Botschafter des Heils in Christo 1876

Gedanken über das Kommen des Herrn - Teil 4/6

5. Das Gericht

Es ist äußerst peinlich, immer und immer wieder mit den allgemein herrschenden Meinungen und Ansichten der bekennenden Kirche in Widerspruch zu kommen und nach so vielen Seiten hin allen Regeln und Glaubensbekenntnissen entgegentreten zu müssen. Aber was anfangen? Handelte es sich nur um eine bloße menschliche Meinung, so würde es eine kecke, nicht zu rechtfertigende Vermessenheit von jemand sein, sich mit dem festgestellten Glauben der ganzen bekennenden Kirche in direkten Widerspruch zu setzen – einem Glauben, zu welchem sich Jahrhunderte hindurch Millionen von Menschen bekannt haben. Allein wir legen es dem Leser ans Herz, dass es sich nicht um irgendeine menschliche Anschauung, oder etwa um eine Verschiedenheit des Urteils unter den Besten der Menschen, sondern dass es sich um die Lehre und die Autorität der Heiligen Schrift handelt. Wie zu allen Zeiten, so gibt es auch in unseren Tagen theologische Schulen, Meinungsverschiedenheiten und Schätzungen in den Anschauungen und Gedanken, und auch die Zukunft wird sie liefern; aber es ist die unabweisbare Pflicht jedes Kindes Gottes und jedes Dieners Christi, sich in heiliger Ehrfurcht zu beugen und auf die Stimme Gottes in der Heiligen Schrift zu horchen. Ist sie nur ein Gegenstand menschlicher Autorität, so setze man sie als wertlos bei Seite; ist sie aber eine Sache göttlicher Autorität, dann ist jeder Wortstreit ausgeschlossen, und unser wie der Platz aller ist, dass wir uns beugen und glauben.

Wir haben also in unserem letzten Abschnitt gesehen, dass die Heilige Schrift nicht von einer allgemeinen Auferstehung – einer Auferstehung aller zu derselben Zeit redet. Wir hoffen, dass unsere Leser, gleich den Edlen in Beröa, die Schriften in diesen Punkten untersucht haben und jetzt bereit sein werden, uns in unserer Prüfung des Wortes Gottes in Bezug auf das Gericht begleiten zu wollen. Die Frage ist einfach: Lehrt die Heilige Schrift ein allgemeines Gericht? Die bekennende Kirche hält diese Meinung aufrecht. Aber ist das die Lehre des Wortes Gottes? Wir wollen sehen.

Zunächst finden wir in dem Neuen Testament die köstliche Wahrheit, dass, was den Gläubigen persönlich oder die Versammlung Gottes insgesamt anbelangt, durchaus kein Gericht mehr existiert. In Bezug auf den Gläubigen ist das Gericht vorübergegangen und für immer beendigt. Die finstere Wolke des Gerichts ergoss sich über das Haupt unseres göttlichen Sündenträgers, Er hat für uns den Kelch des Zornes und des Gerichts bis auf den letzten Tropfen geleert und unsere Füße auf den neuen Grund der Auferstehung gestellt, den das Gericht nimmer erreichen kann. Ein Glied des Leibes Christi kann ebenso unmöglich, wie das göttliche Haupt selbst, je in das Gericht kommen. Das scheint eine gar starke Behauptung zu sein; aber ist sie wahr? In diesem Fall ist ihre Kraft das Teil ihres moralischen Wertes und ihrer Herrlichkeit.

Für wen – lasst uns fragen – wurde Christus auf dem Kreuz gerichtet? – Für sein Volk. Für uns ward Er zur Sünde gemacht: Er war dort unser Stellvertreter. Er nahm unseren Platz ein. Er trug alles, was wir verdient hatten. Unser ganzer Zustand mit allem, was damit verbunden war, fand in dem Tod Christi einen so völligen Abschluss, dass nie davon mehr die Rede sein kann. Hat Gott mit Christus, dem Haupt, noch irgendeine Frage zu ordnen? Keineswegs. Nun, ebenso verhält es sich auch mit den Gliedern Christi. Jede Frage ist göttlich und für immer in Ordnung gebracht, und der Beweis dafür ist, dass das Haupt, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt, zur Rechten der Majestät in den Himmeln sitzt. Mithin ist die Voraussetzung, dass die Gläubigen zu irgendeiner Zeit, oder aus irgendeinem Grund, oder wegen irgendeiner Sache, ins Gericht kommen, eine Verleugnung der Grundwahrheit des Christentums und widerspricht den klaren Worten unseres Herrn und Heilands, welcher ausdrücklich erklärt hat, dass alle, die an Ihn glauben, „nicht in das Gericht kommen werden“ (Joh 5,24).

In Wahrheit ist die Vorstellung, dass die Gläubigen vor die Schranken des Gerichts geführt werden würden, um über ihr Anrecht und ihre Fähigkeit für den Himmel geprüft zu werden, ebenso töricht als schriftwidrig. Wie könnte man z. B. denken, dass Paulus oder der Räuber am Kreuz noch in Bezug auf ihr Anrecht für den Himmel beurteilt werden sollten, nachdem sie sich schon nahe an 2000 Jahre dort befinden? Das aber müsste der Fall sein, wenn die Theorie eines allgemeinen Gerichts irgendwelche Wahrheit enthielte. Wenn die große Frage unseres Anrechts für den Himmel erst am Tag des Gerichts in Ordnung gebracht werden muss, dann ist sie selbstredend nicht auf dem Kreuz geordnet worden. Wenn aber dieses am Kreuz nicht geschehen ist, so müssen wir sicher verloren gehen; denn wenn wir gerichtet werden, so geschieht es nach unseren Werken, und die einzig mögliche Folge eines solchen Gerichts ist der Feuersee. Und wenn andererseits behauptet wird, dass die Gläubigen nur aus dem Grund vor Gericht gestellt werden, um zu offenbaren, dass sie durch den Tod Christi von jeder Schuld befreit seien, so hieße das den Tag des Gerichts in eine leere Form verwandeln – ein Gedanke, der jedes fromme Gemüt empören muss.

