Botschafter des Heils in Christo 1867

Jesus Christus, die einzige Triebfeder, Weisheit und Kraft

Es dauert oft lange, bevor die Gläubigen verstehen, dass Christus in allen Dingen den Vorrang behaupten muss, und dass nach der Absicht Gottes die, „welche Er zuvor bestimmt hat, dem Bild seines Sohnes – welcher ist das Bild des unsichtbaren Gottes, Erstgeborener aller Schöpfung – gleichförmig zu sein“, jetzt in der Freiheit und Kraft des Heiligen Geistes „in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit verwandelt werden“ (Röm 8,29; Kol 1,15; 2. Kor 3,18). Und wie wenig wird es daher verstanden, dass, sowie der gnadenreiche Herr Jesus die Heiligen „Zur Rechten der Majestät in der Höhe“ darstellt, sie in ihrem Verhältnis Ihn hienieden darstellen sollen! Der Apostel konnte sagen: „Das Leben ist für mich Christus, und das Sterben Gewinn“ (Phil 1,21). Dachte er dabei bloß an den Besitz dieses Lebens? O nein, er dachte an die Verwirklichung desselben. „Wer da sagt, dass er in Ihm bleibe, der ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie Er gewandelt hat“ (1. Joh 2,6). Jedoch müssen wir uns stets erinnern, dass der Herr Jesus ohne Sünde oder Befleckung wandelte, während der Gläubige, von Natur sündig und besteckt. Alles der Gnade verdankt und, tötend die Glieder, die auf der Erde sind, nur durch die Kraft des Geistes des lebendigen Gottes den Sieg erlangt.

Aber wie lange – ich wiederhole es – dauert es oft, bevor die Gläubigen in irgendeinem Maß die Erfahrung machen, welche der Apostel uns in Phil 3 schildert! Da er den Herrn Jesus als Gerechtigkeit Gottes gefunden hatte, schlug er jede andere Gerechtigkeit entschieden aus; Er sah in Betreff seiner Seele alles vor dem ewigen Gott geordnet; und darum war der Herr auch der einige anziehende Gegenstand der Zuneigungen seiner Seele, so dass er sagen konnte: „Auf dass ich Christus gewinne – um Ihn zu kennen, und die Kraft seiner Auferstehung, und die Gemeinschaft seiner Leiden … ob ich auf irgendeine Weise hingelangen möge zur Auferstehung aus den Toten“ (Phil 3,8–11). allerdings muss zunächst den Bedürfnissen des mit Sünde beladenen Menschen begegnet sein; sein Gewissen muss Frieden gefunden, er muss den unendlichen Wert des kostbaren Blutes Christi und sein göttliches Recht, in der Herrlichkeit Gottes zu stehen, erkannt haben und jener unumschränkten Gnade Gottes teilhaftig geworden sein, die, nachdem alle Menschen als Sünder erfunden sind, in Römer 5 entwickelt und uns, sowohl für die Vergangenheit als auch für die Gegenwart und für die Zukunft als völlig genügend dargestellt wird. Haben unsere Seelen diese Wahrheiten in sich aufgenommen, so dürfen wir uns einer dreifachen Vorsorge der Gnade Gottes rühmen, nämlich 1. in Betreff der Vergangenheit: „Da wir nun gerechtfertigt sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“; – 2. in Betreff unseres gegenwärtigen Wandels durch die Wüste: „Wir haben mittelst des Glaubens auch Zugang zu dieser Gnade, in welcher wir stehen“; – und endlich 3. in Betreff des zukünftigen Tages: „Wir rühmen uns in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes“ (Röm 5,1–2). Ach, wie unendlich sind die Reichtümer der Gnade Gottes! Wie barmherzig ist unser Gott und Vater – Er, der seines eingeborenen Sohnes, der in seinem Schoß war, nicht verschonte, sondern Ihn für feindselige Sünder in den Tod gab! Dennoch aber ist es leider in Betreff vieler von uns nur zu wahr, was der Herr bei irgendeiner Gelegenheit sagte: „O ihr Unverständigen und von Herzen träge, zu glauben“ usw.; und bei manchen vergeht fast die Zeit ihres Lebens, bevor sie das erreichen, was eine dem Heiligen Geist unterwürfige Seele schnell erkennen möchte; und also ermangeln sie der Verwirklichung dessen, was Gott in Betreff ihrer bezweckt. Sie eignen sich nicht alles an, was in Christus Jesus ist; sie erkennen nicht, dass Er nicht nur das Leben und die Gerechtigkeit, sondern auch die Kraft, die Weisheit, die Triebfeder und kurz alles ist; und darum mangelt ihrer Seele der Genuss der „Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinen: Sohn Jesus Christus“, – eine Gemeinschaft, die ihrem Wandel, ihren Werken und allem, was ihre Seelen am meisten beschäftigt, unbedingt vorangehen muss. Nehmen wir jetzt, um etliche Grundsätze der Wahrheit zu beleuchten, die heilige Schrift zur Hand; und ich wünsche von Herzen, dass sich dieselben in unser aller Gewissen tief einprägen möchten, um die Hindernisse zu erkennen, die sich der Erlangung eines größeren Maßes von Kraft in den Weg stellen und uns unfähig machen, „allezeit das Sterben des Jesus am Leib umherzutragen, auf dass auch das Leben des Jesus an unserem Leib offenbart werde“ (2. Kor 4,10).

