Botschafter des Heils in Christo 1867

Die Abnahme im geistlichen Leben

So wie von Ephraim gesagt worden ist, dass sein Haar ergraut sei, ohne dass er es gemerkt habe, so tritt auch im Allgemeinen der offenbare Rückgang oder die Abnahme im geistlichen Leben nicht so plötzlich und sichtbarlich in die Erscheinung. Im Gegenteil geht gewöhnlich eine lange Reihe von Symptomen voraus, welche einen Zustand ankündigen und vorbereiten, der nicht entdeckt wird, bis er buchstäblich nicht mehr verborgen bleiben kann. Daher ist es für unser geistliches Wohl von höchster Wichtigkeit, dass wir diese vorausgehenden Erscheinungen frühzeitig und schnell wahrnehmen. „Wenn wir uns selbst beurteilten, so würden wir nicht gerichtet.“ Ist ein geistlicher Sinn vorhanden, um die ersten Spuren der Abnahme zu sehen und zu fühlen, so werden diese selbstredend verurteilt und unterdrückt. Wir werden weder billigen noch befördern, was wir als unrecht erkannt haben. Ist hingegen die Schärfe unseres Gewissens abgestumpft, so sehen wir das Böse nicht, oder wir, wenn wir es auch sehen, finden es unter den Umständen, in denen wir uns gerade befinden, verzeihlich und geben ihm immer mehr nach. „Es ist das Licht, welches alles offenbar macht.“ „Gott ist Licht und es ist gar keine Finsternis in Ihm.“ – Wir sind Licht in dem Herrn. Wenn wir im Licht wandeln, so befinden wir uns in der Nähe des Herrn und werden dort alles so sehen, wie Er es sieht. Es ist möglich, dass wir etwas nicht ganz klarsehen; allein wir sehen es doch; und da wir es in seiner Gegenwart sehen, so werden wir uns von allem zurückziehen, welches seiner nicht würdig ist. Wenn wir in der Finsternis wandeln, so haben wir keine Gemeinschaft mit Ihm. Es handelt sich hier nicht blas um ein gutes Gewissen, um darin vor Ihm zu wandeln, sondern um praktische Gemeinschaft mit Ihm. Letztere ist undenkbar, wenn wir nicht im Licht sind; nur im Licht sind alle Dinge offenbar, wie Gott sie offenbar macht. Wir werden auf die Linie, welche gezogen werden muss, aufmerksam gemacht, und wir nehmen sie an. Dieses aber gibt uns einen freimütigen Zugang zu einer engeren Gemeinschaft mit Ihm. Die Finsternis begreift das Licht nicht. Wenn ich im Licht bin, so beurteile ich mich selbst, und klage mich alles dessen an, was Gott zuwider ist; und eben weil ich im Licht – in meiner mich schirmenden Waffenrüstung – stehe, werde ich nicht gerichtet. Allem dieses hat nur Bezug auf den Wandel und auf die daraus entspringende Freude der Seele; es kann jemand darin sehr mangelhaft sein und dennoch ein gewisses Maß vom Frieden des Gewissens und ein gewisses Maß von Tätigkeit im Dienste für den Herrn kundgeben. Wenn nun aber diese Unfähigkeit zum Selbstgericht fortdauert, so werden wir von dem Herrn gezüchtigt; und dieses Gericht wird auf mannigfache Weise ausgeübt.