Aber in der Tat, es liegt keine Notwendigkeit vor, um über diesen Punkt zu streiten. Eine einzige Stelle aus der Heiligen Schrift ist weit besser, als zehntausend der kräftigsten Beweise der Menschen. Unser Herr Jesus hat in der klarsten und feierlichsten Weise erklärt, dass die Gläubigen „nicht in das Gericht kommen werden.“ Das ist genug. Der Gläubige ist schon vor mehr als achtzehnhundert Jahren in der Person Christi, seines Hauptes, gerichtet worden; und ihn noch einmal in das Gericht bringen zu wollen, wäre eine vollständige Verkennung des Kreuzes Christi in seiner versöhnenden Kraft; und ganz sicher kann und wird Gott dieses nimmer zugeben. Selbst der schwächste Gläubige kann mit Dank und Triumph ausrufen: „Alles, was in Bezug auf mich gerichtet werden musste, ist bereits gerichtet. Jede Frage, die geordnet werden musste, ist schon geordnet. Das Gericht ist geschehen und für immer beendigt. Ich weiß, dass mein Werk geprüft, mein Dienst abgeschätzt werden muss; aber in Betreff meiner selbst, meiner Person, meiner Stellung und meines Anrechts ist alles göttlich geordnet. Er, der am Kreuz für mich starb, ist jetzt auf dem Thron gekrönt; und die Krone, welche Er trägt, ist der Beweis, dass für mich kein Gericht mehr übrigbleibt. Ich warte nur noch auf eine ‚Erlösung des Leibes.‘“

Dieses und nichts Geringeres ist die Sprache, die dem Gläubigen geziemt. Nur dem Erlösungswerk am Kreuz verdankt er es, dass er also denken und sich also ausdrücken darf. Für sich den Tag des Gerichts zur Entscheidung der Frage seiner ewigen Bestimmung zu erwarten, würde nichts sein, als eine Verunehrung seines Herrn und als eine Verleugnung der Kraft des Versöhnungsopfers. Es mag eine solche Unsicherheit den Schein von Demut und Frömmigkeit an sich tragen; aber wir können überzeugt sein, dass alle, die solchen Zweifeln Raum geben, alle, welche in einem Zustand der Ungewissheit leben und den Tag des Gerichts für die endgültige Berichtigung ihrer Sache erwarten, mehr mit sich selbst, als mit Christus beschäftigt sind. Sie haben den Wert des Kreuzes bezüglich ihrer Sünden und ihrer Natur noch nicht verstanden. Sie zweifeln an dem Wort Gottes und an dem Werk Christi; und das ist nicht das wahre Christentum. Unmöglich kann es noch ein Gericht geben für die, welche, geschirmt durch das Kreuz, auf dem neuen und ewigen Grund der Auferstehung festen Fuß gefasst haben. Für solche ist das Gericht für immer beendigt, und nichts ist übriggeblieben, als die Erwartung einer wolkenlosen Herrlichkeit und ewigen Glückseligkeit in der Gegenwart Gottes und des Lammes.

Es ist indes nicht unwahrscheinlich, dass die Gedanken des Lesers zu Matthäus 25,31–46, als zu einer Schriftstelle, welche die Theorie eines allgemeinen Gerichts bestätigt, ihre Zuflucht genommen haben: und wir betrachten es als unsere heilige Pflicht, auf einen Augenblick mit ihm zu dieser ernsten und wichtigen Stelle zurückzukehren. Zu gleicher Zeit aber müssen wir ihn daran erinnern, dass unmöglich irgendeine Stelle mit einer anderen im Widerspruch stehen kann, und dass mithin, wenn nach Johannes 5,24 die Gläubigen nicht ins Gericht kommen werden, dieses unmöglich nach Matthäus 25 dennoch der Fall sein wird. Das ist ein fester, unschätzbarer Grundsatz – eine allgemeine Regel, die keine Ausnahme gestattet. Betrachten wir daher die betreffende Stelle in Matthäus 25.

„Wenn aber der Sohn des Menschen kommt in seiner Herrlichkeit und alle die Engel mit Ihm, dann wird Er sitzen auf seinem Thron der Herrlichkeit; und vor Ihm werden versammelt werden alle die Nationen, und Er wird sie voneinander scheiden, gleich wie der Hirte die Schafe von den Böcken scheidet.“

Es ist hier nun unbedingt nötig, genau auf die Ausdrücke zu achten, welche bei dieser Stelle gebraucht werden. Wir müssen jede Oberflächlichkeit, Übereilung, Geringschätzung und Ungenauigkeit, wodurch der Erklärung dieser wichtigen Schriftstelle so vielfacher Nachteil verursacht ist, und wodurch so viele Kinder Gottes in Verwirrung gebracht worden sind, nach Kräften zu vermeiden suchen.

Betrachten wir zunächst, wen wir hier vor Gericht gestellt finden. „Vor Ihm werden versammelt werden alle die Nationen.“ Das ist sehr entscheidend. Es sind die lebenden Nationen. Es ist hier nicht von einzelnen Personen, sondern von Nationen, von allen Völkern die Rede. Wir finden hier Israel nicht; denn wir lesen in 4. Mose 23,9: „Abgesondert wird es wohnen und unter die Völker nicht gerechnet werden.“ Wenn das Volk Israel in dieser Gerichtsszene mit einbegriffen wäre, so würde Matthäus 25 in offenem Widerspruch mit 4. Mose 23 stehen, was doch unmöglich der Fall sein kann. Israel wird nie aus irgendeinem Grund oder aus irgendeiner Absicht unter die Nationen gerechnet. Von einem göttlichen Gesichtspunkt aus betrachtet, steht Israel allein. Das Volk mag um seiner Sünden willen und unter der Regierung Gottes unter die Nationen zerstreut sein, so erklärt dennoch das Wort Gottes, dass es nicht unter dieselben gerechnet werden soll; und das sollte uns genügen.

