Die Versammlung und Israel
Vorbilder im Alten Testament

Ruth - die jüdische Braut

Die Versammlung und Israel

Gelegentlich begegnet man der Auffassung, Ruth sei ebenfalls ein Vorbild auf die Versammlung. Auf den ersten Blick erscheint dies plausibel. Ruth war, wie Asnat, eine Heidin und ihre Segnungen hingen alle von Boas, dem wohlhabenden Mann aus Bethlehem ab, der ein Vorbild auf Christus ist.

Das Buch Ruth ist im Wesentlichen eine Liebesgeschichte. Ihr Höhepunkt besteht darin, dass Boas Ruth heiratet, obwohl sie eine arme Moabiterin ist, die nach dem Gesetz gar nicht in das Volk Israel hätte aufgenommen werden dürfen. Sie verdankt ihr ganzes Glück Boas und der Verbindung mit ihm. Dies erklärt in gewissem Maß, warum es einigen Bibellesern schwerfällt, in diesem Zusammenhang nicht an die Versammlung zu denken.

Wir sollten jedoch keine vorschnellen Rückschlüsse aus diesen Tatsachen ziehen. Ein genaueres Studium des Buches Ruth zeigt, dass diese Interpretation nicht richtig sein kann. Sie würde viele Details unerklärt lassen und insgesamt nicht passen. Die Beispiele in den folgenden Abschnitten werden das belegen.

Ruth und Noomi

Ruth ist mit Noomi verbunden, nicht nur weil Noomi ihre Schwiegermutter ist, sondern auch, weil Ruth schließlich Noomis Platz einnimmt. Ruth wird diejenige, die die Familie von Elimelech und Noomi fortsetzt. Wenn Ruth ein Bild der Versammlung wäre, wer sollte dann durch Noomi vorgeschattet werden?

Dieses Dilemma hat eine einfache Lösung. Ruth und Noomi liefern ein treffendes Bild von zwei Phasen, die wir in der Geschichte Israels beobachten:

  • Phase 1: Israel hat sich von Gott abgewandt, ist von Gott verlassen worden und hat das Erbteil verloren. Diese Phase wird treffend in Noomi vorgestellt, die das Land verlassen und dann alles verloren hatte.
  • Phase 2: Israel als Nation wird wiederhergestellt, und zwar in der Form des jüdischen Überrestes 1 (Röm 9,27). Dieser Überrest, der nach der Entrückung der Versammlung gebildet wird, wird dann den Platz von „ganz“ Israel einnehmen (Röm 11,26). Diese Phase wird durch Ruth veranschaulicht, die an Noomis Stelle tritt und durch die Noomis Erbteil erhalten bleibt.

Die Versammlung wird jedoch nie Israels Platz 2 einnehmen.

Ruth und Noomi sind durch die Tatsache verbunden, dass beide Witwen sind, aber sie unterscheiden sich darin, dass Ruth eine Moabiterin ist und daher keinerlei Anspruch auf die nationalen Rechte und Privilegien Israels hat. Dieser Umstand illustriert treffend, dass Israel seine Rechte unter dem Gesetz „verspielt“ hat und dass der Überrest auf der Grundlage reiner Gnade angenommen werden wird.

Die Versammlung wird nie als Witwe bezeichnet. Dieser Begriff wird für Israel und den Überrest gebraucht:

„Fürchte dich nicht, denn du wirst nicht beschämt werden, und schäme dich nicht, denn du wirst nicht zuschanden werden; sondern du wirst die Schmach deiner Jugend vergessen und dich an die Schande deiner Witwenschaft nicht mehr erinnern. Denn der dich gemacht hat, ist dein Mann – HERR der Heerscharen ist sein Name –, und der Heilige Israels ist dein Erlöser: Er wird der Gott der ganzen Erde genannt werden“ (Jes 54,4-5).

„Und die Nationen werden deine Gerechtigkeit sehen und alle Könige deine Herrlichkeit; und du wirst mit einem neuen Namen genannt werden, den der Mund des HERRN bestimmen wird. Und du wirst eine prachtvolle Krone sein in der Hand des HERRN und ein königliches Diadem in der Hand deines Gottes. Nicht mehr wird man dich „Verlassene“ nennen, und dein Land nicht mehr „Wüste“ nennen; sondern man wird dich nennen: „Mein Gefallen an ihr“, und dein Land: „Vermählte“; denn der HERR wird Gefallen an dir haben, und dein Land wird vermählt werden. Denn wie der Jüngling sich mit der Jungfrau vermählt, so werden deine Kinder sich mit dir vermählen; und wie der Bräutigam sich an der Braut erfreut, so wird dein Gott sich an dir erfreuen“ (Jes 62,2-5).

