Botschafter des Heils in Christo 1879

Das Wort Gottes - Teil 2/3

2. Das Gesagte wird genügen, um die Natur des Wortes ins Licht zu stellen, und zugleich verstehen lassen, welche Resultate dasselbe notwendigerweise in uns erzeugen muss. Wir haben oben gesagt, dass es eine Natur in uns schafft, gleichförmig derjenigen, von welcher es der Ausdruck ist. Es hat eine lebendigmachende und erzeugende Kraft und, wirkt in uns, um uns demgemäß zu bilden, der sich uns in ihm offenbart hat. Es war der Zweck Gottes, das durch sein Wort in uns erzeugte Leben auch durch dasselbe zu nähren und zur völligen Entwicklung zu bringen (vgl. 1. Pet 2,2), damit wir praktisch dem Bild seines Sohnes gleichförmig würden; zugleich dient es dazu, uns hienieden vor dem uns umringenden Bösen zu bewahren und uns zu befähigen, zur Verherrlichung seines Namens ein Zeugnis für Ihn zu sein. Wie wir schon gesehen haben, sind wir durch das Wort wiedergeboren und somit der neuen Natur teilhaftig geworden. Dadurch, dass es uns in die Erkenntnis Gottes, als offenbart in Christus, eingeführt hat, haben wir das ewige Leben. Jesus sagt: „Dieses aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Joh 17,3). Auf diese Weise nun durch das Wort wiedergeboren, ist es, wie schon gesagt, zugleich die Nahrung des neuen Lebens. Es entwickelt dasselbe durch eine fortschreitende Entfaltung des göttlichen Lichtes vor der Seele, und erzeugt dadurch eine praktisch heiligende Wirkung in derselben. Das Wort wirkt stets seiner eignen Natur gemäß und muss deshalb alles in uns richten, was mit dieser Natur im Widerspruch steht. Dies verleiht dem Wort einen richtenden Charakter. Wir lesen daher in Hebräer 4,12–13: „Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und scharfer denn jegliches zweischneidige Schwert und durchdringend bis zur Zerteilung der Seele und des Geistes, sowohl der Gelenke, als des Markes, und ein Richter der Gedanken und Gesinnungen des Herzens; und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, sondern alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben.“ Nichts ist gefährlicher für uns, als wenn das Ich oder die Regungen des Fleisches unseren Wandel beeinflussen; derselbe wird dadurch notwendigerweise gehemmt und die Gemeinschaft mit Gott gestört, das geistliche Leben geschwächt und die Klarheit der Seele getrübt. Wenn wir nicht stets in unseren Herzen Geist und Fleisch voneinander unterscheiden, so gibt es keinen Fortschritt; vielmehr bleibt alsdann die Seele in Folge jener Vermischung in einem schlechten und krankhaften Zustand. Doch Gott sei gepriesen, dass Er uns durch sein teures Wort in dieser schwierigen Sache in so gesegneter Weise zu Hilfe kommt! Dasselbe lässt uns erkennen, was in den Gedanken und Gesinnungen unserer Herzen nicht mit Gott im Einklang ist; es lehrt uns unterscheiden, was aus dem Fleisch und was aus dem Geist hervorkommt, und stellt alles genau an den ihm gebührenden Platz. Mit einer alles durchdringenden Schärfe trennt es in unseren Herzen das Wahre von dem Falschen und weiß stets zwischen Geist und Fleisch, zwischen Gott und dem Ich, die richtige Grenze zu ziehen und aufrecht zu halten. Es ist, so zu sagen, das Auge Gottes, das bis auf den innersten Grund und in die verborgensten Winkel unserer Herzen blickt und die geheimsten Beweggründe derselben erforscht, so dass wir dadurch in der Gegenwart Gottes bloßgestellt und genötigt sind, alles in uns zu verurteilen, was dieser Gegenwart nicht entspricht. Nur so ist es möglich, in Gemeinschaft mit Gott und in seiner Kraft unseren Weg durch die Wüste fortsetzen und das Ziel – die Ruhe Gottes – erreichen zu können. Das Wort lässt uns alles erkennen und verurteilen, was uns verleiten will, vom Ziel weg zu blicken und hier Ruhe zu suchen. Das ist der Weg, auf welchem es stets seine reinigende Macht an uns offenbart und uns in beständiger Verbindung mit Gott erhält.

