Die letzten Dinge

Das Sendschreiben an Ephesus

Die letzten Dinge

Ephesus, die Geliebte, Liebliche – das ist der Titel, den der Herr seiner Brautgemeinde verleiht und worauf Er gerade hier in diesem Sendschreiben besonderen Nachdruck legt. Damit macht Er mit allem Ernst seine innersten Ansprüche an die Versammlung geltend; ihre ganze Liebe gehört allein Ihm, als dem, der sie zuerst geliebt hat.

„Dem Engel der Versammlung in Ephesus schreibe: Dieses sagt der, der die sieben Sterne in seiner Rechten hält, der inmitten der sieben goldenen Leuchter wandelt“ (2,1).

Der Herr stellt sich hier als der vor, „der die sieben Sterne in seiner Rechten hält“, d. h. sie als sein Eigentum festhält, und zwar weniger in bewahrendem Sinn, sondern, ganz dem Charakter dieses Buches gemäß, in Wahrung seiner Anrechte, weil Er sie so teuer erkauft hat. Als der, „der inmitten der sieben goldenen Leuchter wandelt“, ist Er in ihrer Mitte, um sie danach zu beurteilen, ob und wie sie ihrer Berufung entsprechen.

Indem Er diesen Gedanken weiter verfolgt, sagt Er:

„Ich kenne deine Werke und deine Arbeit und dein Ausharren und weiß, dass du Böse nicht ertragen kannst; und du hast die geprüft, die sich Apostel nennen und es nicht sind, und hast sie als Lügner befunden; und du hast Ausharren und hast getragen um meines Namens willen und bist nicht müde geworden“ (2,2.3).

Der Herr kennt die Epheser in ihren Beweggründen bis ins Innerste, und alle ihre Werke liegen wie ein offenes Buch vor Ihm. Wie kostbar ist es für unsere Herzen, dass der Herr, ganz anders als wir es getan hätten, zuerst das erwähnt, was Grund zur Anerkennung und zum Lob gibt! Wir Menschen sind immer geneigt, entweder nur das Ungereimte zu beobachten und deswegen das Gute zu übersehen, oder umgekehrt, nur das Gute zu sehen und über das Mangelhafte hinwegzugehen. Nicht so der Herr; Ihm entgeht nichts, weder das auf der einen, noch das auf der anderen Seite. Er lobt stets das Gute und legt den Finger auf das Böse. Vieles kann Er anerkennen: Werke, Arbeit, Ausharren, sorgfältige Handhabung der Ordnung und gewissenhafte Ausübung der Zucht, aufmerksames Prüfen der vorgebrachten Lehren und Abwehr alles dessen, was nicht von Gott ist. Ferner das Festhalten der Wahrheit und das Tragen von Mühsal und Leiden – alles wichtige Dinge, die eine Versammlung kennzeichnen sollten. Die Epheser besaßen nicht nur dies alles, sondern die Gläubigen waren darin auch nicht müde geworden. Man könnte sich wirklich fragen: Was fehlte nun noch? Doch der Herr musste dennoch einen Mangel feststellen, und sogar einen höchst schwerwiegenden.

Dieser Mangel ist leicht zu erkennen, wenn wir dieses Sendschreiben im Licht von 1. Thessalonicher 1,3 betrachten. Dieser Brief wurde nur etwa 30–40 Jahre früher geschrieben. „Wir danken Gott ... unablässig gedenkend eures Werkes des Glaubens und der Bemühung der Liebe und des Ausharrens der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus.“ In unserem Sendschreiben fehlt dieses Dreigestirn der göttlichen Tugenden. Diese wahren Triebkräfte des geistlichen Lebens waren schon nicht mehr wirksam, der Herr nicht mehr der zentrale Gegenstand ihres Zeugnisses, und die Hoffnung auf eine Wiederkunft war ziemlich in Vergessenheit geraten.

Darum folgt im nächsten Vers der überaus ernste Vorbehalt:

„Aber ich habe gegen dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast“ (2,4).