Es wird nützlich und belehrend sein, aus der Schrift die Kennzeichen der Abnahme zu sammeln. Das erste und untrüglichste Kennzeichen ist die Unzufriedenheit. „Begnügt euch mit dem, was vorhanden ist“ (Heb 13,5), hat eine viel weitere Anwendung, als nur auf irdische Dinge; es bildet auch eine Waffe gegen die Macht des Menschen. Diese Stelle deutet auf die folgende hin: „So dass wir kühn sagen dürfen: Der Herr ist mein Helfer, und ich will mich nicht fürchten; was wird mir ein Mensch tun?“ Wegen der Hilfe des Herrn haben wir nichts von dem zu fürchten, was in der Macht des Menschen liegt. Doch wir sind es uns oft kaum bewusst, welch unscheinbaren Anfang dieses Gefühl der Unzufriedenheit haben kann, während es, wenn es unentdeckt und ungerichtet bleibt, tödlichen Schaden anrichtet, und man es schließlich als eine Tugend erachtet, unzufrieden zu sein. „Aber“ – wird man mir vielleicht einwenden – „soll man denn selbst mit dem zufrieden sein, welches nicht nach Gottes Rat und Willen vorhanden ist?“ Darauf jedoch antworte ich, dass, wenn dieses die einzige Unzufriedenheit unseres Herzens wäre, es sich in einer anderen Weise, als in der Unzufriedenheit der Natur, kundgeben würde 1, wiewohl ohne Zweifel diese letztere Art von Unzufriedenheit nicht selten unter dem Deckmantel und Namen der ersteren entschuldigt wird. – Untersuchen wir daher, wie die Unzufriedenheit den Weg zur Abnahme des geistlichen Lebens bahnt und vorbereitet. Wenn mein Herz in Einfalt versichert ist, dass der Herr mich nicht verlassen noch versäumen wird, so denke ich nicht an mich. Ich ruhe in der Überzeugung, dass ein Größerer, als ich, sich mit mir beschäftigt. Wenn ich im Glauben sein Wort aufnehme: „Ich will dich nicht verlassen noch versäumen“, so legt mein geistliches Betragen Zeugnis davon ab, dass ich kühn sagen kann: „Der Herr ist mein Helfer; und ich will mich nicht fürchten; was wird mir ein Mensch tun?“ Das aber ist nicht ein bloßes Zufriedensein, sondern ein energisches, glückliches und bestimmtes Vertrauen auf Gott. Sicher, die eigentümlich schlaue und sonderbare Weise, in welcher dieses erste Kennzeichen wirkt, ist kaum zu beschreiben; aber jede Seele, die vom Weg des Irrtums zurückgekehrt ist, wird sich bekennen müssen, dass ihre anfängliche Abweichung auf Keime dieser Art zurückzuführen ist. Das eigene ich wird ein Gegenstand der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens; daher bestrebt man sich, mehr dafür zu erlangen, als Gott dafür bestimmt hat. Das war Achans Sünde; (Jos 7) er eignete sich das Eigentum Gottes an; er war nicht zufrieden – er suchte sich selbst.

Man wird zugeben müssen, dass, als die Kinder Israel den Herrn in der Wüste versuchten, sie durch den tödlichen Biss der feurigen Schlangen zu der Überzeugung hätten kommen können, dass jene Unzufriedenheit, welche durch Satan ursprünglich in Evas Herzen erzeugt worden war, den Tod zur Folge hatte, und dass gegen denselben kein anderes Hilfsmittel, als in dem Leben vorhanden war, welches Gott dem Glauben gibt. Diese Unzufriedenheit gab sich kund, weil sie das Manna, diese göttliche Versorgung, für ungenügend hielten. Sie sagten: „Unserer Seele eckelt vor dieser losen Speise;“ sie versuchten Christus. Was aber einst das Manna war, das ist jetzt für uns Christus und nur Christus während unseres Lebens in dieser Welt. Wie sehr fürchtet der Apostel in Kolosser 2 den Abfall von Christus; seine Ermahnungen, daran festzuhalten, sind nichts anders als Ermahnungen zur Rückkehr zu der in die Worte gekleideten Wahrheit: „Ich will dich nicht verlassen noch versäumen.“ Es ist klar, dass jemand, der einfältig und wahrhaftig glücklich in Christus ist und in Ihm seine völlige Befriedigung findet, durchaus nicht die Zeichen des Abfalles an sich trägt, während man überzeugt sein kann, dass jeder, welcher über seine Vermögensumstände, über seine Familie, über seine Arbeit, über seine Gesundheit, über die Brüder oder über irgendetwas seufzt, vor dem Manna einen Eckel empfindet, oder dass sein Auge von Christus abgewandt ist und die ersten Keime der Abnahme seines geistlichen Lebens hervorgesprossen sind. Und was wird dem Murren auf dem Fuß folgen? Man wird, sobald die Fähigkeit und Gelegenheit dazu vorhanden ist, den entdeckten Mangel aus dem Weg zu räumen trachten. Man wird eben nicht sehr auf die Mittel und Wege achten, die man anwendet und einschlägt, um aus einer misslichen Lage herauszukommen. Nur im Blick auf die Umstände lässt man sich leiten; und werden die Anstrengungen nicht durch einen günstigen Erfolg, gekrönt, so steigert sich die Unzufriedenheit. Man gebärdet sich gleich einem gefangenen, umstrickten Wilde, weil unser Auge nichts sieht, als jene Schranke, die unserer Natur im Weg steht. Das sind die betrübenden Folgen des Murrens.

