Botschafter des Heils in Christo 1872

Die abgewiesene Versuchung

In 1. Mose 14 wird uns am Schluss ein treffender Vorfall aus dem Leben Abrahams mitgeteilt – ein Vorfall, der uns die treue Fürsorge Gottes betreffs der Seinen ebenso deutlich als herrlich vor Augen stellt. Abraham hatte einen großen Sieg davongetragen. Mit einem kleinen Heer hatte er fünf kanaanitische Könige überwunden. Es war ihm geglückt, Lot und dessen Hausgesinde aus der Hand dieser Könige zu befreien. Im Triumph kehrte er mit einer großen Zahl von Gefangenen und mit beträchtlicher Beute aus dem Kampf zurück. Der König von Sodom, dessen Volk ebenfalls befreit worden war, kam ihm voll Dankbarkeit und Freude entgegen. Sicher, das war ein glücklicher Tag in dem Leben Abrahams. Der Herr hatte ihm geholfen; der Herr hatte die Feinde in seine Hand gegeben; und das Herz des Patriarchen hatte allen Grund, sich zu freuen.

In solchen Umständen vergisst die Seele oft so leicht ihre Abhängigkeit von Gott. In der Freude der Befreiung und des davon getragenen Sieges beachtet man oft so wenig die eigene Schwachheit und die Notwendigkeit einer fortdauernden Bewahrung Gottes. Man räumt zwar diese Notwendigkeit ein; aber man vergisst sie, weil man zu sehr von dem Sieg erfüllt ist, den man über den Feind errungen hat. Und der Teufel, der dieses sehr gut weiß, bedient sich gerade solcher Umstände und solcher Gemütsstimmungen, um mit seinen Versuchungen die Seele zu überfallen.

Wir sehen dieses bei Abraham. Kaum ist der eine Kampf vorüber, so steht schon der andere vor der Tür. Zwar bestand zwischen beiden ein großer Unterschied; aber beide kamen vom Teufel; und sicher war unter diesen Umständen der zweite Kampf gefährlicher, als der erste. Nachdem Abraham den Sieg über die fünf Könige davongetragen hatte, näherte sich der König von Sodom, um ihm die Beute anzubieten. Der Teufel dachte: „Kann ich dich auf dem einen Wege nicht überwinden, so werde ich dich auf dem zweiten zu Boden werfen.“ Und in der Tat, der Faden dieser Versuchung war sein gesponnen. Wem gehörte die Beute von Rechtswegen? Natürlich dem Überwinder. Und es würde daher nach menschlichem Urteil ganz in der Ordnung gewesen sein, dass Abraham die Beute für sich genommen hätte. Doch die Gedanken Gottes unterscheiden sich von den Gedanken des Menschen. Nicht von Sodom aus durften unserem Abraham seine Reichtümer zuströmen, sondern von dem Herrn, seinem Gott. Die Schätze Sodoms waren für ihn unrein; und mochte auch Lot in Sodom wohnen, so wollte Abraham sich doch ferne halten von der gottlosen Stadt und von allem, was ihr angehörte. Um dieses indessen in einem solchen Augenblicke zu erkennen, dazu war Gnade und göttliches Licht nötig. Doch Abraham wandelte mit dem Herrn; und darum ließ ihn auch der Herr nicht des Lichts ermangeln, sondern stärkte ihn in der Versuchung, die über ihn hereinbrach.

Melchisedek, ein Priester des allerhöchsten, kam Abraham entgegen, brachte Brot und Wein und segnete Abraham, indem er sagte: „Gesegnet sei Abraham von Gott, dem Höchsten, der Himmel und Erde besitzt!“ Es war der Herr, der den Melchisedek sandte, um den Patriarchen mit diesen herrlichen Worten anzureden. Bis zu diesem Augenblick kannte Abraham den Herrn als den Allmächtigen; aber als der Höchste, der Himmel und Erde besitzt, war Er ihm noch nicht offenbart worden. Aber hier offenbart sich Gott seinem Knecht in dieser Weise, um ihn zu stärken gegen die Versuchung, die über ihn kommen sollte. Der Höchste, der Himmel und Erde besitzt, konnte sicher den Patriarchen reich machen, ohne der Schätze Sodoms zu bedürfen. Und Abraham verstand die Stimme des Herrn. Denn als der König von Sodom etliche Augenblicke später sich näherte, um ihm die Beute anzubieten, antwortete er: „Ich hebe meine Hand auf zu Jehova, dem höchsten Gott, der Himmel und Erde besitzt: Wenn ich vom Faden bis zum Schuhriemen, ja, wenn ich von allem, was dein ist, etwas nehme ...! auf dass du nicht sagst: Ich habe Abraham reich gemacht.“ – Wie beachtenswert ist dieses! Melchisedek hatte ihn hingewiesen zu dem Höchsten, der Himmel und Erde besitzt; und Abraham verstand so gut die Absicht des Herrn, dass er, als die Versuchung des Königs von Sodom kam, augenblicklich Gebrauch machte von der ihm gegebenen Unterweisung und im Vertrauen des Glaubens das verführerische Angebot ausschlug. „Ich hebe meine Hände auf zu Jehova, dem Höchsten, der Himmel und Erde besitzt; und darum habe ich von dir, du König von Sodom, nichts nötig; ich will nicht durch dich, sondern durch diesen Gott reich gemacht werden. Er besitzt alles; Er hat alles unter seiner Verwaltung; und darum erwarte ich von Ihm, und nur von Ihm jegliche Art von Segnung.“ – Beschämt musste der Teufel weichen. Der Überwinder von fünf Königen hatte auch hier den Sieg davongetragen. Der Herr war seinem Knecht entgegengekommen und hatte sich ihm in einer Weise offenbart, die Abraham fähig machte, der Versuchung zu widerstehen.

Und also handelt der Herr noch immer. Er ist und bleibt treu bis in alle Ewigkeit. Er weiß, was wir bedürfen. Er kennt unseren Kampf und unsere Versuchungen. Wie zu Abraham, so kommt Er auch zu uns, um uns zu stärken. Möchten wir doch allezeit seine Stimme verstehen, sicher dann würden mir nicht so oft straucheln und den Versuchungen unterliegen! Wir denken oft, dass uns dieses oder jenes der Herr zugeschickt habe, während vielleicht der Teufel der eigentliche Absender ist. Die Umstände sind nicht immer der richtige Maßstab. Dieses sehen wir bei Abraham. Die Beute kam ihm von Rechtswegen zu; und die Dankbarkeit des Königs von Sodom bot sie ihm an. Dennoch verweigerte er die Annahme, weil er nicht auf die Umstände, sondern auf den Herrn sah und seine Hand zu dem Höchsten erhob. O möchten wir doch mehr mit dem Herrn in Gemeinschaft wandeln und uns an den Klang seiner Stimme gewöhnen, – sicher, dann werden wir auch den Willen Gottes zu unterscheiden vermögen und uns nicht durch den Teufel fangen lassen. Wenn unser Auge einfältig ist, dann wird unser ganzer Leib Licht sein. Der Herr gebe uns dieses recht zu verstehen!

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