Wenn nun das Volk Israel an der in Matthäus 25 geschilderten Gerichtsszene nicht beteiligt ist, so muss, ohne einen Schritt weiter zu gehen, die Idee eines allgemeinen Gerichts bei Seite gesetzt werden. Das Gericht kann kein allgemeines sein, wenn nicht alle darin eingeschlossen sind; und Israel ist nie in den Ausdruck „Nationen“ (Völker, Heiden) mit einbegriffen gewesen. Die Schrift spricht von drei verschiedenen Klassen: von den „Juden“, den „Nationen“ oder Völkern und von der „Kirche oder Versammlung Gottes“; und diese drei Klassen werden nie mit einander verwechselt. Ferner haben wir zu bemerken, dass auch die Versammlung Gottes nicht in jener Gerichtsszene mit einbegriffen ist (Mt 25). Diese Behauptung ist indessen nicht nur auf die bereits erörterte Tatsache gegründet, dass die Versammlung vom Gericht befreit ist, sondern findet auch ihre Bestätigung in der großen Wahrheit, dass die Versammlung, wie Petrus auf dem Konzil zu Jerusalem erklärte, aus den Nationen genommen ist (Apg, 15,14). Wenn nun die Versammlung aus den Nationen genommen ist, so kann sie nicht mehr zu ihnen gerechnet werden; und also haben wir einen neuen Beweis gegen die Annahme eines allgemeinen Gerichts in Matthäus 25. Weder Israel, noch die Versammlung befindet sich dort, und deshalb muss die Idee eines allgemeinen Gerichts als gänzlich unhaltbar bei Seite gesetzt werden.

Wer hat es denn mit diesem Gericht zu tun? Die Stelle selbst liefert jedem einfältigen Herzen die Antwort: „Vor Ihm werden versammelt werden alle die Nationen.“ Das ist bestimmt und entscheidend. Es ist kein Gericht über einzelne Personen, sondern über Nationen als solche. Auch müssen wir noch hinzufügen, dass nicht einer, von denen hier die Rede ist, durch den Tod gegangen sein wird, so dass diese Szene zu derjenigen in Offenbarung 20,11–15, wo wir nicht einen finden, der nicht zuvor gestorben war, in offenbarem Gegensatz steht. Kurz in Matthäus 25 haben wir das Gericht der „Lebendigen“, und in Offenbarung 20 das Gericht der „Toten.“ Auf beide Ereignisse wird in 2. Timotheus 4 hingewiesen: „Ich bezeuge ernstlich vor Gott und Christus Jesus, der da richten wird Lebendige und Tote, und bei seiner Erscheinung und seinem Reich.“ Unser Herr Jesus Christus wird die lebenden Nationen richten bei seiner Erscheinung, und die „Toten, Kleine und Große“ am Schluss seiner tausendjährigen Herrschaft.

Richten wir einen Augenblick unser Auge auf die Art und Weise, in welcher die Parteien in dem Gericht in Matthäus 25 neben einander gestellt sind. „Er wird die Schafe zu seiner Rechten stellen, die Böcke aber zu seiner Linken.“ Die fast allgemeine Annahme der bekennenden Kirche ist nun, dass die „Schafe“ alle Kinder Gottes vom Beginn bis zum Ende der Zeiten, und die „Bocke“ alle Gottlosen von den Ersten bis zu den Letzten bezeichnen. Wenn dieses nun aber so wäre, was hätten wir dann mit der dritten Abteilung zu machen, die uns unter dem Titel „diese meine Brüder“ vorgestellt wird. Der König wendet sich im Blick auf diese dritte Abteilung an die Schafe und Bocke. In der Tat ist die Behandlung der Brüder des Königs der Grund des Gerichts. Die Behauptung, dass unter den „Schafen“ und „Brüdern“ eine und dieselbe Abteilung bezeichnet sei, würde mehr als töricht sein; denn in diesem Fall würde die Sprache des Königs nicht lauten: „Insofern ihre getan habt einem der geringsten dieser meiner Brüder“, sondern: „Insofern ihre getan habt einer dem anderen“ oder „unter einander.“

Wir bitten den Leser dieses zu erwägen; denn wir sind der Meinung, dass, selbst wenn kein anderer Beweis, keine andere Schriftstelle über diesen Gegenstand vorhanden wäre, dieser eine Punkt genügen würde, um die Theorie eines allgemeinen Gerichts umzustoßen. Es ist unmöglich, in dieser Szene nicht drei Abteilungen zu unterscheiden, nämlich die „Schafe“, die „Böcke“ und „diese meine Brüder.“ Sind sie aber vorhanden, so ist, da „diese meine Brüder“ weder bei den „Schafen“ noch bei den „Bocken“ mit einbegriffen sind, ein allgemeines Gericht zur Unmöglichkeit geworden.

Nein, geliebter Leser, wir haben hier kein allgemeines, sondern ein auf eine bestimmte Klasse sich beziehendes Gericht. Es ist ein dem tausendjährigen Reiche vorangehendes Gericht über die lebenden Nationen. Die Heilige Schrift lehrt uns, dass, nachdem die Versammlung dieser Erde entrückt ist, den Nationen noch ein Zeugnis zurückbleiben wird. Das Evangelium vom Reich wird von israelitischen Boten weit und breit, über die ganze Erde, bis zu jenen Regionen getragen werden, die bis dahin in heidnische Finsternis gehüllt waren. Diejenigen Nationen, welche diese Boten willig aufnahmen, werden zur Rechten des Königs, die anderen aber, welche sie verwarfen und gar unfreundlich behandelten, zu seiner Linken gefunden werden. „Diese meine Brüder“ sind Juden – die Brüder des Messias.