Derselbe Gedanke liegt der Fußwaschung zu Grund. Die Jünger waren rein, ihrer Stellung nach; aber um Teil mit Jesu zu haben, das heißt, um durch den Glauben mit Ihm im Genuss seiner neuen, himmlischen Stellung zu sein, war es nötig, dass ihre Füße gewaschen wurden – sie mussten praktisch rein sein. Der Herr nahm daher Wasser und wusch ihnen die Füße. Dies ist bezüglich unseres praktischen Wandels die Anwendung des Wortes in der oben angeführten richtenden Weise. In Epheser 5 finden wir dieselbe Anwendung des Wortes; jedoch handelt es sich dort mehr um das dadurch erzeugte völlige Resultat, sowie um das besondere Verhältnis zwischen Christus und der Versammlung. Christus reinigt seine Versammlung durch die Waschung mit Wasser durch das Wort, „auf dass er sich selbst die Versammlung verherrlicht darstellte, die nicht Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern dass sie heilig und tadellos sei.“ Welch ein herrliches Resultat! Der Beweggrund, der Christus sowohl hier, als auch bei der Fußwaschung leitet, ist einzig und allein seine unaussprechliche Liebe zu seiner Versammlung. Wir lesen in Johannes 13,1: „Da Er die seinigen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte Er sie bis ans Ende.“ Und dann stand Er im Bewusstsein seiner persönlichen Herrlichkeit auf und wusch ihnen die Füße. In Epheser 5,25 lesen wir: „Ihr Männer, liebt eure eignen Weiber, gleich wie auch der Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat, auf dass Er sie heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser durch das Wort.“ Seine Liebe ist hier die Quelle von allem, was Er für seine Versammlung getan hat und noch tut; und diese Liebe ist nur dann befriedigt, wenn die Versammlung so vor Ihm ist, wie Er sie haben will, passend für seine Herrlichkeit und in völliger Übereinstimmung mit Ihm selbst. Deshalb reinigt Er sie durch das Wort, durch die Mitteilung der himmlischen Dinge. Indem das Wort uns bekannt macht mit seiner Liebe, macht es Ihn zum Gegenstand unserer Herzen, und indem es uns unsere Stellung in Ihm – eine – Stellung in himmlischer Reinheit – erkennen lasst, richtet es alles in unserem praktischen Leben, was mit dieser Reinheit im Widerspruch steht. Verbinden sich unsere Herzen mit den Dingen dieser Welt, so hat diese Mitteilung der göttlichen und himmlischen Dinge keinen Reiz für uns (das Fleisch in uns findet nie Geschmack daran); vielmehr finden wir uns dadurch gerichtet. Umso anziehender sind diese göttlichen Mitteilungen für die neue Natur. Gleich wie einst Elieser die Rebekka mit den Reichtümern Isaaks bekannt machte und ihr von seinen Schätzen im Voraus erzählte, so macht auch uns jetzt der Heilige Geist mit den Herrlichkeiten Christi bekannt und lässt uns im Voraus dieselben genießen. „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, gekommen ist, wird er euch in die ganze Wahrheit leiten ... Denn von dem meinen wird er empfangen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, ist mein; darum sagte ich, dass er es von dem meinen empfängt und euch verkündigen wird“ (Joh 16). Das, was das Herz der Rebekka für einen Bräutigam gewann, den sie noch nicht gesehen hatte, das, was sie willig machte, ihr Vaterhaus zu verlassen und dem Elieser zu folgen, waren die Mitteilungen, die dieser ihr machte. So ist auch das, was der Heilige Geist uns in dem Wort mitteilt, geeignet, uns von den Banden dieser Welt zu lösen, um Ihm willig in jene neue Welt zu folgen, wo Christus ist, der, obgleich wir Ihn nicht gesehen haben, den Gegenstand unserer Zuneigungen bildet. „Welchen ihr, obgleich ihr Ihn nicht gesehen habt, liebt; an welchen glaubend, obgleich ihr Ihn jetzt nicht seht, ihr mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude frohlockt“ (1. Pet 1,8).

