Das Reich Gottes und das Reich der Himmel

Kapitel 5

Kapitel 5: Die zurückliegende Phase des Reiches (Einleitung)

Wie bereits bemerkt handelt es sich immer um ein und dasselbe Reich. Das gilt sowohl für seine fundamentalen Grundsätze wie auch für seine Beschaffenheit. Wir begegnen jedoch in verschiedenen Zeitperioden unterschiedlichen Darstellungen und Entfaltungen des Reiches. Beispielsweise gibt es eine zurückliegende Präsentation des Reiches, genauso wie es eine Darstellung in der heutigen Zeit gibt. Weiter wird es sich in der Zukunft wiederum anders darstellen als anschließend im tausendjährigen Reich (siehe Schaubild).

Diese Abschnitte können wir passenderweise „die drei Phasen des Königreichs“ nennen. Sie erhalten ihren Charakter durch die verschiedenartigen dispensationalen Zustände und Verhältnisse, die das Reich begleiten und umgeben. Es ist nicht unbedeutend zu sehen, dass es deutliche Unterschiede in Bezug auf die Charakterzüge zwischen den einzelnen Phasen oder Haushaltungen gibt. Das ist deshalb so wichtig, weil die meisten Fehler in Verbindung mit unserem Thema daraus resultieren, dass man diese Zeitperioden durcheinander gebracht und verwechselt hat, als ob es nur einen geringen oder gar keinen Unterschied zwischen ihnen gäbe.

Wir werden diese Phasen deshalb jetzt betrachten – zuerst die zurückliegende, dann die heutige und abschließend die zukünftige Phase. Außerdem möchten wir die grundlegenden Stellen anschauen, die mit jeder einzelnen Kategorie verbunden ist. Der leitende Grundsatz lautet auch hier, dass wir das Wort der Wahrheit recht teilen wollen. (Das vollständige Stellenverzeichnis befindet sich in Kapitel 1)

Die zeitlich zurückliegende Phase, P. 1, beinhaltete im Wesentlichen die vorbereitende Ansage des Reiches und geschah durch den Dienst Johannes' des Täufers und unseres Herrn, die den Juden Buße und Errettung angesichts des kommenden Reichs predigten. Diese Verkündigung wurde deshalb das „Evangelium des Reiches“ genannt, weil die Errichtung des Königreichs als unmittelbar bevorstehend angesehen wurde – die Annahme des Christus als ihren König vorausgesetzt.

Als der von Gott berufene Botschafter rief Johannes zur Buße und Änderung ihrer Lebensführung auf, um für die Ankunft ihres Königs gerüstet zu sein, der in ihrer Mitte auftreten sollte. Und tatsächlich stellte er sich den Juden einige Zeit später als ihr Messias-König vor, als er die Prophezeiung von Sacharja 9,9 erfüllte. „Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig und auf einer Eselin reitend“ (Mt 21,5). Es war angebracht, dass Johannes verkündete, dass das Reich nahe gekommen war, weil die bevorstehende Gegenwart des Königs die Aufrichtung seines Königtums andeutete.

Mit der Predigt Johannes des Täufers begann ein neuer Abschnitt. Durch seinen Dienst und den Dienst unseres Herrn wurde eine neue und andersartige Haushaltung begründet (obwohl sie nur von kurzer Dauer war), die sich von allen vorangehenden unterschied, ebenso wie von der christlichen bzw. kirchlichen Zeitepoche, die nach dem Pfingsttag folgen sollte. „Das Gesetz und die Propheten waren bis auf Johannes; von da an wird das Evangelium des Reiches Gottes verkündigt, und jeder dringt mit Gewalt hinein“ (Lk 16,16; Mt 11,12.13).

