Botschafter des Heils in Christo 1883

Ein Wort über kirchliche Unabhängigkeit

1.: Es ist eine höchst gefährliche Sache, das persönliche Urteil mit dem Gewissen zu vermengen. Die völlig gereifte Frucht dieser Vermengung sehen wir in dem gegenwärtigen Zustand des Protestantismus: das persönliche Urteil wird dazu benutzt, um die Verwerfung alles dessen zu rechtfertigen, mit welchem der Einzelne nicht einverstanden ist. Die Verschiedenheit zwischen dem persönlichen Urteil und dem Gewissen ist einfach. Wir alle erkennen die Autorität eines Vaters an. Wenn es sich nun um eine Sache des Gewissens handelt, sei es in Bezug auf die Autorität Christi oder das Bekenntnis seines Namens, so kann selbstverständlich die väterliche Autorität nicht berücksichtigt werden. Ich bin verpflichtet, Christus mehr zu lieben, als Vater und Mutter. Wenn ich aber die Autorität meines Vaters in allem verwerfe, worin mein persönliches Urteil von dem seinigen betreffs dessen, was recht ist, abweicht, so hat alle Autorität aufgehört. Es mag Fälle geben, in welchen ich ängstlich nach dem, was meine Pflicht ist, zu suchen habe, und in denen nur ein geistliches Unterscheidungsvermögen zu einem richtigen Urteil kommen kann. Solche Fälle gibt es in dem ganzen christlichen Leben. Wir müssen geübte Sinne haben, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden – nicht unweise sein, sondern verstehen, was der Wille des Herrn ist; und solche Übungen sind nützlich.

Doch die Vermengung eines Urteils, welches ich mir einfach über das, was richtig ist, bilde, mit dem Gewissen ist im Grund nichts anders, als eine Vermengung des Willens mit dem Gehorsam. Ein wahrhaftiges Gewissen ist immer gleichbedeutend mit Gehorsam gegen Gott; aber wenn ich das, was ich einsehe, für genügend erachte zur Bestimmung meines Tuns, so ist eine verderbenbringende Wirkung unausbleiblich. Unterwirft man sich nur dann der Autorität eines Vaters, wenn er, selbst in unwichtigen Dingen, eine Schriftstelle für das, was er wünscht, anzuführen vermag? Erhebt ein solcher Grundsatz nicht das eigene Ich und den eigenen Willen auf den Thron?

Doch ich gehe zu der Sache über, von der ich eigentlich reden will. Nehmen wir an, in einer Versammlung ist jemand wegen einer bösen Sache ausgeschlossen worden. Alle erkennen an, dass ein solcher, wenn er in Wahrheit gedemütigt ist, wiederaufgenommen werden sollte. Die Versammlung glaubt, dass er wirklich gedemütigt ist; ich hingegen bin überzeugt, dass er es nicht ist. Man nimmt ihn auf. Soll ich nun mit der Versammlung brechen, oder mich weigern, mich ihrer Handlung zu unterwerfen, weil ich glaube, dass sie im Irrtum ist? Nehmen wir den umgekehrten Fall an – ein Fall, der das Herz noch mehr auf die Probe stellt – dass ich nämlich von der Demütigung des Betreffenden überzeugt bin, während die Versammlung es nicht ist. Was soll ich jetzt tun? Ich unterwerfe mich einfach einem Urteil, das ich für irrig halte, und blicke auf den Herrn, dass Er es berichtigen möge. Es ist dann eine Demut vorhanden, welche das eigene Ich an den ihm gebührenden Platz stellt und die eigene Meinung anderen gegenüber nicht zur Geltung bringen will, obwohl man überzeugt sein mag, dass man im Recht ist.

Hiermit steht eine andere Frage in Verbindung, dass nämlich die Handlung der einen Versammlung für die Andere bindend ist. Unabhängige Versammlungen erkenne ich nicht an, weil die Schrift es nicht tut. Da ist nur ein Leib, der Leib Christi, und alle Christen sind Glieder desselben; und die Versammlung Gottes an einem Ort repräsentiert die ganze Versammlung und handelt in ihrem Namen. Daher werden im ersten Briefe an die Korinther, wo dieser Gegenstand behandelt wird, in der Anrede an die Versammlung zu Korinth alle Christen miteingeschlossen; die Versammlung, als solche, aber wird als der Leib behandelt und örtlich verantwortlich gemacht, die Reinheit der Versammlung aufrecht zu halten; der Herr Jesus wird als in ihr gegenwärtig betrachtet, und was getan wurde, geschah in dem Namen des Herrn Jesus Christus. Dies wird völlig außer Acht gelassen, wenn man, wie es oft geschieht, im Blick auf eine Versammlung, von sechs oder sieben fähigen, einsichtsvollen und von einer Anzahl unwissender Christen spricht. Man setzt die Gegenwart des Herrn in der Mitte einer Versammlung bei Seite. Das Fleisch, sagt man, ist oft wirksam in der Versammlung; aber warum setzt man voraus, dass es in einer Versammlung wirkt, und vergisst, dass es in einer einzelnen Person wirken kann?