In Johannes 17 finden wir dieselbe heiligende Wirkung des Wortes. Es ist der Wille des Herrn, dass wir in der Welt leben als solche, die nicht von der Welt sind, gleich wie Er nicht von der Welt war. Obgleich Er von dem Vater in die Welt gesandt war, so war Er doch in seinen Gedanken, Beweggründen, Handlungen und Grundsätzen völlig von der Welt getrennt. Nichts in Ihm war von der Welt. Dies ist der Maßstab unserer Stellung hienieden; denn der Herr sagt wiederholt: „Sie sind nicht von der Welt, gleich wie ich nicht von der Welt bin“; und: „Gleichwie du mich in die Welt gesandt hast, habe auch ich sie in die Welt gesandt.“ Wir sollen in der Welt sein, aber in keiner Verbindung mit der Welt; wir sollen ebenso völlig von ihr getrennt sein, wie Jesus selbst es war. Der 17. Vers zeigt uns das Mittel, wodurch dieses erreicht wird: „Heilige sie durch die Wahrheit: Dein Wort ist Wahrheit.“ Bemerken wir hier, dass der Ausdruck „Dein Wort“ dieses als das Wort des Vaters charakterisiert, welches uns unser Verhältnis zu Ihm in Christus unter dem uns offenbarten Namen „Vater“, und folglich unsere himmlische Stellung als Kinder Gottes offenbart. Dieses Wort enthüllt vor uns die ganze Kostbarkeit dieses Namens, die Vertraulichkeit der Verwandtschaft und einer Nähe, die uns naturgemäß ebensoweit von der Welt entfernt, wie Er es selbst ist. Denn Er steht in völligem Gegensatz zu der Welt. Welch eine wunderbare Wirkung! Wie weit entfernt ist die dadurch erzeugte Heiligung von den ermüdenden, fruchtlosen Anstrengungen eines gesetzlichen Geistes – Anstrengungen, welche sich nicht auf die Wahrheit, sondern auf das Fleisch stützen! Denn die Wahrheit ist es, wodurch diese Heiligung bewirkt wird. „Dem Wort ist Wahrheit.“ Aber diese Wahrheit ist, wie bereits gesagt, die Mitteilung unserer neuen, himmlischen Stellung in Christus, welche sein Werk zur Grundlage hat. Nur das Kreuz und die vollbrachte Erlösung konnten die wahre Grundlage dieser neuen Stellung bilden. Das Kreuz hat sowohl das, was der Mensch, als auch das, was Gott ist, völlig ins Licht gestellt. Es hat die Feindschaft des Menschen gezeigt, der als Mittelpunkt des durch Satan verdorbenen Systems dieser Welt Christus verwarf. Aber es hat auch die Heiligkeit und Liebe Gottes in der für uns vollbrachten Erlösung offenbart. Da Christus für uns starb, so war sein Tod das Ende unseres Lebens als Menschen im Fleisch, und somit das Ende all der Beziehungen, die sich an dieses Leben knüpften – das Ende alles dessen, was uns mit dieser Welt verband. Paulus sagt daher: „Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt“ (Gal 6,14). Aber nicht allein starb Christus für uns, Er ist auch auferweckt worden, und zwar durch die Herrlichkeit des Vaters. Der Vater hat den, der Ihn in seinem Tod vollkommen verherrlicht und Ihm, so zu sagen, die Ausführung seiner Ratschlüsse in Gnade für den verlorenen Sünder dadurch ermöglicht hat, auferweckt und verherrlicht, indem Er Ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist. Er hat den verherrlicht, den die Welt verworfen hat, und hat Ihn zum Mittelpunkt einer neuen Welt gemacht. Und das ist die Wahrheit, welche uns das Wort des Vaters offenbart, und welche uns praktisch von der Welt absondert. Christus hat uns mit sich selbst vereinigt in dieser seiner neuen Stellung und uns mit sich in dasselbe Verhältnis zum Vater gestellt. Er hat uns unserer Stellung nach durch seinen Tod von der Welt getrennt, wie Er von ihr getrennt ist, und wie Er es war während seines ganzen Lebens hienieden. Und durch die Mitteilung dieser Wahrheit wird diese Absonderung, diese vollständige Trennung von der Welt und allem, was uns mit ihr verbindet, praktisch in uns bewirkt. Sie heiligt uns und macht uns zu Fremdlingen in dieser Welt, wie Christus selbst es war, während sie uns zugleich den Vater, seine Liebe und unsere innige Gemeinschaft mit Ihm in Christus erkennen lässt und dadurch Zuneigungen, Wünsche und Hoffnungen in uns erweckt, die ganz und gar himmlisch sind.