Wie zahlreich auch die Früchte meiner bösen Natur sein mögen, so habe ich nicht nur diese, sondern auch die Wurzel oder Quelle derselben zu verurteilen. Nicht die so leicht umstrickende Sünde, sondern ihre Ursache muss ins Gericht. Die Natur, das Fleisch muss verurteilt werden, und mir im Licht der Gegenwart des Herrn, wo allein die Sünde in ihrem wahren Charakter gesehen und erkannt, und wo jene Wahrheit gelernt wird, dass in seiner Gegenwart sich kein Fleisch rühmen kann, wie denn geschrieben steht: „Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn.“ Viele seufzen fortwährend über die Früchte einer bösen Natur; aber sie richten nimmer die Natur selbst in der heiligen Gegenwart Gottes. Wie machte es aber der Herr, als Er bemüht war, den gefallenen Petrus wiederherzustellen? Tadelte Er ihn wegen der Früchte seiner bösen Natur? Keineswegs; sondern Er zeigte auf die Quelle hin, auf das Selbstvertrauen und den Eigendünkel der Natur seines Jüngers. Er verurteilte die Wurzel, die Ursache seines Falles Und dasselbe muss auch von unserer Seite stattfinden, wenn wir anders uns selbst und die wirkliche Gnade, in welcher wir stehen, erkennen und verstehen wollen. Es ist der völlig untaugliche, gänzlich verdorbene, hilflose, elende alte Mensch, welcher in dem heiligen Gericht des Glaubens ausgezogen ist; es ist das Fleisch, welches angesichts der Herrlichkeit des Kreuzes Christi in gebührender Weise zum Schweigen gebracht werden muss. Doch der neue Mensch ist fähig gemacht, sich im Herrn, aber auch nur in Ihm allein rühmen zu können. Das Wort Gottes zeigt uns zur Erläuterung eine Menge von Beispielen, welch einen Platz der Mensch – der gläubige Mensch – in der Gegenwart Gottes einnimmt. Sei es Abraham, in dessen Herz die Herrlichkeit Gottes einen solchen Strahl warf, dass „er gehorchte und auszog, nicht wissend, wohin er kam“, oder sei es der arme Jakob, oder Hiob. Sei es Jesajas, der da sagte: „Wehe mir.! denn ich vergehe; denn ich bin ein Mann unreiner Lippen; denn den König, den Herrn Zebaoth (vgl. Joh 12,41) haben meine Augen gesehen“, – oder sei es Daniel, dessen Angesicht sich in der Gegenwart Gottes zu Boden senkte, oder Hesekiel; sei es Petrus, oder Paulus, oder Johannes, welcher Letztere wie tot zu den Füßen des Herrn niederstürzte, – alle zeigen uns die Wirkung der Gegenwart Gottes auf den Menschen, der sich dort befindet.