Und ferner, wenn der Herr in der Versammlung ist, warum redet man davon, dass man zuerst dem Herrn und dann der Versammlung gehorchen müsse? Dies ist nichts anders, als das Aufstellen eines persönlichen Urteils gegenüber dem Urteil einer Versammlung, die in dem Namen Christi mit seiner Verheißung zusammenkommt (wenn sie nicht in dieser Weise zusammenkommt, so habe ich nichts mit ihr Zutun); ich sage dadurch einfach, dass ich mich für weiser halte, als diejenigen, die so versammelt sind. Ich verwerfe es durchaus als schriftwidrig, wenn man sagt: „Zuerst Christus und dann die Versammlung.“ Wenn Christus nicht in der Versammlung ist, so erkenne ich sie gar nicht an. Jener Ausspruch setzt voraus, dass die Versammlung Christus nicht hat, indem er aus Christus und der Versammlung zwei Parteien macht. Ich kann einer Versammlung gegenüber meine Meinung äußeren und ihr behilflich sein, weil ich ein Glied Christi bin und daher, wenn es anders eine Versammlung ist, zu ihr gehöre. Aber wenn ich sie als eine Versammlung Gottes anerkenne, so kann ich nicht annehmen, dass Christus nicht in ihr ist. Ich leugne dadurch einfach, dass sie eine Versammlung Gottes ist. Vielfach fehlt das Verständnis über den wahren Charakter der Versammlung Gottes. Dies kann uns nicht wundern; allein es verfälscht notwendig das Urteil über den in Frage stehenden Punkt; man fragt alsdann nicht, ob ein Wort der Schrift dafür vorliege, sondern sagt einfach: „Ich sehe das Wort dafür nicht ein.“ Man traut somit dem eigenen Urteil mehr zu, als demjenigen der Anderen und der Versammlung Gottes. Es ist eine andere Sache, wenn Lästerungen gegen Christus in Frage stehen. Es wäre wirklich Bosheit, eine solche Frage auch nur für einen Augenblick auf den oben beschriebenen Boden zu stellen. Jeden Versuch, solche Lästerungen durch kirchliche Fragen oder durch Berufung auf das persönliche Gewissen zuzudecken, verabscheue ich mit völligem Abscheu.

Der Leser erlaube mir, über Fragen von geringerer Wichtigkeit noch ein Wort zu sagen. Angenommen, ich gehöre zu einer Versammlung, welche nach meiner Meinung irgendeine Sache in verkehrter Weise beurteilt. Soll ich nun meine persönliche Meinung ihr aufdrängen? Wenn nicht, was habe ich zu tun? Soll ich die Versammlung Gottes verlassen, wenn es eine solche ist (wenn nicht, so gehe ich nicht hin)? Wenn ich nicht in einer Versammlung bleiben will, weil sie mit mir nicht in allen Punkten übereinstimmt, so kann ich zu keiner Versammlung Gottes in dieser Welt gehören. Alles dieses ist einfach eine Leugnung der Gegenwart und Hilfe des Geistes Gottes und der Treue Christi gegen sein Volk. Ich kann keine göttliche Demut darin entdecken.

Wenn eine Versammlung als solche in einem Fall der Zucht geurteilt hat, nachdem alle brüderliche Mitteilungen und Vorstellungen angehört worden sind, so sage ich mit Bestimmtheit, dass eine andere Versammlung im Blick hierauf ihre Handlung annehmen sollte. Wenn der Böse in Korinth hinausgetan war, sollte Ephesus ihn aufnehmen? Wo war dann die Einheit, wo der Herr inmitten der Versammlung? Was mich aus den: System hinausgeführt hat, war die Einheit des Leibes; wo diese nicht anerkannt, und wo nicht auf Grund derselben gehandelt wird, dahin werde ich nicht gehen. Unabhängige Versammlungen halte ich für ebenso verkehrt oder noch verkehrter, als die Nationalkirche. Und jede Versammlung, die unabhängig von der Anderen handelt und in einer von ihr unabhängigen Weise Personen aufnimmt, hat jene Einheit verworfen und ist eine unabhängige Versammlung. Die praktische Einheit des Leibes ist verschwunden.