Das ist die reinigende und heiligende Wirkung des Wortes Gottes. Es genügt vollkommen, um alles dieses in uns zu erzeugen. Darum sagt auch Paulus zu den Ältesten von Ephesus, im Blick auf das nach seinem Abschied über die Kirche hereinbrechende Verderben: „Und nun befehle ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade, welches vermag, aufzuerbauen und euch ein Erbe zu geben unter allen Geheiligten.“ Er betrachtet das Wort, wenn es in der Abhängigkeit von Gott benutzt wird, als vollkommen genügend und ausreichend für die Herde Gottes, wenn dieselbe aller anderen Stützen beraubt ist. Ferner sagt er zu Timotheus hinsichtlich der schweren Zeiten in den letzten Tagen: „Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast und dessen du überzeugt bist, da du weißt, von wem du gelernt hast, und weil du von Kind auf die heiligen Schriften kennst, die vermögend sind, dich weise zu machen zur Seligkeit durch den Glauben, der in Christus Jesus ist. Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werke völlig geschickt“ (2. Tim 3,14–17). Das Wort allem macht uns weise, um all den verderblichen Schlingen des Feindes zu entgehen, wodurch die Kirche zum Fall gebracht und ins Verderben gestürzt worden ist – diesen tausendfachen Schlingen, welchen die höchste menschliche Weisheit nicht entgehen kann. Es zeigt uns den schmalen Pfad, welchen menschliche Klugheit weder zu entdecken, noch zu wandeln vermag, der aber den Treuen sicher und wohlbehalten an all den Verirrungen und Trugschlüssen der Menschen vorbeiführt. „Da ist ein Pfad – der Raubvogel kennt ihn nicht, und das Auge der Weihe erspäht ihn nicht“ (Hiob 28,7).

Das Wort allein macht uns durch seine heiligende, erleuchtende und belebende Wirkung vollkommen, zu allem guten Werke völlig geschickt. Es genügt durchaus, um zu jeder Zeit und in allen, auch den wichtigsten Angelegenheiten, das Nichtige, Passende und Angemessene zu wählen und zu tun. So wurde zu Josua gesagt, als er im Begriff stand, als Heerführer des Volkes Gottes den Jordan zu überschreiten und das Land einzunehmen: „Nur sei fest und sehr mutig, dass du darauf achtest, zu tun nach dem ganzen Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon zur Rechten und zur Linken, auf dass es dir gelinge überall, wohin du gehst. Dieses Buch des Gesetzes lass nicht von deinem Mund weichen, und du sollst darüber sinnen Tag und Nacht, auf dass du darauf achtest, zu tun nach allem, was darin geschrieben ist; denn alsdann wirst du guten Erfolg haben auf deinen Wegen, und alsdann wird es dir gelingen“ (Jos 1). Und in Psalm 1 lesen wir: „Glückselig der Mann, der nicht wandelt im Rache der Gesetzlosen ... sondern im Gesetz Jehovas seine Wonne hat, und über sein Gesetz sinnt Tag und Nacht. Und er ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbuchen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und dessen Blatt nicht verwelkt; und alles, was er tut, gelingt wohl.“

Aber wenn das Wort solch wunderbare Wirkungen erzeugt, müssen wir uns dann nicht fragen: Woher kommt es, dass diese Wirkungen bei den Gläubigen oft so wenig wahrgenommen werden? Die Beantwortung dieser Frage führt uns zu dem zweiten Punkte unserer Betrachtung, zu der Verantwortlichkeit gegenüber dem Wort Gottes.