Wenn wir dieses alles auf uns anwenden, dann möchte man wohl fragen: Warum erfahren wir nicht mehr Kraft in unseren Seelen? Warum genießen wir nicht mehr von jener Freude, welche der Heilige Geist denen gibt, die Ihm gehorchen, – eine Freude, die weit tiefer ist als die, welche die den Frieden erlangende Seele bei völliger Annahme des Evangeliums erfüllt? – Ach! wir haben uns zu viele Theorien gemacht. Wir haben uns mit der Lehre beschäftigt, aber dieselbe zu sehr getrennt von Ihm, in dessen glorreicher Person sich alle Lehre und alle Wahrheit wie in einem Punkt vereinigt – von Ihm, in welchem, obgleich hienieden erniedrigt, „die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt“. Viele sind mit ihrer eigenen Widmung, wie vortrefflich eine solche auch an und für sich ist, so sehr beschäftigt gewesen, dass dieselbe weit mehr der vor ihrer Seele stehende Gegenstand geworden ist, als die Person des Sohnes Gottes selbst. Und wie viele Jahre mögen hinter uns liegen, wo unsere Handlungen, wie schön sie auch an und für sich sein mochten, von Beweggründen geleitet wurden, die es deutlich verrieten, dass das Auge und das Herz nicht auf Jesus allein gerichtet waren? Wie aber lautete wider die Versammlung zu Ephesus das Urteil dessen, der da „Augen hat, wie Feuerflammen“? Tadelte Er sie etwa, weil sie keine Werke, keine Mühe, kein Ausharren, keine Treue gegenüber den Bösen aufzuweisen hatten? O nein, sondern der Urteilsspruch lautet: „Ich habe wider dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast“ (Off 2,4). Die wahre Quelle ihrer Widmung war nicht völlig rein. Es war nicht die drängende Macht der Liebe Christi; es war nicht seine Person, welcher ihre Abhängigkeit und ihr Gehorsam gewidmet war. Er hatte, wie Er zu der Versammlung in Sardes sagt, die Werke nicht völlig erfunden vor seinem Gott (Off 3,2).

In der Voraussetzung nun, dass wir, soweit wir es vermochten, ein wahres Urteil über die Natur in der Gegenwart Gottes gefällt haben und uns demzufolge im Genüsse einiger Freiheit der Seele befinden, so wird es zu unserer völligen Segnung nötig sein, dass wir uns auf dem Pfad des Gehorsams und der Abhängigkeit vorwärtsbewegen; denn der Gehorsam gegen Gott und sein Wort ist die Kraft der Heiligkeit, und die Abhängigkeit ist der Weg der Stärke. Wie hart der Kampf auch sein mag, so muss dennoch das gesegnete Werk des Tötens durch den Geist fortgesetzt werden und das Gefühl der Verantwortlichkeit wach bleiben, um – weil wir den Heiligen Geist haben und unsere Leiber sein Tempel sind – im Geist zu wandeln. Das ist die wahre Furcht Gottes. „Das Geheimnis Jehovas ist für die, welche Ihn fürchten“ (Ps 25,14). Wir müssen in der Tat einen verborgenen Umgang mit Gott haben. Wo dieser fehlt, da bringt selbst der Verkehr mit anderen Heiligen, anstatt jene, aus der „Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus“ hervorströmende Kraft einzuflößen, nur Schwachheit und Verwirrung in die Seele. Nur der verborgene Umgang mit Gott ist zu allen Zeiten das Geheimnis der wahren Kraft gewesen. Nur in dieser heiligen Gegenwart Gottes und in der wahren Abhängigkeit von Ihm kann der. Gläubige jene Stimme voll Majestät und Gnade hören, welche sagt: „Meine Gnade ist dir genug; denn meine Kraft wird in der Schwachheit vollbracht. Daher will ich mich denn vielmehr am allerliebsten meiner Schwachheiten rühmen, auf dass die Kraft des Christus mir einwohne“ (2. Kor 12,9–10).