Niemand aber wird mich je zu einer solchen Bosheit verleiten können, die Aufnahme von Lästerern als eine kirchliche Frage zu behandeln. Wenn jemand mit solchen zu wandeln wünscht, oder ihre Duldung am Tisch des Herrn unterstützt, so werde ich keine Gemeinschaft mit ihm machen. Es ist meine bestimmte Überzeugung, dass die von solchen Leuten verteidigten Grundsätze einen Mangel an persönlicher Demut verraten und das wahre Wesen der Versammlung Gottes Zerstören. Doch ich will die beiden Fragen nicht mit einander vermischen. Ich gebe nicht zu, dass man mir meine geistliche Freiheit nehme. Wir sind eine Herde, nicht ein umzäunter Hof (vgl. Joh 10). Aber in Fragen der Zucht, wo kein Grundsatz der Wahrheit verleugnet wird, stelle ich nicht mein Urteil demjenigen der Versammlungen Gottes in den Dingen, die ihrer Sorge von Gott anvertraut sind, gegenüber. Wenn ich es tue, so stelle ich mich dadurch selbst als weiser hin und beachte nicht das Wort Gottes, welches der Versammlung gewisse Pflichten auferlegt hat – einer Versammlung, die Er an ihrem Platz ehren wird.

Ich füge hinzu, dass es vor allem wichtig ist, in dem, was wir erkannt haben, zu gehorchen. Über die möglichen Forderungen nachzusinnen, die im Gehorsam an uns gestellt werden können, da, wo wir lieber frei wären, unseren eigenen Weg zu gehen, ist eine zweite Sache. „Dem, der da hat, wird mehr gegeben werden.“ Das, was wir erkennen, im Gehorsam zu tun, ist der beste Weg, um Fortschritt in der Erkenntnis zu machen.

Weiter wird gesagt, „dass die Anerkennung Christi als Herr das Band der Einheit zwischen den Versammlungen bilde.“ Allein die Schrift redet, wenn es sich um Einheit handelt, kein Wort über Versammlungen, noch über ein Band zwischen den Versammlungen, noch besteht endlich die Einheit aus einer Vereinigung von Versammlungen. Herrschaft ist durchaus persönlich, und es ist schriftwidrig, von einem Herrn des Leibes zu reden. Christus ist Herr über einzelne Personen; Er ist Haupt des Leibes, Haupt über alle Dinge. Einheit besteht nicht durch Herrschaft. Sicher wird der persönliche Gehorsam, gleich jeder wahren Gottseligkeit, zur Bewahrung der Einheit beitragen; aber die Einheit ist eine Einheit des Geistes, und zwar in dem Leib, nicht in Leibern. Sowohl der Brief an die Epheser, als diejenigen an die Korinther geben uns bestimmte Belehrung darüber, dass die Einheit in dem Geist und durch denselben ist, und dass Christus in dieser Beziehung den Platz des Hauptes, nicht den des Herrn hat; der letztere Titel bezieht sich auf Christen persönlich. Der Irrtum, von dem ich eben gesprochen, würde, wenn man ihn praktisch ausführte, die ganze Stellung der Versammlungen verfälschen, bloße Dissidenten aus ihnen machen und in keiner Weise den Gedanken Christi entsprechen.