Wie ganz anders aber, wenn ich mich Gott unterwerfe. Dann murre und seufze ich nicht; denn ich fühle mich in Christus völlig befriedigt und befinde mich in einer Region, in welche den eigenen, selbstsüchtigen Wünschen der Eintritt verwehrt ist (Joh 4,14). Wenn wir mit Aufmerksamkeit die Geschichte einzelner Personen des Alten Testaments verfolgen, so werden wir bald den besonderen Umständen begegnen, die zu der Abnahme ihres geistlichen Lebens führten, weil ihr ganzes Verhalten durch jene Umstände, denen sie abzuhelfen trachteten, beeinflusst wurde und das Murren und die Unzufriedenheit ihres Herzens offenbar machte. Lot brauchte Futter für sein Vieh, und die Wiesen Sodoms zogen ihn an. Jakob verlangte nach Ruhe nach seiner Flucht von Mesopotamien und Sichem genügte ihm. Israel verlor Moses aus den Augen und fand seine Befriedigung in einem goldenen Kalbe. Achan verlangte nach persönlicher Auszeichnung und vergriff sich an dem, was Gott angehörte. Mit einem Wort: Wer den Wünschen seiner Seele Raum gibt, tut den ersten Schritt in der Abnahme seines geistlichen Lebens. Das Herz, anstatt in der Genügsamkeit Christi zu ruhen, strengt sich mit großer Mühe an, die erwachten Wünsche zu befriedigen. Es ist stets die Bemühung Satans, irgendein Verlangen zu erwecken und dann die Seelen zu drängen, einen ungeziemenden Weg einzuschlagen, um dieses Verlangen zu stillen. Tragen wir nicht schon den Schein des Abfalles an uns, wenn das eigene ich in irgendeiner Form unsere Aufmerksamkeit fesselt und uns die Hilfe und Befriedigung in Christus vergessen und übersehen lässt? Gerade Dasjenige, woran wir uns wenden, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen, verrät unsere wahren Gedanken über das Bedürfnis, sowie überhaupt den Zustand unseres geistlichen Lebens. So deckte das Gesetz in Galatien, und die Philosophie in Kolossä die Neigung der Herzen auf. Möge der Herr uns daher in Gnaden bewahren, den Wünschen unserer Herzen nachzugeben; denn dadurch verlieren wir unsere Stellung in Christus aus den Augen und berauben uns der Kraft zum Fortschreiten in der Gnade und der Erkenntnis.

Wenn unser Gewissen noch wach ist, so müssen wir unbedingt den Mahnungen desselben Gehör geben; denn im anderen Fall werden wir unsere Gefühle bezüglich dessen, was Wahrheit ist, immer mehr in uns abstumpfen. Wollen wir den Ansprüchen unseres Gewissens entsprechen, dann wird es nötig sein, dass wir die Stellung einnehmen, welche Gott wohlgefällig und seiner Offenbarung gemäß ist, die Er von sich selbst gemacht hat; und selbstredend werden wir dann alles richten, was Ihm zuwider ist, und uns durch seine Gnade über alle Begierden und Wünsche der Natur erheben. Wenn wir hingegen andererseits der Unzufriedenheit unseres Herzens nachgeben, so müssen wir entweder geradezu gegen unser Gewissen handeln, oder wir sind benötigt, uns Gott in einer Weise darzustellen, die durchaus ungeeignet ist, unseren Zustand zu verurteilen. Wie könnte ich in einem meiner Natur angemessenen Zustand leben, über welchen ich die Überzeugung besäße, dass Gott ihn nicht anerkennen und erlauben würde. Ich muss entweder ohne Gewissen, ohne Gottesfurcht sein, oder ein böses Gewissen haben; ich muss entweder im Glauben Schiffbruch gelitten haben, oder mich in einem unerträglichen Zustand befinden; und beide Erscheinungen bilden schon weit vorangeschrittene Stufen in der Abnahme des geistlichen Lebens.