Das es sich dabei um eine eigene Haushaltung handelt, die sich von jeder anderen unterschied, wird deutlich, wenn wird die Schriftstellen sorgfältig studieren, die von dem Dienst Johannes' und unseres Herrn sprechen, weil wir in ihnen besondere Kennzeichen erkennen können, die diese Zeit von den übrigen abhebt. Im Weiteren möchte ich darauf etwas näher eingehen:

  1. Sie wird durch die tatsächliche Gegenwart des Königs gekennzeichnet – obwohl dessen Herrschaftsanspruch noch keine Anerkennung findet. Er stellt sich Israel in besonderer Weise vor, wird aber von ihnen verworfen.
  2. Während der König also gegenwärtig ist, richtet der Herr in seinen Belehrungen die Aufmerksamkeit auf die Errichtung der messianischen Herrschaft auf dieser Erde, die außerdem als „nahe gekommen“ vorgestellt wird. Darin liegt der Leitgedanke und Schwerpunkt der Predigt zu dieser Zeit.
  3. Das Evangelium des Reiches ist zu diesem Zeitpunkt eingeschränkt und wird deswegen von unserem Herrn und seinen Jünger nur an die Juden gerichtet. Sein Charakter ist ausschließlich jüdisch. „Geht nicht auf einen Weg der Nationen, und geht nicht in eine Stadt der Samariter; geht aber vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 10,5.6).

Als nach der Auferstehung Christi ein weiterer großer Wechsel stattfinden sollte und eine neue Haushaltung im Begriff stand eingeführt zu werden, hieß der Auftrag an die Jünger in die ganze Welt zu gehen und das Evangelium der ganzen Schöpfung zu predigen (Mk 16,15). Allein diese Tatsache zeigt eine sehr klare Trennungslinie zwischen der zurückliegenden und der heutigen Phase des Reiches auf.

Der Herr sprach mit seinen Jüngern oft über das kommende Königreich, in dem sie an seinem Tisch essen und trinken würden und auf Thronen sitzen sollten, um die zwölf Stämme Israels zu richten (Mt 19,28). Wir wundern uns also nicht über die Frage der Jünger, ob der Herr in dieser Zeit für Israel das Reich wieder herstellen würde (Apg 1,6), weil sie offensichtlich noch unter dem Eindruck standen, dass es in ihren Tagen kommen sollte. „Wir aber hofften, dass er der sei, der Israel erlösen solle“ (Lk 24,21). Darüber hinaus war ihnen der großartige Moment auf dem Berg der Verklärung gewährt worden, wo sie einen Eindruck der kommenden Herrlichkeit seiner tausendjährigen Herrschaft empfangen konnten. Demgegenüber handelten seine bemerkenswerten prophetischen Reden in Matthäus 24, Markus 13 und Lukas 21 von Ereignissen, welche dem herrlichen Tag seines Triumphes und seiner Regierung einführend vorausgehen sollten.

Infolgedessen war die Aufrichtung des messianischen Königreichs der damals vorherrschende und alles überragende Gedanke unter den frommen Juden, die auf den „Trost Israels“ warteten. Es war ein charakteristisches Kennzeichen dieser Zeit. Wenn wir das im Auge behalten, können wir erkennen, warum das Evangelium, das damals durch unseren Herrn verkündigt wurde, die Bezeichnung „das Evangelium des Reiches“ trägt 1.

Dem Ausdruck „Evangelium des Reiches“ begegnen wir in der Schrift nur vier Mal. Drei Mal an den bereits erwähnten Stellen in Matthäus 4,23; 9,35 und Markus 1,14, die sich auf den persönlichen Dienst des Herrn beziehen („Und Jesus zog umher … und predigte das Evangelium des Reiches“) und einmal in Matthäus 24,14: „Und dieses Evangelium des Reiches wird auf dem ganzen Erdkreis gepredigt werden, allen Nationen zum Zeugnis, und dann wird das Ende kommen“.

Es ist wichtig zu beachten, dass die vierte Erwähnung dieses Begriffs in die große prophetische Rede unseren Herrn in Matthäus 24 fällt und uns damit ein Verbindungsglied zwischen der Predigt Christi und seiner Apostel, und der Predigt des göttlichen Überrests gibt, die noch zukünftig ist und während der Drangsalszeit stattfinden wird. Die Schlussfolgerung, die sich aus dieser erstaunlichen Übereinstimmung ergibt, ist die, dass das Evangelium, welches den Juden am Ende der Zeiten (Mt 24) verkündet werden wird, dasselbe ist wie das, was durch den Herrn und seinen Apostel 2000 Jahre vorher gepredigt wurde. Es sind genau dieselben Worte – „Evangelium des Reiches“ – die für beide Verkündigungen benutzt wird, wogegen dieser Wortlaut in keinem anderen Zusammenhang vorkommt.