2.: Autorität mit Unfehlbarkeit zu vermengen, ist eine armselige und leicht zu durchschauende Sophisterei. In hundert Fällen kann man verpflichtet sein, zu gehorchen, wo von Unfehlbarkeit keine Rede ist. Wäre es nicht so, so könnte es in der Welt überhaupt keine Ordnung mehr geben. Unfehlbarkeit ist nicht in ihr vorhanden, wohl aber ein gutes Teil Eigenwillen; und wenn da, wo es keine Unfehlbarkeit gibt, auch kein Gehorsam, keine Ergebung in das, was von anderer Seite entschieden ist, mehr bestehen soll, so ist jede Schranke für den Eigenwillen beseitigt, und das Bestehen jeder öffentlichen Ordnung unmöglich gemacht. Es handelt sich darum, ob man zu etwas befugt, nicht ob man unfehlbar ist. Ein Vater ist nicht unfehlbar, aber er besitzt eine ihm von Gott gegebene Autorität, und es ist Pflicht, sich derselben zu unterwerfen. Ein Polizeibeamter ist nicht unfehlbar, aber er hat die Befugnis, in den Fällen Autorität auszuüben, welche seiner Gerichtsbarkeit unterworfen sind. Es mag Mittel gegen den Missbrauch der Autorität geben, oder in gewissen Fällen auch eine Verweigerung des Gehorsams am Platz sein, wenn eine höhere Autorität uns dazu zwingt, wie z. B. ein Gewissen, das durch Gottes Wort geleitet wird. „Wir sollen Gott mehr gehorchen, als den Menschen.“ Aber niemals wird in der Schrift dem menschlichen Willen als solchem Freiheit gegeben. Wir sind geheiligt zu dem Gehorsam Christi. Und dieser Grundsatz – unsere Erfüllung des Willens Gottes in einfältigem Gehorsam, ohne dass wir jede Frage, die erhoben werden könnte, zu losen suchen – ist ein Pfad des Friedens, welchen viele derer, die sich für weise halten, verfehlen, weil es der Pfad der Weisheit Gottes ist.

Das Hineinbringen der Unfehlbarkeitsfrage ist daher eine bloße Sophisterei, welche den Wunsch verrät, einen freien Willen zu haben, sowie das Vertrauen, dass das persönliche Urteil über allem steht, was bereits entschieden ist. Es gibt eine richterliche Autorität in der Kirche Gottes, und wenn dies nicht der Fall wäre, so würde sie die schrecklichste Ungerechtigkeit auf Erden sein, weil jede Ungerechtigkeit durch den Namen Christi geheiligt werden würde. Und dies ist es, was von jenen, welche die hier behandelten Fragen angeregt haben, gesucht und verteidigt wird: dass nämlich, welche Ungerechtigkeit oder welcher Sauerteig auch in einer Versammlung geduldet werden möge, die Versammlung selbst nicht davon durchsäuert werden könne. Solche Behauptungen haben in gewissem Sinn auch Gutes gewirkt, indem jede aufrichtige Seele und ein jeder, der nicht das Böse zu rechtfertigen sucht, sie von Herzen verabscheut und verwirft.

Die Versammlung Gottes übt ihre richterliche Autorität aus Gehorsam gegen das Wort aus: „Ihr, richtet ihr nicht, die drinnen sind? Die aber draußen sind, wird Gott richten; tut den Bösen von euch selbst hinaus.“ Und ich wiederhole noch einmal: wenn die Versammlung diese Autorität nicht ausübt, so wird sie gleichsam zur Beglaubigerin jeder Art von Sünde und Schlechtigkeit, und ich versichere in der bestimmtesten Weise, dass, wo dieselbe ausgeübt wird, andere Christen verpflichtet sind, sie zu achten. Für die Tätigkeit des Fleisches in der Versammlung sind Heilmittel vorhanden in der Gegenwart des Geistes Gottes unter den Gläubigen und in der unumschränkten Autorität des Herrn Jesus Christus; aber diese Heilmittel finden sich sicher nicht in der traurigen und ganz schriftwidrigen Anmaßung derer, welche einem jeden, der es sich in den Kopf setzt, für sich selbst, unabhängig von dem, was Gott festgestellt hat, zu urteilen, dazu die Befugnis zuerkennen. Dies ist, von dem günstigsten Gesichtspunkt aus betrachtet, nicht so sehr persönliche Anmaßung, obwohl dies sein wahrer Charakter ist, der Charakter des seit den Tagen Cromwells so wohl bekannten und schriftwidrigen Systems des Independentismus, nach welchem jede christliche Gemeinde, als eine freiwillige Vereinigung, von der Anderen unabhängig ist. Vielmehr wird hierdurch die Einheit des Leibes, sowie die Gegenwart und Tätigkeit des Heiligen Geistes in demselben direkt geleugnet.