Die Behandlung der jüdischen Boten wird alsdann der Grund sein, um derentwillen die Nationen gerichtet werden; und dieses ist noch ein anderer Beweis gegen ein allgemeines Gericht. Wir wissen sehr wohl, dass alle, welche auf dieser Erde gelebt und bis zu ihrem Tod das Evangelium von Christus verworfen haben, sich noch wegen anderer Dinge zu verantworten haben werden, als nur wegen der Lieblosigkeit gegen die Brüder des Königs; und andererseits werden auch alle, welche das Lamm in himmlischer Herrlichkeit umgeben werden, dieses Vorrecht einem Verdienst zuzuschreiben haben, welches ihre eigenen Werks ihnen nicht verschaffen können.

Kurz, es gibt nicht einen einzigen Zug in dieser Szene, keine einzige Handlung in dieser Geschichte, keinen einzigen Punkt in dieser Mitteilung – alles spricht gegen ein allgemeines Gericht. Und nicht nur dieses, sondern je mehr wir die Heilige Schrift betrachten und die Wege Gottes, sein Wesen, seinen Charakter, seine Vorsätze, seine Ratschlüsse, seine Gedanken begreifen, je mehr wir Christus, seine Person, sein Werk, seine Herrlichkeit erfassen, je mehr wir die Versammlung in ihrer Stellung vor Gott in Christus, ihre Vollkommenheit und ihre völlige Annahme in Christus erkennen – desto mehr werden wir überzeugt sein, dass es kein allgemeines Gericht geben kann.

Wie könnte jemand, der etwas von Gott kennt, annehmen, dass Gott heute die Seinen rechtfertigen und sie morgen vor Gericht stellen, dass Er heute ihre Sünden auslöschen und sie morgen nach ihren Werken richten werde? Wer könnte etwas von unserem anbetungswürdigen Herrn und Heiland wissen und dennoch voraussetzen, dass Er seine Versammlung, seinen Leib, seine Braut in Verbindung mit allen, welche in ihren Sünden gestorben sind, vor den Richterstuhl bringen werde? Ware es möglich, dass Er die Seinen vor die Schranken des Gerichts stellte, und zwar wegen ihrer Sünden und Übertretungen, von denen Er gesagt hat: „Ich will ihrer nie mehr gedenken?“

Doch genug. Wir hoffen, dass der Leser jetzt völlig überzeugt sein wird, dass es weder eine gemischte Auferstehung, noch ein allgemeines Gericht gibt, noch geben kann. Wir können auf das Gericht in Offenbarung 20,11–15 nicht näher eingehen, als nur, um anzudeuten, dass die Szene nach dem tausendjährigen Reiche stattfinden, und dass sie alle Gottlosen von Kain an bis zu dem letzten Abtrünnigen in sich schließen wird. Dort wird keiner sein, der nicht durch den Tod gegangen ist, keiner, dessen Name im Buch des Lebens geschrieben steht, keiner, der nicht nach seinen eigenen Werken gerichtet, keiner, der nicht von der furchtbaren Wirklichkeit des weißen Thrones hinweg in die ewige Pein und in die unaussprechlichen Qualen des Feuer– und Schwefelsees geworfen werden wird. Wie furchtbar! Wie schrecklich! Wie entsetzlich!

Geliebter Leser! Was sagst du zu diesen Dingen? Glaubst du in Wahrheit an den Herrn Jesus? Bist du in seinem Blut gewaschen und in Ihm vor dem kommenden Gericht geborgen? Wenn nicht, so richte ich an dich in aller Liebe und mit allem Ernst die Bitte, dass du doch noch heute dem kommenden Zorn entrinnen möchtest. Fliehe zu Jesu, welcher bereit ist, dich mit erbarmender Liebe zu empfangen und dich in der Kraft seines Versöhnungswerkes und in dem Wert seines unvergleichlichen Namens zu Gott zu führen. 6. Der jüdische Überrest

Wir bitten den Leser, seine Bibel zur Hand zu nehmen und Matthäus 24,1–44 zu lesen. Dieser Abschnitt enthält eins der tiefsten und umfassendsten Gespräche, welche je ein menschliches Ohr berührten – ein Gespräch, welches in seinem wunderbaren Verlaufe das Schicksal des jüdischen Überrestes, die Geschichte der Christenheit und das Gericht über die Nationen in sich schließt. Und da wir den letzten Punkt bereits flüchtig betrachtet haben, so bleibt uns nur noch übrig, den Überrest Israels und die Geschichte der bekennenden Kirche in ihrer wahren oder falschen Stellung einer näheren Beleuchtung zu unterziehen.

Um diesen Abschnitt zu verstehen, wird es nötig sein, uns in die Stellung jener Personen zu versetzen, an welche unser Herr in jener Zeit seine Worte richtete. Wenn wir versuchen, das in dem Brief an die Epheser scheinende Licht in dieses Gespräch eindringen zu lassen, so werden wir unsere Gedanken in Verwirrung bringen und die ernste Belehrung dieser vor uns liegenden Stelle vermissen. Es findet sich hier nichts von der Versammlung Gottes, dem Leib Christi. Die Belehrung unseres Herrn ist göttlich vollkommen, und darum dürfen wir auch nicht einen Augenblick daran denken, etwas darin zu finden, was nicht zeitgemäß wäre. Die Einführung eines Gegenstandes, welcher noch in Gott verborgen war, würde aber durchaus nicht zeitgemäß gewesen sein. Die köstliche Wahrheit der Versammlung Gottes konnte nicht offenbart werden, bevor Christus nicht als Messias verworfen, seinen Platz zur Rechten Gottes genommen und den Heiligen Geist hernieder gesandt hatte, um durch dessen Gegenwart aus Juden und Heiden einen Leib zu bilden.

