Botschafter des Heils in Christo 1876

Die Morgenstunden der Heiligen Schrift

Beim Lesen der Heiligen Schrift begegnen wir hie und da einzelnen Stellen, die unserer ganzen Aufmerksamkeit würdig sind und die gleich der Morgendämmerung beim Beginn eines Tages unseren Augen und Herzen so freundlich entgegen leuchten.

Zunächst finden wir beim Öffnen der Bibel die Schöpfung – diesen herrlichen Beweis der Allmacht Gottes, diesen Anfang aller Zeiten, diese erhabene Schaustellung der Werke Gottes, worüber, wie wir im Buchs Hiobs lesen, die Morgensterns zu jubeln sich gedrungen fühlten.

Im zweiten Buch Mose begegnen wir einem anderen dieser wichtigen Ereignisse. Dort tritt Israel zum ersten Male als eine selbstständige, unabhängige Nation auf. Der Herr sagt durch den Propheten Hosea: „Als Israel ein Kind war, da liebte ich es; und aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“ Es war, als ob eine ganz neue Zeit angebrochen sei; es war, als ob Israel, da es durch Gott von seinem Druck befreit war, aufs Neue geboren worden wäre. Es war gleichsam ein Auferstehen aus dem Grab, das Anbrechen eines neuen herrlichen Tages, als das Volk das entgegengesetzte Ufer des roten Meeres erreicht hatte und mit Moses Loblieder anstimmte zur Ehre seines Retters und Helfers in der Not.

Auch die Geburt unseres Herrn war eine Begebenheit, die als die wahre Morgenröte ihre lieblichen Strahlen über die Erde verbreitete. Eins lange, finstere Nacht war vorübergegangen. Israel war unter eine fremde Herrschaft gebracht; keine Stimme eines Propheten wurde mehr gehört, keine Wunder oder Zeichen fanden mehr Platz: es bestand keine Verbindung mehr zwischen Gott und seinem Volk mittels der Urim und der Tummim, oder des Ephods der Priester. Die Herrlichkeit des Tempels war verschwunden und der ganze Kultus im Verfall. Durch nichts wurde die Stadt des Friedens, der durch Gott auserwählte Platz, von anderen Städten unterschieden, als nun und dann durch das Herabsteigen des Engels in den Teich Bethesda. Alles befand sich in völliger Finsternis. Aber die Geburt Christi machte dieser langen, finsteren Nacht ein Ende; sie rief gleichsam die Schöpfung aus ihrem Schlaf und verkündigte allen das Licht eines herrlichen, neuen Morgens. Engel erschienen wieder und sangen Loblieder zur Ehre dessen, der das Licht auf die Erde gesandt hatte.

Ebenso war die Auferstehung eine dieser herrlichen Morgenstunden. Es war ein Morgen nach einer finsteren Nacht, die je auf Erden geherrscht hatte – ein Morgen, der ein nie gekanntes Licht über die Erde verbreitete, der Vorbote eines ewig dauernden Tages. Es war der Übergang von dem Schatten des Todes in den Tag des Lebens. Es kam „die Dämmerung des ersten Wochentages“, sagt Matthäus.

So wird auch das Königreich Christi hier auf Erden solch ein Morgen sein. Es wird ein Tag sein nach einer langen Nacht, der Tag Christi nach dem Tag der Sünde und des Todes, das Reich Christi nach dem Reich dieser Welt. In 2. Samuel 23 lesen wir in Bezug auf dieses Reich: „Der Herrscher unter den Menschen, der Gerechte, der Herrscher in Gottesfurcht; und Er wird sein wie das Licht des Morgens, wie der Aufgang der Sonne, ein Morgen ohne Wolken, wie vom Glanz nach dem Regen das Grün aus der Erde sprosst.“

Ferner wird die Erscheinung des neuen Himmels und der neuen Erde eine jener herrlichen Szenen sein. Es ist die Schöpfung in ihrer Wiedergeburt. In Offenbarung 21 lesen wir: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde waren vergangen.“ Hier wird der Wohnplatz der Gerechtigkeit bezeichnet, jener Platz, wo Gott „alles in allem“ sein wird.