Und ach! wie oft geschieht es, dass die Gläubigen sich eine beschränkte Vorstellung von Gott machen, um das Gewissen nicht zu stören und zu beunruhigen. Lot stand sicher, als eine gerechte Seele mit Gott in einiger Verbindung; denn wie hätte er sonst mit dem Gefühl völligen Getrenntseins, auch nur den geringsten Grad von Behaglichkeit in Sodom genießen können? Ja, sicher würde er bald in das ihn umgebene Böse völlig hinab gesunken sein, wenn er nicht irgendwelche Beziehungen mit Gott unterhalten hätte. Allein diese Beziehungen – wie weit standen sie unter seiner Berufung? Daher musste er eine Vorstellung von Gott angenommen haben, die weit unter derjenigen stand, in welcher der ihn berufende Gott sich ihm offenbart hatte. Das aber sind stets die ersten Folgen, wenn man der Unzufriedenheit des Herzens irgendwelchen Spielraum gestattet.

Ebenso errichtete Jakob, als er sich in Sichem niedergelassen hatte, einen Altar, und rief den Namen des starken Gottes Israels an. Solange er sich in einem Zustand befand, der seiner Natur angemessen war, unterhielt sein Gewissen allerdings Verbindungen mit Gott, jedoch nur solche, welche seine ihm nicht von Gott angewiesene Stellung keineswegs tadelten und verurteilten. Er dachte nur an Gott in Beziehung auf seine eigene Person. Für Gedanken an die Verherrlichung Gottes gab es keinen Raum in seinem Herzen. Die Ratschlüsse Gottes blieben gänzlich unbeachtet und vergessen. Konnten unter solchen Umständen die traurigen Erscheinungen in der Familie Jakobs befremden? Keineswegs. Wie ganz anders war es, als Jakob dem Ruf Gottes Folge leistete und nach Bethel aufzubrechen im Begriff stand. Jetzt erst vernehmen wir seine ernste Mahnung: „Tut von euch die fremden Götter, so unter euch sind, und reinigt euch und ändert eure Kleider.“

Wie deutlich lehrt uns diese Geschichte, dass so manches, was wir uns außer der wahren Gemeinschaft mit Gott erlauben können, unmöglich geduldet werden kann, wenn wir in seine heilige Nähe treten; und sicher zeigt das Dulden des Unheiligen in unserer Mitte stets an, dass die Seele von Ihm entfernt ist. O möchten unsere Herzen dieses doch tief erwägen! Wie sehr würden wir uns fürchten, der Unzufriedenheit der Natur nachzugeben, wenn wir stets im Licht Gottes die traurigen Folgen sähen! Liegt es doch klar am Tag, dass wir, wenn wir den Begierden der Natur Genüge leisten, unsere wahre Berufung aus dem Auge verlieren und, um den Schlägen des Gewissens zu entgehen, die Offenbarung Gottes auf jenes Maß beschränken, welches unsere fleischliche Stellung weder tadelt, noch mit ihr zusammenstößt. Es ist dieses ein ernsteres und ein öfter vorkommendes Übel, als wir vielleicht meinen. Von unseren Vorrechten und von unserer Berufung abzuweichen, ist an und für sich schon schlimm genug; allein wenn wir, um den Vorwürfen unseres Gewissens auszuweichen, die Offenbarung Gottes schmälern und beschränken, so ist das in der Tat schon ein erschreckender Grad der Abnahme unseres geistlichen Lebens. Allein dieses wird stets der Fall sein. Man wird kein Beispiel anführen können, wo jemand, der auf irgendeine Art sich selbst sucht, und von seiner Berufung in Christus und seiner Befriedigung in Ihm abgewichen ist, sich nicht eine Vorstellung von dem Willen Gottes gemacht hat, die weit unter der Wahrheit steht und diese in den Staub zieht, damit sie ihm in seiner untergeordneten Stellung nicht verweisend begegnen kam. Anders kann es nicht sein, wenn man den unerträglichen Vorwürfen des Gewissens entrinnen will.