Davon finden wir nichts in Matthäus 24. Wir stehen hier auf jüdischem Boden und sind von jüdischen Verhältnissen und Einflüssen umgeben. Die Darstellung des Schauplatzes, sowie die Redewendungen sind rein jüdisch. Wollten wir diese Stelle auf die Versammlung anwenden, so würden wir den Gegenstand, den der Herr vor sich hatte, gänzlich vermissen und die wahre Stellung der Versammlung verfälschen. Je näher wir die Schrift untersuchen, desto klarer werden wir erkennen, dass die hier in Rede stehenden Personen einen jüdischen Standpunkt einnehmen, mögen wir an diejenigen denken, zu welchen der Herr damals redete, oder an diejenigen, welche später, wenn die Versammlung ihren Schauplatz hienieden verlassen haben wird, auf demselben Boden stehen werden.

Schreiten wir jetzt zu einer näheren Prüfung dieser Stelle.

Am Schluss des vorigen Kapitels wendet sich der Herr an die Führer des Volkes Israels mit den schwerwiegenden, ernsten Worten: „Erfüllt das Maß eurer Väter! Schlangen, Otternbrut! Wie mögt ihr dem Gericht der Hölle entfliehen? Deswegen siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte; und etliche von ihnen werdet ihr töten und kreuzigen, und etliche von ihnen werdet ihr in euren Synagogen geißeln und werdet sie verfolgen von Stadt zu Stadt; damit über euch komme alles gerechte Blut, das auf der Erde vergossen ist, von dem Blut Abels, des Gerechten, an, bis zu dem Blut Zacharias, des Sohnes Barachiaas, den ihr ermordet habt zwischen dem Tempel und dem Altar. Wahrlich, ich sage euch: dieses alles wird über dieses Geschlecht kommen. Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind; wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus wird euch wüste gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gesegnet, der da kommt, im Namen des Herrn!“ (Mt 23,33–39)

So schließt das Zeugnis des Messias gegenüber dem abtrünnigen Volk Israel. Keine Bemühung der Liebe, ja der göttlichen Liebe ist unversucht geblieben: aber vergebens. Propheten sind gesandt worden, und man hat sie gesteinigt. Boten auf Boten sind gekommen und haben ermahnt, gebeten, gewarnt; aber alles blieb ohne Erfolg. Die gewaltigen Worte dieser Boten berührten taube Ohren und verhärtete Herzen; und die einzige Antwort, die sie empfingen, waren Misshandlung, Steinigung und Tod. Endlich ward der Sohn selbst gesandt mit den ergreifenden Worten des Vaters: „Ich will meinen geliebten Sohn senden; vielleicht, wenn sie diesen sehen, werden sie sich scheuen.“ Und scheuten sie sich vor Ihm? Ach, nein. „Sie sahen Ihn an, und da war kein Ansehen, dass sie sein begehrt hätten“ (Jes 53,2). Die Tochter Zion hatte kein Herz für ihren König. Der Weinberg befand sich in den Händen untreuer Ackerbauer, welche ihn für sich selbst zu behalten begehrten. „Als aber die Ackerbauer den Sohn sahen, sprachen sie unter einander: Dieser ist der Erbe; kommt lasst uns ihn töten und sein Erbe in Besitz nehmen.“

Das war der moralische Zustand Israels, angesichts dessen unser Herr die oben angeführten, ungewöhnlich harten Worte sprach: und dann „trat Jesus hinaus und ging von dem Tempel hinweg“ (Kap 24,1). Wie zögernd Er dieses tat, wissen wir; denn – gepriesen sei sein Name! – so oft Er einen Platz der Gnade verlässt, oder einen Platz des Gerichts betritt, so ist sein Schritt stets langsam und gemessen, wie uns dieses der Prophet Hesekiel bezeugt. „Und es ging die Herrlichkeit Jehovas aus von der Schwelle des Hauses und stand über dem Cherubim. Und die Cherubim erhoben ihre Flügel und schwangen sich vor meinen Augen von der Erde empor, da sie hinausgingen, und die Räder waren neben ihm; und ein jeglicher stand am Eingang des östlichen Tores des Hauses Jehovas; und die Herrlichkeit des Gottes Israels war oben über ihnen“ (Hes 10,18–19). „Und es erhoben die Cherubim ihre Flügel und die Räder neben ihnen; und die Herrlichkeit des Gottes Israels war oben über ihnen. Und die Herrlichkeit Jehovas stieg empor aus der Mitte der Stadt und stand auf dem Berg, der gegen Osten der Stadt ist“ (Hes 11,22–23).

So verließ die Herrlichkeit des Gottes Israels mit langsamen, zögernden Schritten das Haus Gottes in Jerusalem. Jehova verweilte lange in der Nähe dieser Stätte; nur mit Widerstreben verschied Er. 1 Er war in liebender Eile gekommen, um mit ganzem Herzen und ganzer Seele in der Mitte seines Volkes zu weilen und im Schoß seiner Versammlung seinen Wohnsitz aufzuschlagen; doch wegen ihrer Sünden und Übertretungen ward Er gezwungen, wieder hinweg zu gehen. Er würde gern geblieben sein, aber es war unmöglich; jedoch zeigte Er selbst durch die Art und Weise seines Scheidens, mit welch einem Widerstreben Er hinwegging.