Nehmen wir an, wir bildeten eine Körperschaft von Freimaurern, und ein Mitglied wäre nach den Ordensregeln von einer Lage ausgeschlossen. Einige Logen glaubten nun, es wäre dem Betreffenden Unrecht geschehen, aber anstatt von der ersten Lage zu erwarten, dass sie den Fall noch einmal untersuche, würden sie den Ausgeschlossenen auf ihre eigene unabhängige Autorität hin aufnehmen oder abweisen – wo wäre dann die Einheit des Freimaurersystems? Sie hätte offenbar aufgehört zu bestehen. Eine jede Lage wäre ein unabhängiger, für sich selbst handelnder Körper. Es wäre nutzlos zu behaupten, dass ein Unrecht geschehen und die Lage nicht unfehlbar sei. Die Befugnis der Logen, Autorität auszuüben, und die Einheit des Ganzen wären dahin. Das System wäre aufgelöst. Es mag für derartige Schwierigkeiten Vorsorge getroffen sein, und dies ist ganz gut, wenn es notwendig ist. Aber das, was die unzufriedenen Logen tun, ist nichts anders, als eine Anmaßung des Vorrangs über die erste Lage und muss unfehlbar die Auflösung des Freimaurerordens herbeiführen.

Ich verwerfe in der bestimmtesten Weise die vorgebliche Befugnis einer einzelnen Kirche oder Versammlung, eine andere zu richten. Es ist dies eine schriftwidrige Leugnung der ganzen Art und Weise, wie die Versammlung Gottes zusammengefügt ist. Es ist Unabhängigkeit – ein System, das ich schon vor vierzig Jahren gekannt habe und dem ich mich niemals anschließen würde. Wenn jemand dieses System liebt, so muss er sich ihm eben anschließen; es ist vergebliche Mühe, zu behaupten, dass es nicht Unabhängigkeit sei. Unabhängigkeit ist einfach ein System, in welchem jede Kirche für sich selbst, unabhängig von der Anderen, urteilt, und das ist alles, was man fordert. Ich streite nicht mit denen, welche dieses System vorziehen, indem sie selbständig zu urteilen lieben; nur bin ich völlig überzeugt, dass es in jeder Hinsicht durchaus schriftwidrig ist. Die Kirche ist kein willkürliches System; sie ist nicht gebildet aus einer Anzahl unabhängiger Körperschaften, welche jede für sich selbst handelt. Man hat nie daran gedacht, was man auch als Heilmittel betrachten mochte, dass Antiochien Heiden zulassen und Jerusalem sie zurückweisen, und doch alles vorangehen konnte nach der Ordnung der Versammlung Gottes. Es findet sich in dem Wort keine Spur von solcher Unabhängigkeit und Unordnung. Dasselbe lehrt vielmehr und enthält alle möglichen tatsächlichen Beweise dafür, dass es nur einen Leib auf der Erde gab, dessen Grundlage der Segnung jene Einheit bildete, deren Bewahrung die Pflicht eines jeden Christen war. Der Eigenwille mag wünschen, dass es sich anders verhalten möchte, aber sicherlich nicht die Gnade, noch auch der Gehorsam gegen das Wort.

Es mögen sich Schwierigkeiten erheben, die nicht, von einem apostolischen Mittelpunkt, wie er sich in jenen Tagen zu Jerusalem befand, geordnet werden können. Wir haben einen solchen Mittelpunkt nicht mehr: aber unsere Zuflucht ist die Wirksamkeit des Geistes in der Einheit des Leibes, die Tätigkeit der heilenden Gnade und hilfreicher Gaben, sowie die Treue eines gnädigen Herrn, welcher verheißen hat, uns nie zu verlassen noch zu versäumen. Was in Jerusalem geschah nach dem 15. Kapitel der Apostelgeschichte, ist ein Beweis, dass die schriftgemäße Versammlung nie an eine unabhängige Handlungsweise, worauf man jetzt besteht, gedacht oder eine solche angenommen hat. Die Tätigkeit des Heiligen Geistes entfaltete sich in der Einheit des Leibes, und so ist es immer. Die Handlungsweise, wie sie durch den Apostel in Korinth vorgeschrieben wurde, (und dieselbe ist als Gottes Wort bindend für uns) betraf die ganze Versammlung Gottes, und deshalb wendet sich der Apostel in seiner Anrede an alle Christen. Könnte wohl jemand behaupten, dass jede Versammlung noch einmal für sich selbst zu urteilen hatte, ob der Mann, welcher in Korinth richterlicher Weise hinausgetan war, aufgenommen werden dürfe, und dass jene richterliche Handlung für nichts gegolten habe, oder doch nur für Korinth wirksam gewesen sei, und dass Ephesus oder Kenchreä nachher nach Belieben habe handeln können? Welchen Zweck hatte dann die ernste Handlung und Anweisung des Apostels gehabt? Nun, jene Autorität und jene Anweisung ist auch heute noch für uns das Wort Gottes.