Es ist herrlich, solch schöne Szenen, solch treffende Ereignisse an unserem Auge vorüberziehen zu sehen. Jedoch wünsche ich, die Aufmerksamkeit des Lesers noch auf etwas anderes zu lenken, nämlich darauf, dass der Mensch, verführt durch die Einflüsterungen Satans, die herrlichen Szenen der Macht und Liebe Gottes von Zeit zu Zeit in die Schatten des Todes verwandelt hat. Die Schöpfung, die so herrlich und so voll Leben und Freude aus der Hand Gottes gekommen ist, wurde bald durch den Menschen in eine Wildnis voller Dornen und Disteln verändert. Die durch den Herrn selbst so reich gesegnete Erde ward verflucht – verflucht um der Sünde des Menschen willen. Israel, welches am Ufer des roten Meeres den Lobgesang der Erlösung anstimmte, kam in die babylonische Gefangenschaft; und das Land der Verheißung, wo die herrlichen Offenbarungen der Allmacht Gottes entfaltet wurden, ward verwüstet und der Herrschaft des Unbeschnittenen unterworfen. Die Strahlen der Sonne, die sich einst von Bethlehem aus über die Erde verbreiteten und das Anbrechen eines neuen, herrlichen Tages für Israel verkündigten, schwanden in der finsteren Nacht Golgathas, und zwar um der Sünde des Menschen willen. Und wie sieht es in unserer Zeit aus? Derselbe Jesus, der am Kreuz starb, ist auferstanden; und so ist eine neue Morgenstunde für die Erde angebrochen. Aber sieht man gegenwärtig nicht deutlich, dass diese Wahrheit mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wird, so dass sie schließlich, wenn die Versammlung von der Erde hinweg gerückt sein wird, in der Nacht der in der Offenbarung beschriebenen Gerichte ganz und gar verschwinden wird?

In der Tat, man braucht nur seine Augen zu öffnen, um die beständig zunehmende Erschlaffung der Christenheit im Allgemeinen wahr zu nehmen und von der Erfüllung der prophetischen Worte: „Ich werde dich ausspeien aus meinem Mund“ überzeugt zu werden. Das Ende des Reiches Christi, welches mit einem „Morgen ohne Wolken“ verglichen wird, wird sich zeigen in dem Abfall Gogs und Magogs, in dem Gericht des Todes und Hades, in Betreff all derer, die nicht geschrieben sind in dem Buch des Lebens, sowie in dem Entfliehen der Erde und des Himmels vor dem Angesicht dessen, der auf dem weihen Thron sitzen wird.

Aus all diesen Vorbildern ersehen wir, dass der Mensch beständig Gott im Weg steht, um Ihn in der Ausführung seiner Ratschlüsse zu verhindern; und dass durch unsere Schuld die reichen Segnungen Gottes immer wieder in einen Fluch verwandelt worden sind. Einmal jedoch wird es anders sein. Wenn der Morgen der Ewigkeit, der Morgen des neuen Himmels und der neuen Erde angebrochen sein wird, dann wird nichts im Stande sein, diesen Morgen in Finsternis zu verwandeln. Dieser Morgen wird immer frisch und jung bleiben: Gott wird darüber Sorge tragen. Seine Sonne wird in Ewigkeit nicht untergehen. Sein Name sei dafür gepriesen!

Erwägen wir es tief, wie unendlich vieler Liebe es von Seiten Gottes bedurfte, um beständig aufs Neue wieder zu beginnen, wiewohl Er wusste, dass der Mensch bald wieder alles in den Schatten des Todes verwandeln würde! Doch Gott kann nicht wohnen, wo Finsternis ist. Er ist kein Gott der Toten, sondern der Lebendigen: und darum wird Er – mag auch der Mensch sich nicht mit Ihm vereinigen, um das Licht zu bewahren – für seine eigene Herrlichkeit Sorge tragen. Und wie Er in der Morgenstunde der ersten Schöpfung das Licht aus der Finsternis hervorstrahlen ließ, so wird Er auch den Morgen der neuen Schöpfung in ewiger, unveränderlicher Schönheit bewahren.

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