War es nicht ebenso mit Jehova–Messias in Matthäus 23? Seine rührenden Worte bezeugen es. „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“ Hier liegt das tiefe Geheimnis. „Ich wollte“ – das ist das Herz Gottes. „Ihr wolltet nicht“ – das ist das Herz Israels. Gleich der Herrlichkeit Gottes in den Tagen Hesekiels, so war auch Er genötigt, sich von seinem Volk zu trennen, jedoch nicht – gepriesen sei sein Name! – ohne ein Wort fallen zu lassen, welches den kostbaren Grund zur Hoffnung einer herrlichen Zukunft bildet, wenn die Herrlichkeit Gottes zurückkehren und die Tochter Zion ihren König mit dem Jubelruf empfangen wird: „Gesegnet sei, der da kommt im Namen Jehovas!“

Aber vor dem Anbruch dieses herrlichen Tages wird die Geschichte Israels nur von Finsternis, Verfall und Verwüstung zu berichten haben. Das, was die Führer des Volkes durch die Verwerfung Christi zu hintertreiben suchten, kam über sie in furchtbar schrecklicher Wirklichkeit. „Die Römer werden kommen“ – sagten sie – „und sowohl unseren Ort, als auch unsere Nation wegnehmen.“ Ach, ihr Ort und ihre Nation waren bereits den Römern unterworfen; und der bedeutungsvolle Weggang Jesu in Matthäus 24,1 war nur der Urteilsspruch der Verwüstung über das ganze jüdische System. „Und Jesus trat hinaus und ging von dem Tempel hinweg.“ Ihr Zustand war ein hoffnungsloser. Alles war verloren. Eine lange Periode voll Finsternis und Kummer musste über diese betörte Nation hereinbrechen – eine Periode, welche in der „großen Drangsal“, die der Stunde der endgültigen Erlösung vorangehen muss, ihren Gipfelpunkt erreichen wird.

Aber wie es in den Tagen Hesekiels eine kleine Zahl gab, welche über die Sünden und Drangsale des Volkes seufzte und Leid trug, so fand sich auch in den Tagen, da der Herr hienieden war, ein Überrest gottesfürchtiger Seelen, welche sich dem verworfenen Messias anschlössen, und welche die Hoffnung einer Erlösung und Wiederherstellung Israels nährten. Freilich waren ihre Vorstellungen sehr dunkel und ihre Gedanken voll von Verwirrung: aber nichtsdestoweniger schlugen ihre durch die Gnade berührten Herzen treu für den Messias; und sie waren erfüllt mit der Hoffnung bezüglich der Zukunft Israels.

Es ist indessen für den Leser von großer Wichtigkeit, die Stellung dieses Überrestes zu unterscheiden und sich darüber klar zu werden, dass unser Herr in seiner wunderbaren Unterhaltung auf dem Ölberg nur mit demselben beschäftigt ist. Die Annahme, dass die Personen, zu denen hier geredet wird, auf christlichem Boden stehen, würde nichts als ein Preisgeben jedes wahren Gedankens betreffs des Christentums und Zugleich eine Verleugnung jenes Häufleins sein, dessen Existenz in den Psalmen, in den Propheten und selbst im Neuen Testament ganz bestimmt anerkannt wird. Es bestand und es besteht immer noch ein „Überrest nach der Wahl der Gnade.“ Wir unterlassen die Anführung der Stellen, welche die Geschichte, die Trübsale, die Erfahrungen und die Übungen dieses Überrestes in sich enthalten, weil wir damit einen ganzen Band ausfüllen würden; aber wir wünschen aufrichtig, dass der Leser in diesem Häuflein von Jüngern, welche einst auf dem Ölberg um den Herrn versammelt waren, jenen gottesfürchtigen Überrest erkennen möge; denn wir sind überzeugt, dass, wenn diese Erkenntnis fehlt, der wahre Zweck, die wahre Tragweite und Anwendung dieser beachtenswerten Unterredung verloren geht.

„Und Jesus trat hinaus und ging von dem Tempel hinweg, und seine Jünger traten herzu, um Ihm die Gebäude des Tempels zu zeigen. Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Seht ihr nicht alles dieses? Wahrlich ich sage euch: es wird hier nicht ein Stein auf dem anderen gelassen werden, der nicht abgebrochen wird. Als Er aber auf dem Ölberg saß, traten seine Jünger zu Ihm besonders und sprachen: Sage uns, wann wird dieses geschehen, und welches ist das Zeichen deiner Ankunft und der Vollendung des Zeitalters?“ (Mt 24,1–3)

Selbstredend waren die Jünger mit irdischen Gegenständen und Erwartungen beschäftigt – mit dem Tempel und seiner Umgebung. Wir dürfen dieses, wenn wir anders ihre Fragen und die Antwort des Herrn verstehen wollen, nicht aus den Augen verlieren. Bis jetzt gingen ihre Gedanken nicht über die irdischen Dinge hinaus. Sie erwarteten die Wiederherstellung des Reiches, die Herrlichkeit des Messias, die Erfüllung der den Vätern gemachten Verheißungen. Sie hatten die ernste und in ihren Folgen wichtige Tatsache noch nicht erfasst, dass der Messias „weggetan werden und nichts haben“ sollte (Dan 9,26). Freilich hatte ihr Herr und Lehrer von Zeit zu Zeit ihren Geist auf diese wichtigen Ereignisse vorzubereiten gesucht. Er hatte sie im Blick auf die finsteren Schatten, die seinen Pfad umgeben würden, treulich gewarnt, hatte ihnen gesagt, dass der Sohn des Menschen den Nationen überliefert werden würde, um verspottet, gegeißelt und gekreuzigt zu werden; aber sie hatten Ihn nicht verstanden. Solche Unterredungen dünkten ihnen dunkel, hart und unverständlich zu sein; und ihre Herzen klammerten sich stets fest an die Hoffnung einer nationalen Wiederherstellung und Segnung. Sie sehnten sich, den Stern Jakobs in seinem Aufgang zu erblicken: und ihre Gemüter waren erfüllt mit der Wiederaufrichtung des Reiches Israel. Sie verstanden nichts von dem, was aus der Verwerfung und dem Tod des Messias hervorgehen sollte; und wie hätten sie es auch verstehen können? Freilich hatte der Herr von dem Aufbauen einer Versammlung gesprochen: aber von dem Wesen und den Vorrechten dieser Versammlung, von ihrer Berufung, ihrer Stellung und ihren Hoffnungen wussten sie durchaus nichts. Die Idee eines Leibes, gebildet aus Juden und Heiden, und vereinigt durch den Heiligen Geist mit einem lebendigen und herrlichen Haupt im Himmel, war ihnen nie in den Sinn gekommen, und wie wäre dieses auch möglich gewesen? Die Zwischenwand der Umzäunung bestand noch: und einer aus ihrer Zahl, sogar der Erste unter ihnen, hatte lange nachher viele Schwierigkeit, um zu lernen, dass auch die Heiden in das Reich aufgenommen werden sollten.