Ich zweifle nicht, dass Markus, als er sich von Paulus trennte, um nach Jerusalem zu gehen, auf einem niedrigem Boden Erleichterung für sein Gewissen fand, als wenn er bei Paulus geblieben wäre. So ist es immer. Ist Christus als der alleinige Grund des Friedens aus den Augen verloren, dann muss etwas anderes eingeführt werden, um den Platz wieder auszufüllen; und wenn es nicht die göttliche Gerechtigkeit ist, so muss es die menschliche sein; oder es ist kein Gewissen mehr vorhanden. Gleicherweise stand Barnabas in dem Wortwechsel mit Paulus mit Markus in Gemeinschaft und mithin auf derselben Grundlage; denn beide hatten einen fleischlichen Boden betreten. Beide gingen nach Zypern, dem Vaterland des Barnabas. Und sicher, alle diejenigen, welche Paulus in Asien verlassen und die höheren Wahrheiten aufgegeben hatten, mussten, wenn sie überhaupt noch ein Gewissen hatten, der Offenbarung Gottes ein beschränktes Maß anweisen, um nicht wegen der Abnahme ihres geistlichen Lebens getadelt zu werden. Wenn die Versammlung zu Ephesus die erste Liebe verlassen hatte, so war dieses nur die Folge davon, dass sie die Offenbarung Gottes ihres Stachels beraubt hatte, um nicht in ihrem Licht den Gewissensbissen ausgesetzt zu sein, wiewohl die Epheser sicher eine Stütze in ihrem Eifer fanden, womit sie „prüften, die da sagen, sie seien Apostel und sind es nicht, und die Bösen nicht ertragen konnten usw.“ Sie blickten mit großem Eifer niederwärts, weil sie aufgehört hatten, aufwärts zu schauen. Freilich war ihre Handlungsweise gut und löblich; nichtsdestoweniger aber stand ihr Eifer wie bei dem fischenden Petrus, auf einer Linie, die den Menschen und ihnen selbst angemessener war, als Christus. Sobald das Sichtbare der höchste Gegenstand der Seele ist, wird das Unsichtbare, das Höhere, als Gegenstand des Gewissens gänzlich übersehen. In diesem Fall muss der wahre Platz des Vorrechts und der Berufung Gottes verscherzt werden, sobald das eigene Ich den Schauplatz betritt, während, wenn noch ein Gewissen vorhanden ist, die Offenbarung Gottes bis auf den niedrigsten Grad herabgezogen wird, um dadurch die Abnahme des geistlichen Lebens möglichst lange zu verhüllen.