3. Wir haben gesehen, dass das Wort Gottes göttlich in seiner Natur und göttlich in seinen Wirkungen ist; und dies ist es, was ihm seinen Wert gibt und was uns das Maß unserer Verantwortlichkeit verstehen lässt. Es besitzt eine göttliche Autorität; denn es ist Gottes Wort – Gott hat geredet – und als solches fordert es Anerkennung. Paulus schreibt an die Thessalonicher: „Und darum danken, wir auch Gott unablässig, dass, als ihr von uns empfingt das Wort der Kunde Gottes, ihr es nicht als Menschenwort aufnähmet, sondern, wie es wahrhaftig ist, als Gottes Wort, das auch in euch, den Glaubenden, wirkt“ (1. Thes 2,13). Gott verlangt für sein Wort dieselbe Anerkennung und dieselbe Unterwerfung, die Er für sich selbst beanspruchen kann und muss, wenn nicht alles das, was Er ist, in Frage gestellt werden soll. Sein Wort ehren und achten, heißt Ihn selbst ehren und achten. Dies geht klar hervor aus den Worten, welche der Herr an Marta richtete: „Marta, Marta, du bist besorgt und beunruhigt um viele Dinge; eins aber ist Not. Maria aber hat das gute Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden wird“ (Lk 10,41–42). Der Herr stellt hier in gewissem Sinn die Aufmerksamkeit, die man seinem Wort schenkte, höher, als diejenige, welche man seiner Person nach dem Fleisch widmete. Scheinbar ehrte Marta den Herrn mehr, als Maria; und in der Tat liebte sie Ihn, denn sie nahm Ihn in ihr Haus auf und war beschäftigt, Ihm zu dienen. Allein das, was Maria tat, hatte mehr Wert für den Herrn; sie hatte das gute Teil erwählt, das Eine, was Not ist; sie „saß zu den Füßen Jesu und hörte auf sein Wort.“ Und das Wort, welches sie hörte, hatte deshalb so großen Wert für sie, weil die Person dessen, der es redete so wertvoll für sie war; und andererseits fesselten seine Worte sie umso mehr an seine Person. Er nahm den ersten Platz in ihrem Herzen ein und somit auch sein Wort. Dasselbe charakterisiert die Gläubigen in Philadelphia – die Treuen der letzten Tage inmitten der allgemeinen Untreue der bekennenden Kirche. Der Herr sagt von ihnen: „Denn du hast eine kleine Kraft und Haft mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet“ (Off 3,8). Ihre Treue besteht darin, dass sie das Wort bewahren; und sie bewahren es, weil es sein Wort ist – das Wort dessen, welcher der Gegenstand ihrer Herzen ist. Sie kennen den Wert seiner Person, seines Namens, und darum auch den Wert seines Wortes. Jesus sagt: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir“ (Joh 10,27).

Unsere Verantwortlichkeit besteht also darin, dass wir dem Wort, als dem Wort Gottes, unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken und seine Autorität durch eine völlige Unterwerfung unter dasselbe anerkennen. Dies ist eine Sache von der höchsten Wichtigkeit, deren Vernachlässigung das Geheimnis der bei vielen Christen herrschenden Unkenntnis und Unfruchtbarkeit in sich birgt. Es mag deshalb gut sein, den bereits angeführten Stellen, die auf diese Verantwortlichkeit Bezug haben, hier noch einige hinzuzufügen: „Wodurch wird ein Jüngling reinigen seinen Pfad? Wenn er aufmerksam ist nach deinem Wort“ (Ps 119,9). „Der Eingang deines Wortes erleuchtet, gibt Einsicht den Einfältigen“ (Ps 119,130). „Wer Ohren hat zu hören, der höre“ (Mt 13,9). „Das aber in der guten Erde sind diese, die in einem redlichen und guten Herzen das Wort, nachdem sie es gehört, bewahren und Frucht bringen mit Ausharren.“ „Seht nun zu, wie ihr hört; denn wer irgend hat, dem wird gegeben werden, und wer irgend nicht hat, von dem wird selbst, was er zu haben scheint, genommen werden“ (Lk 8,15.18). „Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen“ (Joh 14,23). „Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, gleich wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe“ (Joh 15,10). „Lasst das Wort des Christus reichlich in euch wohnen“ (Kol 3,16). Ferner finden wir am Schluss eines jeden Sendschreibens in der Offenbarung die ernste Mahnung: „Wer ein Ohr hat, der höre, was der Geist zu den Versammlungen sagt.“ Diese Stellen bestätigen unter vielen anderen zur Genüge, was wir über die Größe unserer Verantwortlichkeit gegen das Wort gesagt haben.