Anders ausgedrückt sollten beide als ausdrücklich jüdisch betrachtet werden, während der Schwerpunkt bei beiden darauf liegt, dass das Reich „nahe gekommen“ ist, weil die Aufrichtung des Königreichs Christi auf der Erde damals genauso wie in der Zukunft eine unmittelbar bevorstehende Tatsache ist und in der Verkündigung einen entsprechenden Platz einnimmt.

Vielleicht ist es noch besser, wenn wir sagen, dass die Verkündigung (die durch Christus und seine Jünger begann, als sie sein Reich als nahe gekommen proklamierten) am Ende der Zeit durch seine jüdischen Brüder einfach fortgesetzt werden muss, ohne dabei die lange Zeitspanne mit einzubeziehen, die zwischen beide Perioden treten sollte. In der Verkündigung unseres Herrn scheint der Zeitfaktor völlig ausgeblendet zu sein und die letzten Tage des kommenden Zeitalters werden mit den letzten Tagen seines Lebens hier auf der Erde, so zusammengebracht, als ob es heute und morgen wäre. Die christliche Haushaltung, die nie Gegenstand der Prophetie war, wird dabei einfach übersprungen.

Wir finden in der Schrift viele Beispiele für diese Betrachtungsweise. Z. B. lesen wir: „Die Zeit ist nahe“ und „Siehe, ich komme bald“; „Das Jahr der Annehmung des HERRN und der Tag der Rache“ (Jes 61,2; Lk 4,18.19). Ein auffallendes Beispiel für diese Art der Belehrung finden wir in Matthäus 10 (eine Stelle, die eine große Bedeutung für unser Thema hat), wo sie unser Herr selbst benutzt.

In diesem Kapitel gibt der Herr seinen zwölf Aposteln Anweisungen und sendet sie aus, um das Evangelium des Reiches ausschließlich den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ zu verkünden, wobei sie sagen sollten, dass das Reich der Himmel nahe gekommen sei (Mt 10,7).

Nachdem sie genaue Anweisungen bezüglich der Art und Weise, wie sie ihren Auftrag ausführen sollten, erhalten haben, sehen wir, wie der Herr seine Belehrungen bis zu dem jüdischen Überrest in den letzten Tagen ausdehnt. Damit verbindet er den Überrest mit den Zwölfen vor ihm als Verkündiger desselben Evangeliums des Reiches ohne die lange Zeitspanne zu erwähnen, die zwischen beiden verstreichen sollte. Er behandelt sie gewissermaßen als eine einzige Gruppe.

Dieser erstaunliche Übergang beginnt ungefähr bei Vers 17 und erstreckt sich bis zum 23. Vers. Die dortigen Aussagen und Anweisungen stimmen im Wesentlichen mit denen in Matthäus 24 und Markus 13, d. h. den prophetischen Belehrungen des Herrn, überein. Durch einen direkten Vergleich dieser beiden Abschnitte können wir uns davon unmittelbar überzeugen:

  1. Das Evangelium Gottes (Röm 1,1; 15,16; etc.): Hier ist es Gott, welcher in Übereinstimmung mit seinen ewigen Ratschlüssen und Absichten voller Liebe der Ursprung des Evangeliums ist und seine Verkündigung bestimmt.
  2. Das Evangelium des Christus (Röm 1,9.16; 1. Kor 9,12.18; etc.): Christus hat die Grundlage gelegt, auf der das Evangelium ruht, indem er das herrliche Erlösungswerk vollbrachte.
  3. Das Evangelium des Friedens und des Heils (Eph 1,13; 6,15; etc.): Es stellt diese Segnungen für alle Glaubenden zur Verfügung.
  4. Das Evangelium der Gnade Gottes (Apg 20,25): Das Evangelium wird nun in gleicher Weise sowohl den Juden als auch den Heiden verkündet, wodurch die freie Gnade Gottes zum Ausdruck kommt, der jetzt Christen aus allen Klassen herausruft. Dabei geht es nicht nur um ihre Errettung, sondern auch um ihre Verbindung mit Christus in den himmlischen Örtern durch den Glauben.
  5. Das Evangelium des Reiches (Mt 4,23; 9,35; Mk 1,14): Dieses Evangelium war dispensational und beschränkt. Es wurde durch Christus und seine Jünger ausschließlich den Juden verkündet. Der Schwerpunkt lag auf dem irdischen Königreich Christi und wurde als „nahe gekommen“ vorgestellt. Nach der Entrückung der Kirche in den Himmel wird es noch einmal durch den göttlichen Überrest aus den Juden während der Drangsalszeit gepredigt werden. Auch dann wird die Betonung auf der unmittelbaren Aussicht auf die Errichtung des Königsreichs Christi auf dieser Erde liegen (Mt 24,14).
  6. Das ewige Evangelium (Off 14,6.7): Wahrscheinlich ist es das gleiche wie das Evangelium des Reiches, das den Nationen während der Drangsalszeit verkündet wird, da es die bevorstehenden Gerichte im Blick hat, die der Aufrichtung des Reiches Christi vorangehen müssen. Diese Schlussfolgerung ergibt sich, wenn wir uns die Worte ansehen, die dann gepredigt werden: „Fürchtet Gott und gebt ihm Ehre, denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen; und betet den an, der den Himmel und die Erde gemacht hat und das Meer und die Wasserquellen“.
Matthäus 10,17–23
Hütet euch aber vor den Menschen; denn sie werden euch an Synedrien überliefern und euch in ihren Synagogen geißeln; aber auch vor Statthalter und Könige werdet ihr geführt werden um meinetwillen, ihnen und den Nationen zum Zeugnis. Wenn sie euch aber überliefern, so seid nicht besorgt, wie oder was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. Denn nicht ihr seid die Redenden, sondern der Geist eures Vaters, der in euch redet. Der Bruder aber wird den Bruder zum Tod überliefern und der Vater das Kind; und Kinder werden sich erheben gegen die Eltern und sie zu Tode bringen. Und ihr werdet von allen gehasst werden um meines Namens willen. Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird errettet werden. Wenn sie euch aber verfolgen in dieser Stadt, so flieht in die andere; denn wahrlich, ich sage euch, ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende sein, bis der Sohn des Menschen gekommen ist.
Matthäus 24,9–14
Dann werden sie euch der Drangsal überliefern und euch töten; und ihr werdet von allen Nationen gehasst werden um meines Namens willen. Und dann werden viele zu Fall kommen und werden einander überliefern und einander hassen; und viele falsche Propheten werden aufstehen und werden viele verführen; und weil die Gesetzlosigkeit überhand nimmt, wird die Liebe der Vielen erkalten. Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird errettet werden. Und dieses Evangelium des Reiches wird auf dem ganzen Erdkreis gepredigt werden, allen Nationen zum Zeugnis, und dann wird das Ende kommen.
Markus 13,9–13
Ihr aber, gebt Acht auf euch selbst: Sie werden euch an Synedrien und an Synagogen überliefern; ihr werdet geschlagen und vor Statthalter und Könige gestellt werden um meinetwillen, ihnen zum Zeugnis; und allen Nationen muss zuvor das Evangelium gepredigt werden. Und wenn sie euch hinführen, um euch zu überliefern, so sorgt euch vorher nicht, was ihr reden sollt, sondern was irgend euch in jener Stunde gegeben wird, das redet. Denn nicht ihr seid die Redenden, sondern der Heilige Geist. Und der Bruder wird den Bruder zum Tod überliefern und der Vater das Kind; und Kinder werden sich erheben gegen die Eltern und sie zu Tode bringen. Und ihr werdet von allen gehasst werden um meines Namens willen. Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird errettet werden.