Ich weiß wohl, dass man sagen wird: „Sie haben Recht; aber Sie können dieses Wort nicht richtig befolgen, da das Fleisch wirksam sein kann.“ Allerdings ist die Möglichkeit vorhanden, dass das Fleisch sich wirksam erweist; aber ich bin völlig überzeugt, dass das, was die Einheit der Versammlung leugnet, was sich eigenmächtig erhebt und dieselbe in unabhängige Körperschaften zersplittert, dass dies die Auflösung der Kirche Gottes bedeutet, schriftwidrig und nichts als Fleisch ist. Dasselbe ist deshalb, was mich betrifft, verurteilt, bevor ich einen Schritt weiter gehe. Ohne Zweifel kann das Fleisch wirksam sein, aber für demütige Seelen gibt es, wie ich bereits gesagt habe, ein Heilmittel, ein gesegnetes, köstliches Heilmittel, in der Hilfe des Geistes Gottes, in der Einheit des Leibes und in der Liebe und Sorge des treuen Herrn, nicht aber in den: anmaßungsvollen Willen, der sich eigenmächtig erhebt und die Versammlung Gottes leugnet. Meine Antwort ist daher, dass der Einwurf jener eine Sophisterei ist, indem sie Unfehlbarkeit mit einer göttlich angeordneten Autorität verwechseln – einer Autorität, welche von demütigen Herzen, in denen die Gnade wohnt, anerkannt wird. Das System, welches man erstrebt, ist der anmaßende Geist der Unabhängigkeit, eine Verwerfung der ganzen Autorität der Schrift in ihrer Belehrung über die Versammlung; es stellt mit einem Wort den Menschen an den Platz Gottes.

Wenn zwei oder drei mit einander versammelt sind, so bilden sie offenbar eine Versammlung und, wenn dem Wort gemäß versammelt, eine Versammlung Gottes; wenn sie aber keine Versammlung Gottes sind, was sind sie dann? Sind sie die einzige Versammlung an einem Ort, so bilden sie die Versammlung Gottes an diesem Arte, wiewohl ich in praktischer Beziehung dagegen bin, diesen Titel anzunehmen, weil die Versammlung Gottes an einem Ort eigentlich alle dort wohnenden Gläubigen umfasst; und es ist Gefahr vorhanden, dass man diesen Namen annimmt, indem man den allgemeinen Verfall der Kirche aus dem Auge verliert und sich anmaßt, etwas zu sein. Indessen ist es in dem gesetzten Fall nicht falsch. Wenn irgendwo eine solche Versammlung besteht, und es wird, unabhängig von derselben, eine Zweite durch den Willen des Menschen aufgerichtet, so ist nur die Erste moralisch, in Gottes Augen, die Versammlung Gottes. Die Zweite ist es durchaus nicht, weil sie in Unabhängigkeit von der Einheit des Leibes aufgerichtet ist. Ich verwerfe völlig und ohne Zögern das ganze independentistische System als schriftwidrig und als ein wirkliches Übel. Nachdem die Einheit des Leibes wieder dargestellt und die schriftgemäße Wahrheit derselben bekannt ist, ist jenes System einfach ein Wert des Feindes. Unkenntnis der Wahrheit ist unser gemeinsames Los in vielen Beziehungen; aber Widerstand gegen dieselbe ist etwas ganz anderes. Ich weiß, dass behauptet wird, die Kirche sei jetzt so sehr im Verfall, dass eine schriftgemäße Ordnung, der Einheit des Leibes gemäß, nicht aufrechterhalten werden könne. Ein jeder, der so spricht, muss, wenn er anders ehrlich ist, bekennen, dass er eine schriftwidrige Ordnung, oder besser Unordnung, sucht. In Wahrheit ist es in diesem Fall durchaus unmöglich, zum Brotbrechen zusammen zu kommen, es sei denn in Auflehnung gegen das Wort Gottes; denn die Schrift sagt: „Ein Brot, ein Leib sind wir, die vielen, denn wir alle sind des einen Brotes teilhaftig.“ Wir bekennen, ein Leib zu sein, so oft wir Brot brechen, die Schrift weiß von nichts anderem; und man wird finden, dass die Schrift ein zu starkes und vollkommenes Band ist, als dass menschliche Vernünfteleien es zerreißen könnten. J. N. D.

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