Welcher Schmerz für den Herrn! Einem Ehemann, der seine Frau von Herzen lieb hat, kann es nicht genug sein, wenn seine Frau im Haushalt alles aufs Trefflichste erfüllt, wenn er daneben sehen muss, dass ihr Herz nicht mehr für ihn schlägt. Wie viel mehr muss unser Herr dies empfinden, der so unendlich viel an uns getan und uns um einen so hohen Preis erkauft hat! Es kann ihn niemals befriedigen, wenn die Seinen der äußeren Form nach auch alles tun, was von ihnen erwartet wird, aber ihre Herzen für ihn kalt geworden sind, wenn es nicht um seinetwillen und wirklich für ihn geschieht. Die „erste Liebe“ ist nicht zeitlich zu verstehen; dieser Ausdruck bedeutet vielmehr die höchste, die vornehmste Liebe. Dieser sollen wir nachstreben, denn sie ist es, die der Herr begehrt. Die Kirchengeschichte zeigt uns, wie berechtigt dieser Vorwurf des Herrn gegenüber den Ephesern war, die erste Liebe verlassen zu haben und wie folgenschwer dieser unerfreuliche Zustand sich auswirkte.

„Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und tu Buße und tu die ersten Werke; wenn aber nicht, so komme ich dir und werde deinen Leuchter von seiner Stelle wegrücken, wenn du nicht Buße tust“ (2,5).

Wie zart und weise ermahnt der Herr die Epheser, was sie zu tun haben, um das rechte Gleis wieder zu finden! Sie sollen sich des Anfangs erinnern, des herrlichen Zustands damals, als Paulus die Epheser zum Herrn führte. Wie innig war die Liebe, wie groß die Zuneigung zum Herrn! In ernster Buße und Beugung mussten sie wieder mit der Hilfe des Herrn zu jenem Zustand der „ersten Liebe“ zurückkehren. Dieses „Gedenken“, dieses Prüfen, dieses sorgfältige Vergleichen mit dem Anfang, und zwar nicht bloß in dogmatischer Hinsicht, nicht in Bezug auf äußere Form, sondern vor allem in Bezug auf den Zustand der Herzen, haben auch wir bitter nötig und sollte unsere ständige Übung sein. Es gilt auch für uns, überall da, wo wir durch Gottes Wort überführt werden, umzukehren zum „Anfang“. Diese Buße, die wir so nötig haben, ist nicht die Buße des Unbekehrten, sondern Besinnung und Umkehr der Gläubigen, sowohl einzeln, als auch als Versammlung.

Welche ernste Strafe droht hier der Herr an! Völlige Auslöschung des einst so herrlichen Zeugnisses wird die unaufhaltsame Folge des falschen Weges sein! Ach, Ephesus hat nicht Buße getan, es ist nicht umgekehrt. Darum ist der Leuchter längst erloschen; im Jahr 1402 ist Ephesus durch die Türken, die Nachfolger Mohammeds, restlos zerstört worden. Doch nicht nur bei Ephesus verhielt es sich so, sondern die ganze Kirche ist auf diesem abschüssigen Weg bis zur völligen Finsternis des Mittelalters weitergeschritten. Erst zur Reformationszeit hat der Herr angefangen, das Licht wieder leuchten zu lassen. Wie wichtig ist es daher auch für uns, wachsam zu sein und selbst den kleinsten Abweichungen vom richtigen Weg zu wehren und sie vor dem Herrn zu verurteilen!

„Aber dieses hast du, dass du die Werke der Nikolaiten hassest, die auch ich hasse“ (2,6).