Ein Vergleich lässt sieben Punkte besonders klar herausstechen, welche die Ähnlichkeiten der Schriftstellen in Bezug auf Zeit und Umstände zeigen:

  1. Die Gläubigen verkündigen das Evangelium des Reiches
  2. Sie werden vor Könige und Statthalter gebracht
  3. Sie werden für ihr Zeugnis verfolgt
  4. Der Heilige Geist hilft ihnen die richtigen Worte in Erwiderung auf ihre Verfolger zu finden
  5. Es gibt Spaltungen und Risse in ihren Familien
  6. Sie werden um Christi willen gehasst
  7. Diejenigen, die bis ans Ende ausharren, werden errettet

Es wird allgemein angenommen, dass sich die oben zitierten Abschnitte aus Matthäus 24 und Markus 13 auf die zukünftige Drangsalszeit beziehen, weshalb die Annahme zwingend erscheint, die Verse aus Matthäus 10 ebenfalls dieser Periode zuzuordnen, weil sie identisch sind. Sämtliche Abschnitte haben gemein, dass sie eine Beschreibung derselben Verfolgungen und Leiden der treuen jüdischen Heiligen wiedergeben, die zur Zeit des Endes auftreten werden (ich gebe dabei zu, dass Matthäus 10 eine vorläufige und symbolische Erfüllung in der Geschichte der Apostel gefunden haben könnte). Deswegen dürfen wir die Schlussfolgerung ziehen, dass unser Herr, als er die zwölf Apostel unterwies (Matthäus 10), am Ende seiner Belehrungen von ihnen auf den Tag zu sprechen kam, der die ganze 2000-jährige Periode überspringt, und der sie mit den jüdischen Brüdern der letzten Zeit verbindet, als ob sie ein und dieselbe Gruppe wären. Beide Gruppen verbindet außerdem die Verbreitung desselben Evangeliums des Reiches als jüdische Botschafter sowie das Erdulden derselben Schwierigkeiten und Verfolgungen, obwohl sie zu unterschiedlichen Zeiten auftreten werden.

Wenn wir zu Matthäus 10, Vers 23 kommen, wird dieser Schluss vollständig und eindrucksvoll unterstrichen: „Wenn sie euch aber verfolgen in dieser Stadt, so flieht in die andere; denn wahrlich, ich sage euch, ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende sein, bis der Sohn des Menschen gekommen ist“.

Wir können die Worte „ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende sein, bis der Sohn des Menschen gekommen ist“ kaum auf die zwölf Apostel beziehen, da sie bereits vor vielen Jahrhunderten heimgegangen sind, obwohl der Sohn des Menschen noch nicht gekommen ist. Wollen wir eine zufrieden stellende Erklärung dieses Abschnitts erhalten, gibt es keine andere Möglichkeit als diese Verse mit Matthäus 24,29.30 und Markus 13,24–26 zu verbinden, wo es heißt: „Sogleich aber nach der Drangsal jener Tage wir die Sonne sich verfinstern … und dann wird das Zeichen des Sohnes des Menschen am Himmel erscheinen“; „Aber in jenen Tagen, nach jener Drangsal, wir die Sonne verfinstert werden … und dann werden sie den Sohn des Menschen kommen sehen in Wolken mit großer Macht und Herrlichkeit“.

Was die Dinge betrifft, die sich am Ende ereignen werden, haben wir also drei Schriftstellen, Matthäus 10 und 24 sowie Markus 13, die bezüglich der kommenden Ereignisse exakt übereinstimmen. Zeitlich fallen diese Geschehnisse auf den Tag der Drangsal, nach welchem der Sohn des Menschen unmittelbar herabkommen wird. Wir müssen nicht ausdrücklich betonen, dass wir diese Dinge aus rein jüdischer Perspektive betrachtet haben.

Es mag von Nutzen sein an dieser Stelle auf Lukas 21 einzugehen, wo wir einen weiteren Bericht der gleichen prophetischen Erklärungen unseres Herrn finden wie im Matthäus- und Markusevangelium. In den Versen 12 bis 19 haben wir einen sehr ähnlichen Wortlaut vor uns, in dem fast dieselben Worte benutzt werden, wie die, welche wir in den beiden obigen Spalten gegenübergestellt haben und die ebenfalls die jüdischen Verfolgungen sowie den Hass beschreiben, die sie um des Herrn willen erdulden würden. Auch hier werden sie nicht dazu aufgefordert vorher darüber nachzudenken, was sie antworten sollten, wenn sie vor Könige und Statthalter gebracht werden würden. Lesen wir diese acht Verse in Lukas 21 sorgfältig durch, wird deutlich, dass diese Anweisungen des Herrn direkt und ausschließlich an die Apostel in der damaligen Zeit adressiert waren und nicht, wie im Matthäus- und Markusevangelium, auf den jüdischen Überrest zur Zeit des Endes Bezug nehmen.