Ein richtiges Verständnis des Wortes bildet die Grundlage eines gesunden, geistlichen Lebens und eines Wandels zur Verherrlichung Gottes. Der Herr sagt in seiner Erklärung des Gleichnisses vom Sämann: „Der aber auf die gute Erde gesät ist, dieser ist es, der das Wort hört und versteht, der wirklich Frucht bringt; und der Eine trägt hundert–, der Andere sechzig–, der Andere dreißigfältig“ (Mt 13,23). Wir stellen nicht in Abrede, dass ein Christ ohne ein richtiges Verständnis treu sein kann; immerhin aber wird sein Zustand ein ungesunder und sein Wandel ein mangelhafter sein, da er der „gefunden Lehre“ entbehrt, die ihn allein auf seinem Pfad richtig zu leiten vermag. Andererseits kann jemand viele und auch wahre Erkenntnis besitzen, aber dennoch in einem schlechten Zustand sein, weil er aus Mangel an Treue die Autorität des Wortes nicht durch eine völlige Unterwerfung anerkennt. Das Wort hat keine Macht über ihn, weil er demselben nicht unterworfen ist. Obgleich also ein richtiges Verständnis des Wortes die erste Bedingung eines gesunden geistlichen Zustandes ist, so muss dieses dennoch mit einem völligen Gehorsam und einer unbedingten Unterwerfung unter das Wort verbunden sein. Man kann beides nicht voneinander trennen, ohne sich unberechenbaren, nachteiligen Folgen auszusetzen, deren Resultat im Licht des Richterstuhls Christi offenbart werden wird – vor dem Richterstuhl dessen, welcher wandelt inmitten der sieben goldenen Leuchter, und der da sagt: „Ich kenne deine Werke“ (Off 2,2). Niemand kann sich der Verantwortlichkeit entziehen, unter welche das Wort Gottes kraft seiner Autorität einen jeden Menschen stellt, mag er dieselbe nun anerkennen oder nicht. Dies ist eine sehr ernste und feierliche Sache.

Es muss also unsere erste Frage sein: wie erlangen wir ein richtiges Verständnis des Wortes? Wir haben oben gesagt, dass das Wort nicht ein geistliches Verständnis bei uns voraussetzt, sondern vielmehr in uns erzeugt. „Der Eingang deines Wortes erleuchtet, gibt Einsicht den Einfältigen.“ Aber wenn es sich um unsere Verantwortlichkeit handelt, dann zeigt uns sowohl diese, als auch die oben angeführten Stellen, unter welcher Bedingung das Wort erleuchtet und Einsicht gibt. Es heißt: „Der Eingang deines Wortes erleuchtet ...“ Wir müssen in das Wort hineingehen und ihm unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken, indem wir es in der Abhängigkeit von der Leitung des Heiligen Geistes mit Gebet zu erforschen suchen. Aber hierin wird leider so viel gefehlt. Gott hat uns in seiner herablassenden Güte sein teures Wort gegeben, um uns durch dasselbe mit sich selbst, mit seinen Gedanken und Ratschlüssen bekannt zu machen und unsere Herzen dadurch zu nähren und zu bilden; aber ach! wie viele Christen gibt es, welche es unbenutzt im Staub liegen lassen oder doch nur sehr wenig und oberflächlich darin lesen, und offen und unumwunden erklären: „Wir haben keine Zeit zum Lesen.“ Und dieses sagt man in einem Ton, der einerseits die Geringschätzung des Wortes Gottes und andererseits die Wichtigkeit durchfühlen lasst, welche man den weltlichen Dingen beilegt. Solche Christen verstehen nicht, wem ihre Zeit und ihr Leben und alles, was sie besitzen, gehört, und wem sie Rechenschaft davon geben müssen. Sie gehen, verwickelt in die Geschäfte und die Dinge dieser Welt, von Tag zu Tag voran in einem Leben, das keinen anderen Beweggrund, Mittelpunkt und Zweck hat, als das eigene Ich. Ihr Leben ist ein fruchtloses und verlorenes Leben. Das Wort Gottes hat seinen Geschmack für sie verloren, wie ihn das Manna für die Kinder Israel verloren hatte, deren Herzen von den Fleischtöpfen Ägyptens eingenommen waren; und wenn sie aufrichtig wären, so würde gleich jenen auch ihre Sprache sein: „Und nun ist unsere Seele dürre, gar nichts ist da, nur auf das Man sehen unsere Augen.“ Aber welches Heilmittel gibt es noch für eine Seele, wenn die einzige Speise, welche Gott als vollkommen genügend zu ihrer Erquickung in der Wüste gegeben hat, sie dürre lässt? Wir wissen wohl, dass man nicht den ganzen Tag mit dem Lesen des Wortes beschäftigt sein kann, und dass es höchst verwerflich und eine Verunehrung des Herrn sein würde, wenn wir darüber unsere Verpflichtungen versäumen wollten, die uns unser Beruf und unsere irdischen Beziehungen auferlegen. Ein solches Verhalten wäre durchaus kein Gehorsam gegen das Wort, welches uns lehrt, „im Fleiß nicht säumig zu sein.“ Die Ermahnung, dem Wort eine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, in dieser Weise aufzufassen, wäre ganz verwerflich. Ein solcher Gedanke lag gewiss nicht im Sinn der an Josua gerichteten Aufforderung: „Du sollst darüber sinnen Tag und Nacht“; denn wie hätte er dann Jericho einnehmen und die Kanaaniter vertreiben können? Ebenso wenig konnte ein solch falscher Begriff in der Absicht des Herrn liegen, als Er Maria rechtfertigte und Marta tadelte. Indessen weiß ein geistlicher Christ, der den Wert des Wortes Gottes kennt und dessen tägliche Nahrung es ist, die gelegene Zeit auszukaufen und zu benutzen, indem er nicht nur seine geistlichen Beziehungen, sondern sein ganzes Leben, auch seine irdischen Berufsgeschäfte, nach dem Wort regelt. Für ihn ist das Christentum nicht ein Kleid, das er nur des Sonntags anzieht und die Woche über in den Schrank hängt. Er weiß, dass nur der in jeder Beziehung wahrhaft treu seinen Platz nach dem wohlgefälligen Willen Gottes einnimmt, dessen alleinige Richtschnur das Wort Gottes ist. Er versteht, was eine ungeteilte Aufmerksamkeit gegen das Wort bedeutet. Und auch jene nachlässigen und gleichgültigen Seelen sind in ihrem Gewissen überzeugt, dass ihr vorgeblicher Mangel an Zeit nur aus dem Mangel an Liebe zum Herrn und zu seinem Wort entspringt.

