wort Gottes, aber sie machen es durch ihr Verhalten in Bezug auf sich selbst wirkungslos, und die Wahrheit bleibt ihnen verborgen. Auch auf sie könnte man das Wort anwenden, welches Petrus in einer anderen Beziehung gebraucht: „Mit Willen ist ihnen dies verborgen.“

Eine aufrichtige Seele kann wohl durch den Einfluss anderer, denen sie viel Vertrauen geschenkt hat, irregeleitet werden, aber sobald sie die Wahrheit unterscheidet, beugt sie sich vor derselben und nimmt sie an; sie hat Achtung und Ehrfurcht vor dem Wort Gottes. Und dies ist immer das unterscheidende Kennzeichen solcher, die es aufrichtig meinen. Sie kommen zur Erkenntnis der Wahrheit, deren Resultat die praktische Befreiung ist – wenngleich ihr Herz dabei viele Hebungen durchzumachen hat, und ihr Glaube auf mancherlei Weise geprüft wird. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen; und die Wahrheit wird euch freimachen“ (Joh 8,32).

Doch gibt es leider auch solche, die wirklich die Wahrheit erkannt haben, ohne sie jedoch zu verwirklichen. Wenn schon in den mancherlei äußeren Verhältnissen des Lebens die aus unserer Untreue entspringenden Folgen sehr ernst sind, so sind sie es doch noch weit mehr auf religiösem Gebiet. Der Gläubige macht in diesem Fall nicht nur keine Fortschritte, sondern er verliert auch das Licht, welches er empfangen hatte. Diejenigen, von welchen wir jetzt sprechen, streiten nicht gegen die Wahrheit, sondern erkennen sie völlig an und rechtfertigen sie sogar anderen gegenüber. Sie haben erkannt, dass alle die Systeme der bekennenden Parteien im Widerspruch stehen mit der Wahrheit des „einen Leibes“, zu welchem alle Gläubige durch „einen Geist“ getauft sind. Sie wissen, dass nur da das Gedächtnismahl des Herrn im Sinn des Wortes gefeiert wird, wo es der Ausdruck dieser Einheit ist, und wo der Wandel aller derer, die daran teilnehmen, mit diesem Wort nicht im Widerspruch steht. Sie wissen, wie sehr der Herr verunehrt, der Heilige Geist betrübt und das Zeugnis geschwächt wird durch das Verbleiben in irgendeiner Partei. Aber obwohl sie dieses wissen, so bleiben sie doch, wo sie sind. Welch ein trauriger Zustand! Gott hat ihnen in seiner herablassenden Güte das Verständnis der Wahrheit gegeben und ihnen seinen wohlgefälligen Willen kundgetan – aber sie wollen nicht folgen. Er hat ihnen den Weg gezeigt, auf welchem sie, getrennt vom Bösen, die herrlichen Erfahrungen des Gehorsams machen und seine gesegnete Gemeinschaft genießen können – aber sie weigern sich, den Weg zu gehen. Er hat ihnen in seiner unendlichen Güte die Grundlosigkeit all ihrer Befürchtungen, Einwendungen und Bedenken gezeigt und sie durch die herrlichsten Verheißungen zu ermutigen gesucht – aber vergeblich. Sie wollen nicht und verraten durch ihr trauriges Verhalten Liebe zu allem, nur nicht zu dem Herrn und seinem Wort. Es fehlt ihnen nicht an Einsicht, wohl aber an Treue, und dies kann nur zum größten Schaden für ihre Seele ausschlagen. Sie werden die Wahrheit des Wortes an sich erfahren: „Seht nun zu, wie ihr hört; denn wer irgend hat, dem wird gegeben werden, und wer irgend nicht hat, von dem wird selbst, was er zu haben scheint, genommen werden“ (Lk 8,18). Das Wort behauptet stets seine Autorität. Es ist treu, sowohl in seinen Verheißungen, wie auch in seinen Drohungen.