Ich verweise hier den Leser auf Johannes 14, wo der Herr über den die Abhängigkeit einschließenden Gehorsam eine wahrhaft praktische Belehrung gibt. Er offenbart sich hier den Jüngern nicht als Messias, sondern in seiner völlig göttlichen Herrlichkeit als Sohn Gottes und als Sohn des Vaters. Er kündigt sich ihnen an, als den Gegenstand ihres Glaubens (V 1) und, wenn er sagt: „Wer mich gesehen, hat den Vater gesehen“ – als den Gegenstand ihrer Anbetung (V 9). Und welch eine Fülle von Liebe drücken die Worte aus: „Ich komme wieder und werde euch zu mir nehmen, auf dass wo ich bin auch ihr seid“ (V 3). Jedoch fährt Er später fort: „An jenem Tag (d. i. am Tag der Gegenwart des Heiligen Geistes) werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin, und ihr in wir und ich in euch. Wer meine Gebote hat und sie hält, jener ist es, der mich liebt; wer aber mich liebt, der wird von meinem Vater geliebt werden; und ich werde ihn lieben und mich selbst ihm offenbar machen“ (V 20,21). Und die Frage des Judas nicht (des Iskariots) beantwortend, sagt Er: „Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen“ (V 23). Zeigen uns diese Worte nicht in der bestimmtesten Weise unsere Verantwortlichkeit? Die dem Sünder gegebene Verheißung hat eine bedingungslose, unumschränkte Gnade zur Grundlage; aber die Verheißung für den Heiligen ist an die Bedingung des Gehorsams geknüpft. Ich habe mithin nicht auf Kraft zum Gehorsam zu warten, sondern da ich Leben und Gnade, hervorströmend aus jener göttlichen und ewigen Fülle, besitze, so habe ich nur zu gehorchen, um Kraft zu erlangen. Der Mangel der Erkenntnis dieser Wahrheit ist das Geheimnis der Hindernisse, die sich so manchem in den Weg stellen. Nur wenn wir den geschriebenen Worten gehorchen, finden wir die nachfolgende Segnung. Die oben angeführten Worte des Herrn lassen keine andere Deutung zu. Für uns bleibt nichts zu tun übrig, als dass wir in jeder Lage auf Ihn harren; aber auch nur auf Ihn, bei welchem alle Kraft ist. Ein Beispiel aus dem tagtäglichen Leben wird uns dieses erläutern. Trete ich z. B. in eine Gesellschaft von bekehrten oder unbekehrten Menschen, so muss mein erster Schritt mich in die Gegenwart des Herrn führen; denn hier allem finde ich Weisheit, um der Wahrheit gemäß reden und handeln zu können. Oder begegne ich den Schwierigkeiten des Lebens, so werde ich nur, hinschauend auf Jesus, beim Anblick seiner Herrlichkeit und im Genüsse seiner Liebe Kraft genug finden, um „abzulegen jede Bürde und die so leicht umstrickende Sünde, und mit Ausharren zu laufen den uns vorliegenden Wettlauf“ (Heb 12,1). Es ist daher eine unumstößliche Wahrheit, dass dem die Abhängigkeit in sich schließenden Gehorsam nimmer die nötige Kraft mangeln wird. Satan hat in der Tat große Macht gegenüber dem dünkelhaften Auftreten einer bloßen Erkenntnis; aber er ist machtlos gegenüber dem Gehorsam. Wir haben ungeachtet aller Schwierigkeiten zu gehorchen und unseren: eigenen Willen keinen Raum zu gestatten. Natürlich bedarf ich für dieses alles des Bewusstseins der Gegenwart des Herrn, und dass ich mich in dieser Gegenwart befinde und seine Liebe genieße. Sein Tod hat den Vorhang zerrissen und den Glaubenden in die Gegenwart Gottes gebracht – o möchten wir durch den ungetrübten Heiligen Geist diese Gegenwart verwirklichen und seine Liebe genießen! Der Apostel sagt: „Die Liebe Christi dringt uns.“ In allen Fällen können wir auf diese Liebe rechnen. Er gab sich für uns in den Tod, zahlte den höchsten Preis für die Kirche; und sicher, darum können wir in Ihm jede Quelle der Kraft und des Mitgefühls finden, und darauf Anspruch machen. Es ist Ihm, sowie seinem und unserem Vater wohlgefällig, wenn wir in seine Liebe unser völliges Vertrauen setzen und mit Zuversicht von derselben die Gewährung unserer Bitten erwarten. Wir dürfen kühn in die Worte des Psalmisten einstimmen, wenn er sagt: „Den Wunsch seines Herzens Hast du Ihn: gegeben, und das Verlangen seiner Lippe nicht verweigert“ (Ps 21,2).

Möge der Leser wie der Schreiber dieser Zeilen immer tiefer in diese gesegneten Wahrheiten eindringen! Mögen wir stets in Jesu allein unsere Triebfeder, Weisheit und Macht finden und den Glauben, welcher überwindet, festhalten durch die Erkenntnis der Herrlichkeit des Sohnes Gottes, welcher gesagt hat: „Dem, der überwindet, werde ich geben von dem verborgenen Manna, und ich werde ihm geben ein weißes Steinchen, und auf das Steinchen einen neuen Namen geschrieben, den niemand kennt, als der ihn empfängt“ (Off 2,17).

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