Die unterschiedliche Anwendung sehen wir in Vers 12: „Vor all diesem aber werden sie ihre Hände an euch legen“, d. h. bevor sich die Drangsal ereignen würde, die in den beiden vorangehenden Versen 10 und 11 beschrieben wird. Ein weiterer Hinweis liegt in den Worten: „und sie werden einige von euch zu Tode bringen“. Der Unterschied wird aber noch deutlicher, wenn wir die Worte des Herrn in Lukas 21, „ich werde euch Mund und Weisheit geben“, mit denen vergleichen, die unser Herr im Matthäus- und Markusevangelium sagt: „Denn nicht ihr seid die Redenden, sondern der Geist eures Vaters (bzw. der Heilige Geist), der in euch redet“. Dadurch wird klar, dass der Herr, als er noch auf der Erde war, seinen Boten selbst die nötige Weisheit geben würde. Dagegen würden die Botschafter in der Endzeit, d. h. nach der Himmelfahrt des Herrn, durch den Heiligen Geist in Bezug auf das, was sie reden sollten, geleitet werden und die Belehrungen des Herrn in Johannes 16 und 17 damit bestätigen.

Stellen wir die vorhergehenden Schriftstellen aus dem Matthäus-, Markus- und Lukasevangelium gegenüber, sehen wir, wie eindeutig unser Herr den jüdischen Überrest der Endzeit mit den Jüngern verbindet, die er damals belehrte. In seinen Gedanken bildete der Überrest die Fortsetzung dieser einen Gruppe, egal wie lang die Zeitspanne auch sein mochte, die sich zwischen ihren Sendungsauftrag schieben sollte. Die Anweisungen sind dementsprechend für beide Gruppen gut geeignet angesichts der Tatsache, dass sie Verkündiger des gleichen Evangeliums des Reiches waren und für ihr Zeugnis in derselben Weise verfolgt werden würden.

Überall begegnen wir einem streng jüdischen Charakter, der den Auftrag des Herrn und seiner Jünger durchzieht. Es ist die vergangene Phase des Reichs, die mit der heutigen Ordnung nichts gemein hat.

Fassen wir unsere Beobachtungen unter Beachtung der Schriftstellen zusammen, die wir in Bezug auf die zurückliegende Phase des Reiches gemacht haben, kommen wir zu folgenden Ergebnissen:

  1. In dieser Phase finden wir die Verkündigung durch den damals anwesenden König, Christus, an die jüdische Nation. Der Gegenstand dieser Predigt ist die Aussicht auf die Errichtung seines Königreichs auf der Erde. Darin liegt gleichzeitig der besondere und kennzeichnende Aspekt.
  2. Diese Proklamation des Messias-Königs und seines Reiches geschieht in Übereinstimmung mit den alttestamentlichen Prophezeiungen sowie den Hoffnungen und Erwartungen der Juden. Sie wird deswegen passenderweise das „Evangelium des Reiches“ genannt und bildet als solches eine Darstellung des Evangeliums, die von jeder anderen abweicht und nur den damals gegenwärtigen Juden bekannt gemacht wird.
  3. Das Evangelium, das Christus und die Apostel predigten, als Christus noch auf der Erde war, scheint mit dem Evangelium des Reiches eng verbunden, wenn nicht sogar deckungsgleich zu sein, das durch den jüdischen Überrest einmal in der Drangsalszeit verkündet werden wird, wie ein Vergleich von Matthäus 10; 24 und Markus 13 zeigt.
  4. Das „ewige“ Evangelium in Offenbarung 14,6.7 scheint ebenfalls in der Drangsalszeit gepredigt zu werden. „Fürchtet Gott und bringt ihm Ehre, denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen“. In einem gewissen Sinn entsprechen diese Worte der Botschaft, die unser Herr und seine Apostel weitergaben: „Das Reich der Himmel ist nahe gekommen“. Vielleicht ist es jedoch etwas deutlicher, weil es auf die „Stunde seines Gerichts“ aufmerksam macht, welche dann sehr nahe sein und dem Kommen des Herrn unmittelbar vorangehen wird, wenn er die Nationen richtet, um anschließend sein tausendjähriges Reich einzuführen, vgl. Matthäus 24,29.30 und 25,31.32 2.
  5. Dieses Evangelium des Reiches, das damals gepredigt wurde, war seinem Charakter nach völlig anders, und unterschied sich auch in seinen Zielen von dem „Evangelium der Gnade Gottes“. Früher ging es darum Buße zu tun und sich für die messianische Herrschaft im Reich bereit zu machen. Das war die irdische Berufung. Jetzt liegt das Augenmerk auf dem Glauben an den Herrn Jesus Christus und sein vollbrachtes Erlösungswerk, um an der vollen Errettung und dem ewigen Leben teilzunehmen. Dies geschieht in der Hoffnung und Erwartung der himmlischen Berufung bei der Wiederkunft Christi, um die Versammlung in den Himmel zu holen.