Man kann versichert sein, dass die Stumpfheit vieler Christen, höhere Wahrheiten zu begreifen, sowie die Gleichgültigkeit vieler in der Beobachtung derselben ihren Grund darin haben, dass sie zunächst wegen selbstsüchtiger Zwecke hinweg gezogen werden und dann sich gezwungen sehen, die Wahrheit zu beschneiden, um sie ihrem Zustand anzupassen, damit das Gewissen in keiner Weise beunruhigt wird. 2 Zeigt nun aber vollends das Gewissen einen Stachel, der sich nicht beseitigen lässt, so bleibt nichts anders übrig, als es gänzlich bei Seite zu setzen und am Glauben „Schiffbruch zu leiden“ (1. Tim 1,19), oder in die Fußstapfen derer zu treten, die „in Betreff ihres eigenen Gewissens wie mit einem Brenneisen gehärtet sind“ (1. Tim 4,2). Das Erstere ist der Fall, wo ein wirkliches Werk in der Seele ist, das Letztere, wo kein solches vorhanden ist. Wenn jemand einen Weg verfolgt und in Fallstricke gerät, denen ein tätiges Gewissen ausgewichen wäre, so ist ihm nicht zu helfen. Er muss Schiffbruch leiden, d. h. er muss, da er alle Selbstbeherrschung verloren hat, nutzlos zu einem Wrack herabsinken. Er hat sein Gewissen nicht in Verbindung mit seinem Glauben bewahrt. Was er glaubte, vernachlässigte er, oder er weigerte sich den von Gott an ihn gerichteten Ansprüchen nachzukommen. Wie konnte es anders sein, als dass er unaufhaltsam ein Spiel der Winde und der Wellen wurde?

Der Mann Gottes, welcher von dem alten Propheten zu Bethel verführt wurde (1. Kön 13), liefert uns in dieser Beziehung ein bemerkenswertes Beispiel. Hätte er sein Gewissen in der Verbindung mit seinem Glauben gehalten, so würde er sich nicht von dem Gebot Gottes haben abwendig machen lassen. Weil er aber mit seiner Natur, mit sich selbst beschäftigt war, so wurden seine anfänglichen Bedenken bald überwunden. Er achtete nicht auf die Stimme seines Gewissens, setzte das Bewusstsein der an ihn gestellten Ansprüche Gottes bei Seite, lauschte auf die Worte des Verführers und erntete die traurigsten Folgen.

In ähnlicher Weise war auch das Gewissen des Petrus in Tätigkeit, als er die einfachen Worte seines Herrn vernahm. Er hatte auch dafür zu, leiden, wenn auch nicht in derselben Ausdehnung, weil er der Furcht erlag, während jener dem hervorgerufenen Verlangen nachgab. Wir können überhaupt bei allen moralischen Schiffbrüchen, welche uns bekannt sind, eine beachtenswerte Entdeckung machen. Jeder, der am Glauben Schiffbruch leidet, hat entweder sich selbst zu gefallen gesucht, oder ist aus Furcht vor anderen erlegen. In vielen und verschiedenartigen Formen können diese Elemente in unserer Seele wirken. Bei dem einen ist der Hochmut die Ursache. Der Apostel sagt zu den Ephesern: „Aus euch selbst werden Männer aufstehen, um die Jünger abzuziehen hinter sich her.“ – Bei einem anderen ist es das Verlangen, mit einflussreichen, christlichen Freunden auf gutem Fuß zu stehen. Bei einem Dritten ist es die Liebe zur Gemächlichkeit, zur Häuslichkeit usw. Es ist selten der Fall, dass diese Elemente in einem fleischlichen Gewände erscheinen, obwohl es zu Zeiten dennoch vorkommt. Aber in jedem dieser Fälle bahnt das Aufgeben des Gewissens den Weg zum schließlichen Fall und zur unausbleiblichen Schande.

Indes verfolge ich diesen Gegenstand nicht weiter, wiewohl derselbe einen der bedenklichsten Gerade annimmt, wenn das Gewissen wie mit einem Brenneisen gehärtet ist und jemand in Betreff des Glaubens als unbewährt gefunden wird. Das ist dann die Fortsetzung der niederwärts gehenden Stufen, welche wir bisher betrachtet haben. Wie schrecklich ist dieser Zustand, wenn die Seele auf diesen Stufen nicht wieder emporsteigen kann und das Gewissen durch die Gnade wieder befähigt wird, seine Kraft aufs Neue zu behaupten! Dieses war noch bei Jakob der Fall, als der Herr ihn aus seiner fleischlichen Ruhe aufweckte und zu ihm sagte: „Mache dich auf, gehe nach Bethel!“ Ebenso bei Petrus, als er in Kümmernis und Reue durch den Blick des Herrn zurückgerufen wurde.