Was ist aus denen geworden, welche einstmals die Wahrheit erkannten, aber nicht entschieden genug waren, ihr zu folgen? Gleich einem Schiff ohne Steuerruder, hin und her geschleudert und umhergetrieben durch die immer Häher steigenden Anforderungen der Natur und Begierden des Fleisches, haben sie sich weiter und weiter von der im Wort Gottes verzeichneten Spur entfernt; die Gemeinschaft, der verborgene Umgang mit Gott hat aufgehört, eine Wirklichkeit für das Herz zu sein; die daraus hervorgehende Freude und Kraft sind verschwunden, um allerlei weltlichen Plänen Platz zu machen. Und um noch den Schein der Frömmigkeit zu retten, geben sie sich umso eifriger den äußeren Formen einer dem Fleisch entsprechenden Religiosität hin; das Licht ist verschwunden, und oft bekämpfen sie mit Energie die Wahrheit, gegen welche sie ehedem keinen Widerspruch zu erheben wagten. Ach, sie sind in eine Strömung Hineingeraten, welche sie, soweit es von ihrer Verantwortlichkeit abhängt, einem unvermeidlichen Untergang entgegenführt.

Das sind die unausbleiblichen Folgen des Ungehorsams gegen das Wort Gottes, selbst wenn es sich nur um einzelne Wahrheiten handelt. Vernachlässigen wir zum Beispiel die Wahrheit der auf den Tod und die Auferstehung Christus gegründeten Befreiung des Gläubigen und halten wir sie nicht aufrecht in der steten Gemeinschaft mit Gott, wie bald wird sie dann für uns zu einer rein kraftlosen Verstandessache, deren Besitz die Lüste und Begierden des Fleisches nicht zu hemmen vermag! Oder vernachlässigen wir die Wahrheit der täglichen Erwartung des Herrn, wie bald wird ihr heiligender und erfrischender Einfluss auf unseren Wandel verschwinden, und wie bald wird das Herz mit Plänen für diese Welt erfüllt sein! Und wer kann sagen, wo wir endigen werden, wenn wir einmal einen Anfang mit der Vernachlässigung des Wortes gemacht haben? Ach, die traurigen Sünden, welche selbst unter solchen vorgekommen sind, die nicht nur die Wahrheit erkannt, sondern auch eine Zeitlang darin gewandelt haben, reden in dieser Beziehung eine zu ernste Sprache, als dass wir nötig hätten, noch weitere Bemerkungen daran zu knüpfen.

Unsere Verantwortlichkeit gegen das Wort Gottes ist größer, als man gewöhnlich denkt; und der unter uns herrschende Mangel an Frische, Energie und Kraft ist nur der Beweis unseres Mangels an Achtung und Ehrfurcht vor demselben, zugleich aber auch die Bestätigung seiner ungeschwächten Autorität. Möchten wir mehr den Ernst unserer Verantwortlichkeit verstehen und der an Timotheus gerichteten Ermahnung eingedenk sein: „Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast und dessen du überzeugt bist, da du weißt, von wem du gelernt hast, und weil du von Kind auf die Heiligen Schriften kennst, die vermögend sind, dich weise zu machen zur Seligkeit durch den Glauben, der in Christus Jesus ist“ (2. Tim 3,14–15). Sicherlich vermögen wir nur durch die Gnade und Kraft des Heiligen Geistes und in stetem Ausblick auf den Herrn in seinem Wort zu bleiben. Dennoch wiederholen wir noch einmal, dass es das Wort ist, dessen sich der Heilige Geist bedient, um uns die nötige Kraft darzureichen. Und wenn es dabei vieles zu richten gibt, so ist dieses der Zweck und die erste gesegnete Wirkung des Wortes – der Weg, der zum Sieg führt. Wohin sollten wir uns auch wenden, wenn die einzige Zuflucht, welche Gott in seiner Güte uns für die letzten Tage gegeben hat, nicht genügend für uns wäre?

Möge der Herr uns in seiner reichen Gnade geben, dass wir den unendlichen Wert und die Wichtigkeit seines Wortes immer mehr verstehen, und dass wir uns vor ihm, als dem Wort Gottes, beugen mit aller Unterwürfigkeit! Möge es auch für uns das sein, was es für unseren geliebten Herrn hienieden war, der als der göttliche Mensch von jeglichem Wort lebte, das durch den Mund Gottes ausging, und welcher sagen konnte: „Das Tun des Menschen anlangend, habe ich mich durch das Wort deiner Lippen bewahrt vor den Wegen des Gewalttätigen“; und wiederum: „Dein Wohlgefallen zu tun, Jehova, ist meine Lust, und dein Gesetz ist im Innern meines Herzens“ (Ps 17,4; 40,8).

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