So sehen wir in jeder Hinsicht die Diskrepanz zwischen den Verkündigungsformen des Evangeliums und es ist ein großer Fehler sie als ein und dasselbe anzusehen, bzw. zu denken, dass das eine die Fortsetzung des anderen sei. Es ist ein trauriger Irrtum, der unter den Gläubigen Tausende dahin geführt hat, die „glückselige Hoffnung“ der Wiederkunft unseres Herrn, die jeden Augenblick stattfinden kann, aus den Augen zu verlieren. Diese Hoffnung umfasst die Aufnahme der Heiligen in den Himmel und es sind die eigenen Worte unseres Herrn, der gesagt hat: „Siehe, ich komme bald“, „Wacht also, denn ihr wisst nicht, zu welcher Stunde euer Herr kommt“. „Glückselig jene Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend finden wird!“.

Die Argumente derer, die glauben, dass diese beiden Darstellungsweisen des Evangeliums tatsächlich ein und dasselbe sind, betonen, dass der Herr solange nicht wiederkommen kann, bevor das Evangelium nicht „auf dem ganzen Erdkreis, allen Nationen zum Zeugnis“ gepredigt worden ist (Mt 24,14). Sie nehmen dabei fälschlicherweise an, dass das Evangelium des Reiches an dieser Stelle dasselbe ist wie das Evangelium der Gnade Gottes, das nun verkündigt wird (Apg 20,24). Die Bedeutung der Verse sowie der Zusammenhang, in dem sie stehen, macht jedoch klar, dass das nicht der Fall ist.

Aufgrund dieser falschen Annahme schlussfolgern sie, dass, weil gerade ein Großteil der Nationen noch nicht mit dem Evangelium der Gnade, das jetzt gepredigt wird, in Berührung gekommen ist, der Herr noch nicht kommen könne (gemäß ihrer Interpretation von Matthäus 24,14). Und zwar so lange nicht, bis sich diese Stelle in Matthäus 24 erfüllt hätte, wodurch sie die Ankunft des Herrn auf eine unbestimmte Zeit aufschieben.

Es ist deshalb von größter Wichtigkeit den dispensationalen Unterschied zwischen diesen beiden Evangeliumsformen zu erkennen und die Bedeutung dieser beiden biblischen Ausdrücke zu verstehen.

Das heutige Evangelium der Gnade wird solange gepredigt werden, bis der Herr wiederkommt, um seine Kirche zu sich zu holen (was jederzeit geschehen kann). Anschließend wird das Evangelium des Reiches, das zuerst durch Christus und seine Apostel verbreitet wurde, vornehmlich durch gottesfürchtige Juden wieder aufgenommen und verkündigt werden. Das wird während der ganzen Drangsalszeit stattfinden, „allen Nationen zum Zeugnis, und dann wird das Ende kommen“. Dieses „Ende“ bedeutet hier den Abschluss des Zeitalters und der großen Drangsalszeit, wenn der Herr kommen wird, um die Nationen zu richten und um sein Königreich zu etablieren. Diejenigen, die bis ans Ende dieses Tages ausharren, werden errettet, um in die völlige Freude der tausendjährigen Segnungen auf dieser Erde einzutreten. Das hier verwendete Wort „errettet“ missverstehen viele, indem sie davon ausgehen, dass es „in den Himmel gehen“ bedeutet. Der ganze Zusammenhang des Kapitels macht allerdings deutlich, dass es um das tausendjährige Reich geht und nicht um den Himmel. Die zwei Gruppen aus Offenbarung 7, die 144.000 und die Träger der Palmzweige, sind Beispiele dafür, weil sie die Drangsalszeit beide durchstehen. Ferner werden die versiegelten Israeliten nachher sicher auf dem Berg Zion zusammen mit dem Lamm gesehen (diese Szene findet sicherlich nicht im Himmel statt, sondern in Palästina, wo sich der Berg Zion buchstäblich befindet), während von den Trägern der Palmzweige gesagt wird, dass es die sind, „welche aus der großen Drangsal kommen“. Die beschriebenen Segnungen, welche sie empfangen, beziehen sich ebenfalls auf das tausendjährige Reich.