Diesem allen muss Rechnung getragen werden, wenn wir die Antwort des Herrn auf die Frage bezüglich seiner Ankunft und der Vollendung des Zeitalters richtig verstehen wollen. In dieser ganzen Antwort ist auch nicht eine Silbe von der Versammlung als solcher zu finden. Bis zu Vers 14, wo Er vom Ende redet, gibt Er einen kurzen Überblick von den Ereignissen, welche sich unter den Nationen zutragen würden. „Seht zu“, sagt Er, „dass euch niemand verführe: denn viele werden unter meinem Namen kommen und sagen: Ich bin der Christus; und sie werden viele verführen. Ihr werdet aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören; seht zu, erschreckt nicht; denn dieses alles muss geschehen; aber es ist noch nicht das Ende. Denn es wird sich Nation wider Nation erheben und Königreich wider Königreich, und es werden sein Hungersnot und Seuchen und Erdbeben an verschiedenen Orten. Dieses alles aber ist der Anfang der Wehen. Dann werden sie euch in Drangsal überliefern und euch töten, und ihr werdet gehasst werden von allen Nationen um meines Namens willen. Und dann werden viele geärgert werden und werden einander überliefern und werden einander hassen; und viele falsche Propheten werden aufstehen und viele verführen; und wegen des Überhandnehmens der Gesetzlosigkeit wird die Liebe der meisten erkalten; wer aber ausharrt bis ans Ende, dieser wird errettet werden. Und dieses Evangelium des Reiches wird gepredigt werden auf dem ganzen Erdkreis zu einem Zeugnis allen Nationen, und dann wird das Ende kommen.“

Hier haben wir also die umfassendste Schilderung des ganzen Zeitraumes von dem Augenblicks an, wo unser Herr redete, bis zurzeit des Endes. Aber der Leser muss sich erinnern, dass in dieser Periode eine nicht bezeichnete Zwischenzeit vorhanden ist, während welcher sich das große Geheimnis bezüglich der Versammlung Christi entfaltet. Diese Zwischenzeit oder Unterbrechung ist, da die Zeit ihrer Entwicklung noch nicht gekommen, in dieser Unterredung gänzlich übergangen. Das Geheimnis war noch „verborgen in Gott“ und konnte nicht eher offenbart werden, bis der Messias verworfen und von der Erde hinweggetan und in die Herrlichkeit aufgenommen war. Das Ganze dieser Unterredung würde seine völlige und vollkommene Erfüllung haben, wenn gleich nie etwas von der Versammlung gehört worden wäre; denn – vergessen wir es nicht! – die Versammlung bildet keinen Teil der Wege Gottes mit Israel und der Erde. Und was die Anspielung auf die Predigt des Evangeliums betrifft (V 14), so dürfen wir dasselbe durchaus nicht mit dem „herrlichen Evangelium der Gnade Gottes“, welches durch Paulus gepredigt wurde, auf eine Linie stellen. Es wird das Evangelium des Reiches genannt und wird überdies nicht gepredigt werden, um die Versammlung oder Kirche zu sammeln, sondern „zu einem Zeugnis allen Nationen.“ Wir dürfen nicht Dinge mit einander vermengen, welche Gott in seiner unendlichen Weisheit zur Unterscheidung gemacht hat. Die Versammlung darf nicht mit dem Reich, und ebenso wenig das Evangelium der Gnade mit dem Evangelium des Reiches verwechselt werden. Diese beiden Dinge sind völlig verschieden; und wenn wir sie mit einander vermengen, so werden wir weder das eine, noch das andere verstehen. Vor allem aber müssen wir es dem Leser zu einer unabweisbaren Pflicht machen, die Zwischenzeit oder nicht bezeichnete Unterbrechung, in welche das große Geheimnis in Betreff der Versammlung eingeschoben ist, wohl zu beachten; denn wenn dieses nicht klar erkannt ist, so werden wir Matthäus 24 unmöglich mit Verständnis zu lesen vermögen.

Doch fahren wir mit der Betrachtung der Rede des Herrn fort.

In Vers 15 scheint Er, so zu sagen, seine Zuhörer ein wenig zu etwas ganz Besonderem zurückzuführen – zu etwas, womit ein gläubiger Jude, da der Prophet Daniel darauf angespielt hatte, vertraut sein konnte. „Wenn ihr nun sehen werdet den Gräuel der Verwüstung – wovon durch Daniel, den Propheten, geredet ist – stehend an heiligem Ort, (wer es liest, der beachte es) dass alsdann, die in Judäa sind, auf die Berge fliehen, wer auf dem Dach ist, nicht hinabsteige, um die Sachen aus seinem Haus zu holen; und wer auf dem Feld ist, nicht zurückkehre, um sein Kleid zu holen. ... Betet aber, auf dass eure Flucht nicht geschehe im Winter, noch am Sabbat, denn alsdann wird eine große Drangsal sein, dergleichen von Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht werden wird.“