Wer waren diese Nikolaiten? Man könnte da an eine Sekte denken, die nach ihrem Führer genannt worden ist und moralisch Böses mit dem Namen Jesus verbunden hat. Aber man hat keinen bestimmten Nachweis von einer besonderen Sekte dieses Namens. Im Übrigen hat es damals eine ganze Anzahl solcher gnostischer Irrtümer gegeben, die das Christentum mit heidnischen Gebräuchen verquickten. Da kann doch der Herr schwerlich eine Einzelne als besonders hassenswert hervorgehoben haben, denn Er verurteilt alles Böse gleich. Vielmehr muss es sich hier um etwas weit Schwerwiegenderes, das ganze Zeugnis Gefährdendes, handeln. Nicht umsonst braucht der Herr den starken Ausdruck: „die auch ich hasse“. Nun, da ja bekanntlich die Sprache in der Offenbarung eine fast durchweg symbolische ist, hat ohne Zweifel auch dieser Name eine symbolische Bedeutung. Der Name „Nikolaiten“ kommt von „Nikolaus“ = Sieger oder Herrscher, und „laios“ = Volk (Laien); also „Nikolaiten“ = Volksbesieger oder Volksbeherrscher. Dies weist uns auf etwas hin, das sich in der Folge als Ursache zum größten Verderben des Zeugnisses erwiesen hat, nämlich die Ausscheidung eines besonderen, bevorzugten und bevorrechteten Priesterstandes, der sich die Ausübung des Dienstes Gottes als sein alleiniges Recht anmaßt. In der Tat wurde die Masse des Volkes durch den Klerus immer mehr beherrscht und unterdrückt, und es wurden grobe Irrtümer in die Kirche eingeführt, die sie völlig verdarben. Dies sollte genügen, um uns dieses scharfe Urteil des Herrn begreiflich zu machen.

Aber wie steht es heute mit der Gefahr des „Nikolaitismus“? Nun, der heutige kirchliche Zustand ist dessen Endentwicklung. Aber begehen wir nicht einen Irrtum, wenn wir nur in der kirchlichen Form die Wurzel des Nikolaitismus sehen? Lasst uns diese Wurzel vielmehr im Menschenherzen suchen, für das diese Neigung zu äußerer Form, zur Gesetzlichkeit und zur Erhebung über die Mitmenschen typisch ist. In der Tat finden wir diese Neigung verschiedentlich im Wort Gottes angedeutet; denken wir zum Beispiel an die Spaltungen in Korinth, an Diotrephes im 3.Johannesbrief, der der Erste in der Versammlung sein wollte, also ein Trachten danach, zu herrschen und zu glänzen. In solchen Tendenzen liegen die Anfänge des Papsttums, und die äußere Form desselben, wie sie sich uns heute zeigt, ist aus dieser Wurzel erwachsen. Daher tun wir gut, vorerst uns selbst sorgfältig zu prüfen, ob auch bei uns solche Neigungen zu finden sind.

„Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Versammlungen sagt! Dem, der überwindet, dem werde ich zu essen geben von dem Baum des Lebens, der in dem Paradies Gottes ist“ (2,7).

Der Herr kann hier nicht mehr mit dem Gruß der Liebe abschließen, wie in den Briefen der Apostel, sondern der Ernst des Zustandes zwingt ihn, nochmals ernstlich zu ermahnen, auf die Stimme des Heiligen Geistes zu hören; also nicht auf das, was die „Führer der Kirche“ sagen, sondern was Gottes Geist sagt. Dieser allein ist der wahre, unbedingt sichere Lehrer der göttlichen Wahrheit. Darum wendet Er sich hier an die Verantwortlichkeit der einzelnen Gläubigen, wie auch an die ganze Versammlung.

Zum Schluss erkennen wir noch die fürsorgende Liebe unseres Herrn, indem Er der ernsten Ermahnung noch eine anspornende Verheißung hinzufügt. Dies hat nichts mit der Errettung des verlorenen Sünders zu tun, sondern es ist eine Belohnung für den, der das Böse und die Bösen in der Versammlung überwindet. Der Baum des Lebens ist niemand anders als unser Herr Jesus Christus selbst, und das Essen von diesem Baum ist die Glückseligkeit der innigen Gemeinschaft mit ihm – der höchste Genuss für uns, den der Herr selbst so sehnsüchtig sucht (Joh 14,21.23). Diesen Genuss können wir aber nur erlangen, wenn Christus unsere Herzen ganz und allein erfüllt und wir bereit sind, alles, auch unser eigenes Ich, um seinetwillen zu verleugnen. Adam hätte dies schon im Paradies haben können, wenn er von diesem Baum gegessen hätte, anstatt von dem verbotenen Baum, bei dem er dem Verführer zum Opfer fiel. Darum musste Gott jetzt zur Erfüllung seiner Ratschlüsse den großen Umweg über das Kreuz von Golgatha machen, da Er, was Er einmal beschlossen hatte, nicht aufgeben wollte, mochte auch der Preis, den es Ihn kostete, noch so hoch sein.

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