Gleichzeitig bleibt es wahr, dass diese Verkündigung des Evangeliums des Reiches an alle Nationen vor der zweiten Phase der Wiederkunft unseres Herrn stattfinden muss, dem Kommen mit seinen Heiligen. Was das Evangelium der Gnade betrifft wird dagegen nie gesagt, dass es erst der ganzen Welt gepredigt werden müsse, bevor der Herr zur Entrückung für die Seinen kommt (1. Thes 4,15–18). Deswegen sind wir dazu angehalten, wie die Thessalonicher damals, jeden Moment nach der Wiederkunft des Herrn auszuschauen (1. Thes 1,10).

  1. Die zurückliegende Phase des Reiches endete mit dem Tod Christi. Sie wird bis zu einem gewissen Ausmaß eine kurzzeitige Wiederbelebung erfahren, wenn die gegenwärtige, christliche Haushaltung zum Ende gekommen sein wird. Danach wird nämlich die jüdische Ordnung teilweise wiederhergestellt worden sein. Auf diese Weise begegnen sich die vergangene und zukünftige Phase des Reiches, mit einer dazwischen liegenden, langen Zeitspanne.
  2. Wenn wir uns diese dispensationalen Unterschiede ins Gedächtnis rufen (d. h. dem Unterschied zwischen der Zeit, wo der Herr hier auf der Erde war und der heutigen Zeitperiode) ist es wichtig daran zu denken, dass die allgemeinen Belehrungen des Herrn, ebenso wie seine prophetischen Äußerungen, über die Zeit seines persönlichen Dienstes bis heute weit hinausgeht und das tausendjährige Reich miteinschließt.

Viele Teile seiner Erklärungen müssen wir deshalb auf alle Zeiten und Phasen des Reiches anwenden, wobei die großen moralischen und geistlichen Grundsätze seine göttlichen Belehrungen ganz besonders kennzeichneten.

Dennoch war die Zeit, in der er lebte und wirkte, einmalig und sie darf deswegen nicht mit der heutigen vermischt werden, von der sie sich so unterschied. Denn am Pfingsttag änderte sich alles, als die Kirche gebildet wurde und eine neue Haushaltung anbrach.

Viele, die diesen Unterschied nicht klar vor Augen hatten, haben die Lehren des Herrn in ernster Weise missbraucht, indem sie jüdische Gedanken und Regeln gläubigen Christen und der Kirche auferlegt haben.

Gehen wir nun zur Betrachtung der heutigen Phase des Reiches über.

Fußnoten

  • 1 Die gute Botschaft Gottes, die jedem Glaubenden Errettung bringt, ist im Wesentlichen ein und dasselbe Evangelium durch alle Zeitepochen hindurch. Wie bei dem Reich wird es im Wort Gottes jedoch unter verschiedenen Aspekten dargestellt, um bestimmte Merkmale hervorzuheben und um die dispensationale Zeitordnung zu kennzeichnen, in welcher es verkündet wird.
  • 2 Das ewige Evangelium wird wahrscheinlich deshalb so genannt, weil es die ständige Verkündigung der frohen Botschaft anzeigt, die zuerst im Garten Eden bekannt gemacht wurde und später durch alle Zeitepochen hindurch in verschiedenen Formen weitergegeben worden ist. Deswegen heißt es „ewig“ (oder fortwährend). In der Endzeit wird es folglich ein weiteres Mal verkündet werden – diesmal im Hinblick auf die unmittelbare Aufrichtung des Reiches Christi durch die Gerichte.
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