Doch ist es auch möglich, dass man nicht geradezu gleichgültig gegen das Wort Gottes ist, sondern selbst ein gewisses Interesse an demselben hat. Da dieses letztere jedoch nicht tief genug geht, so liest man zwar das Wort, sinnt aber nicht viel darüber, oder vergisst es doch bald wieder, weil man mehr durch die Mahnungen des Gewissens, als durch ein wirkliches Bedürfnis des Herzens dabei geleitet wird. In einem solchen Fall mag die Schärfe des Wortes zwar gefühlt und das Gewissen zuweilen getroffen werden, so dass man genötigt ist, sich selbst zu richten und zu verurteilen, aber trotzdem gibt es keine durchgreifende Wendung zum Bessern. Die Sorgen für die Dinge dieses Lebens und die Regungen des Fleisches treten immer wieder in den Vordergrund und verdrängen jedes wahre Interesse am Wort. Vergeblich macht man Anstrengungen, um das Interesse an demselben wach zu halten. Schon während man liest, sind die Gedanken wieder auf andere Dinge gerichtet; man liest mit einem zerstreuten Herzen, und das Wort bleibt wirkungslos. Es darf uns nicht wundern, wenn die Seele bei einem solchen Lesen kein richtiges Verständnis erlangt und sich folglich kein wesentlicher Fortschritt im geistlichen Leben zeigt, sondern vielmehr die göttliche Einfalt und geistliche Energie verschwindet, um einer geistlichen Erschlaffung Platz zu machen. Christus und die himmlischen Dinge haben keinen Reiz für das Herz; das Interesse für das Wort und das Werk des Herrn nimmt ab, während die Dinge dieser Welt immer mehr das Herz einnehmen. Und anstatt der geistlichen Freude, welche das Wort dem Herzen mitteilt, indem es in uns die Erkenntnis des Herrn und das Verständnis der himmlischen Dinge bewirkt, tritt Mutlosigkeit und Unzufriedenheit mit den Wegen Gottes ein, allenfalls verbunden mit den gesetzlichen und fruchtlosen Anstrengungen eines beunruhigten Gewissens. Der Herr erklärt diesen Zustand mit den Worten: „Anderes aber fiel unter die Dornen, und die Dornen schössen auf und erstickten es ... Der aber unter die Dornen gesät ist, dieser ist es, der das Wort hört, und die Sorge dieses Lebens und der Betrug des Reichtums ersticken das Wort, und er bringt keine Frucht“ (Mt 13,7.22). (Schluss folgt)

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