Der Zweck dieser Zeilen ist, die Anfänge der Abnahme des geistlichen Lebens zu bezeichnen. Ich habe versucht, die Aufmerksamkeit der Leser auf die im Herzen vorherrschenden Neigungen in dieser Beziehung zu lenken. Ich verfolge diesen Gegenstand nicht bis zum offenbaren Ausbruch des gänzlichen Abfalls. Mein Zweck ist erreicht, wenn es mir gelungen ist, das Herz der Heiligen zu einem ernsteren selbstgerechte aufzuwecken, ihre Gefühle in Tätigkeit zu setzen, um das Gute und das Böse zu unterscheiden, und dadurch eine größere Fähigkeit von ihrer Seite hervor zu rufen, gegen jedes zur Abnahme des geistlichen Lebens führende Wirken alles Ernstes wachsam zu sein. Solange das Auge des Herzens auf Christus gerichtet ist, solange wir auf das „sinnen, was droben, und nicht auf das, was auf der Erde ist“, werden wir den Schein der Abnahme und des Abfalls nicht an uns tragen. Sobald aber die Dinge der Erde unsere Aufmerksamkeit an sich ziehen, hat schon diese Abnahme begonnen. Je mehr ich daher wünsche, bewahrt zu bleiben, desto mehr werde ich den wohlgefälligen und in seinem Wort offenbarten Willen Gottes erforschen und, getrennt von der Welt, die Innigkeit des Verhältnisses mit Christus genießen. Es ändert nichts an der Sache, ob mich meine eigene oder die Not anderer, oder gar die Not der auf der Erde leidenden Kirche beschäftigt – sobald irgendetwas in Beziehung zur Erde mich beschäftigt und meine Natur in Tätigkeit setzt, so bin ich in der Abnahme meines geistlichen Zustandes begriffen. Sobald ich aus die Macht des Menschen meine ängstliche Blicke richte, habe ich schon das Bewusstsein von der Hilfe des Herrn verloren. Es ist gerade ein Beweis der Erhabenheit unserer gegenwärtigen und wahren Stellung, dass wir, bei dem geringsten Abweichen davon, der Gefahr ausgesetzt sind, Schaden zu leiden. Je reiner eine Sache ist, desto sorgfältiger muss sie bewahrt bleiben. Das Verlangen, die Wahrheit zu beschränken, oder das Sträuben, die höchsten Wahrheiten anzunehmen, wird nur da entdeckt werden, wo das Geistesauge mit einem Gegenstand oder einem Zustand beschäftigt ist, der damit in keinem Einklang steht. In diesem Fall weigert sich das Herz, die Wahrheit anzunehmen, oder macht sie seinem Zustand anpassend, um das Gewissen in Ruhe zu erhalten. Der letzte Schritt, um das Gewissen gänzlich zu beseitigen, geschieht in dem Augenblick, wo man dem Licht der Gegenwart Gottes völlig ausweicht, um in ungehinderter Freiheit den Willen des Fleisches vollbringen zu können.

Wie gesagt, ist die Unzufriedenheit der Anfang des Abfalls. Bald findet sich dann ein Plätzchen für das eigene Ich unter irgendeinem scheinbar geistlichen Vorwand; und man hört auf, in Christus zu ruhen, in Ihm, der alles in allem erfüllt. Möge der Herr uns daher allen die Gnade schenken, gegen den Anfang wachsam zu sein; nur dann werden wir durch seine Gnade, in einfältiger und glücklicher Abhängigkeit von Ihm, geleitet werden können, seinen Willen zu tun und durch alles hindurch die Erfahrung zu machen, wie Er unser Stecken und Stab sein will, bis in alle Ewigkeit.

Fußnoten

  • 1 Eifer für den Herrn gibt sich durch eine größere Fürsorge für die Heiligen und durch eine entschiedenere Trennung von der Welt kund.
  • 2 Wenn man z. B. festhält, dass Christus der Herr ist, aber in Ihm nicht Zugleich das Haupt des Leibes erblickt, so liefert uns dieses ein Beispiel, wie man die Wahrheit beschränken kann.
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