dieses alles ist sehr entscheidend. Die Anführung von Daniel 11 stellt die Anwendung über jede Frage hinaus fest. Sie beweist, dass sich diese Stelle nicht auf die Belagerung von Jerusalem unter Titus bezieht: denn wir lesen in Daniel 12: „In selbiger Zeit wird dein Volk errettet werden.“ Wir wissen aber, dass das Volk in den Tagen des Titus nicht errettet worden ist; und mithin findet jene Stelle ihre Anwendung auf das Ende der Zeiten. Der Schauplatz ist in Jerusalem. Die hier in Rede stehenden Personen sind gläubige Juden – der gottesfürchtige Überrest in der großen Drangsal, nachdem die Versammlung die Erde verlassen hat. Wer könnte der Meinung Raum geben, dass die hier unterwiesenen Personen auf kirchlichem Boden stehen? Welche Bedeutung würde dann in der Anspielung auf den Winter und auf den Sabbat liegen?

Und wiederum: „Wenn jemand zu euch sagen wird: Siehe, hier ist der Christus, oder hier, so glaubt nicht. ... Wenn sie nun zu euch sagen: Siehe, er ist in der Wüste, so geht nicht hinaus, siehe, in den Gemächern, so glaubt nicht“ (V 23.26). Wie könnten diese Worte auf Personen angewandt werden, die belehrt sind, den Sohn Gottes vom Himmel zu erwarten, und welche wissen, dass, bevor Er auf die Erde zurückkehrt, sie Ihm in Wolken entgegengerückt und mit Ihm in dem Haus des Vaters eingeführt sein werden? Könnte ein Christ, der seine wahre Hoffnung kennt, durch die Worte getäuscht werden: „Siehe, hier ist Christus oder hier; siehe, er ist in der Wüste, oder in den Gemächern?“ Unmöglich. Ein solcher wird den Bräutigam vom Himmel kommend erwarten; und er weiß wohl, dass Christus unmöglich auf dieser Erde erscheinen kann, ohne die Seinen mit sich zu bringen.

So ordnet also die einfache Wahrheit jede Sache: und wir bedürfen nichts weiter, als sie einfach anzunehmen. Der schwächste Gläubige weiß sehr wohl, dass sein Herr ihm nicht als ein Blitzstrahl erscheinen wird, sondern als der glänzende Morgenstern; und daher begreift er, dass Matthäus 24 nicht auf die Versammlung seine Anwendung findet, obwohl er die darin enthaltenen Worte, wie alle anderen prophetischen Schriften, mit Nutzen und Interesse betrachten kann, und wir fügen noch hinzu, dass dieses Interesse und dieser Nutzen sich in dem Maß steigern werden, als er es versteht, solche Schriftstellen richtig anzuwenden.

Der enge Raum dieser Blätter verbietet uns, in den noch übrigen Teil dieses bewundernswürdigen Gespräches näher einzutreten. Aber je gründlicher jeder Satz untersucht, und je genauer jeder Umstand geprüft wird, desto mehr muss es uns einleuchten, dass die hier in Frage stehenden Personen nicht auf dem eigentlich christlichen Boden stehen. Die ganze Szene ist irdisch und jüdisch, nicht himmlisch und christlich. Wir begegnen hier einer genügenden Unterweisung für solche, welche sich später in dieser Stellung befinden werden: und nichts kann klarer sein, als dass die ganze Stelle von Vers 15–42 sich auf jenen Zeitraum bezieht, welcher zwischen der Entrückung der Heiligen und der Erscheinung des Sohnes des Menschen verstießen wird.

Es könnte vielleicht jemand eine Schwierigkeit in dem Verständnis des 34. Verses finden, worin gesagt wird: „Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis alles dieses geschehen ist.“ Allein wir müssen uns erinnern, dass das Wort „Geschlecht“ (Generation) in der Heiligen Schrift stets in einem moralischen Sinn gebraucht wird. Es beschränkt sich nicht auf eine gewisse Zahl von Personen, welche zu jener Zeit lebten, sondern es umfasst das ganze Geschlecht. In der uns vorliegenden Stelle ist das Wort auf das jüdische Geschlecht angewandt, aber die Wortstellung ist eine solche, dass die Zeitfrage gänzlich offenbleibt, damit das Herz sich stets für die Ankunft des Herrn bereithalten möge. In der Heiligen Schrift ist nichts enthalten, was sich zwischen das beständige Erwarten dieses großen Ereignisses eindrängen könnte. Im Gegenteil ist jedes Gleichnis, jedes Bild, jede Anspielung so ausgedrückt, dass jeder Gläubige berechtigt ist, die Ankunft des Herrn in seiner eigenen Lebenszeit zu erwarten, während zugleich Raum genug gelassen ist für die Verlängerung der Zeit nach der großen Langmut und Gnade unseres Heilands Gottes (Fortsetzung folgt).

Fußnoten

  • 1 Welch einen Kontrast bildet dieses Zögernde Scheiden zu dem bereitwilligen Eintreten in das Zelt der Zusammenkunft (3. Mo 40), sowie in den Tempel (2. Chr 7). Kaum war das Haus zubereitet, so kam Er hernieder, um es mit seiner Herrlichkeit zu erfüllen. So schnell Er bereit war, einzutreten, so langsam zögerte Er, das Haus zu verlassen. Und nicht allein das, sondern ehe noch das Buch Hesekiels schließt, sehen wir die Herrlichkeit Gottes zurückkehren; und „Jehova Schammah“ d. h. Jehova daselbst steht mit unauslöschlicher Schrift eingegraben in die Tore der Stadt. Nichts vermag die Liebe Gottes zu verändern. Wen Er liebt, und wie Er liebt – Er liebt bis ans Ende. „Er ist derselbe, gestern und heute und in Ewigkeit.“
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