Gnade finden

Es ist auffallend, dass die Gnade in der Geschichte von Ruth mehrfach betont wird. Ruth sagt:

„Da fiel sie auf ihr Angesicht und beugte sich zur Erde nieder und sprach zu ihm: Warum habe ich Gnade gefunden in deinen Augen, dass du mich beachtest, da ich doch eine Ausländerin bin?“ (Rt 2,10).

Vergleiche dazu auch Ruth 2,2.13.

Das prophetische Wort zeigt, dass dieses Thema in Bezug auf die zukünftige Wiederherstellung Israels ganz zentral ist. Hosea beschreibt prophetisch Israel als die Nation, die sich in eine Position gebracht hat, in der sie 'keine Barmherzigkeit gefunden hat' (das ist die Bedeutung von Lo-Ruchama), aber dann – in Form des zukünftigen Überrests – Barmherzigkeit (Ruchama) finden wird:

„Und sie wurde wieder schwanger und gebar eine Tochter. Und er sprach zu ihm: Gib ihr den Namen Lo-Ruchama; denn ich werde mich fortan nicht mehr über das Haus Israel erbarmen, dass ich ihnen irgendwie vergebe. Aber über das Haus Juda werde ich mich erbarmen und sie retten durch den HERRN, ihren Gott; und nicht werde ich sie retten durch Bogen und durch Schwert und durch Krieg, durch Pferde und durch Reiter“ (Hos 1,6-7).

„Doch die Zahl der Kinder Israel wird sein wie der Sand des Meeres, der nicht gemessen und nicht gezählt werden kann; und es wird geschehen, an dem Ort, wo zu ihnen gesagt wurde: „Ihr seid nicht mein Volk!“, wird zu ihnen gesagt werden: „Kinder des lebendigen Gottes“. Und die Kinder Juda und die Kinder Israel werden sich miteinander versammeln und sich ein Haupt setzen und aus dem Land heraufziehen; denn groß ist der Tag von Jisreel. Sprecht zu euren Brüdern: „Mein Volk“, und zu euren Schwestern: „Begnadigte““ (Hos 2,1-3).

„Und es wird geschehen an jenem Tag, da werde ich erhören, spricht der HERR: Ich werde den Himmel erhören, und dieser wird die Erde erhören“ (Hos 2,23).

Das Buch Ruth beschreibt anhand der Geschichte von Noomi und Ruth, wie Israel alles verliert, dann aber wiederhergestellt und gesegnet wird. Das ist die eigentliche – typologische – Bedeutung des Buches. Zusätzlich lassen sich viele Aspekte auf das praktische Glaubensleben von Christen anwenden.

Ruths Rückkehr

In Kapitel 1 lesen wir die erstaunliche Aussage, Ruth sei nach Bethlehem „zurückgekehrt“:

„Und so kehrte Noomi zurück, und Ruth, die Moabiterin, ihre Schwiegertochter, mit ihr, die aus den Gebieten von Moab zurückkehrte; und sie kamen nach Bethlehem beim Beginn der Gerstenernte“ (Rt 1,22).

Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Ruth jemals zuvor in Bethlehem gewesen war, aber offensichtlich wird sie mit der Rückkehr von Noomi identifiziert. Dies ist ein weiteres Detail, das kein Problem darstellt, wenn die prophetische Bedeutung bekannt ist, aber sonst unerklärt bleiben würde: Israel (Noomi) wird zu Gott zurückkehren, indem ein Überrest (Ruth) sich Gott zuwendet.

Der erste Blutsverwandte

Das erste Lösungsrecht (und damit das Rückkaufsrecht, siehe 3. Mo 25) lag bei einem anderen Verwandten. Dieser Verwandte war bereit zu erlösen, erwies sich jedoch als unfähig dazu. Das macht den Weg frei für Boas. Wer oder was sollte mit diesem ersten Blutsverwandten gemeint sein, wenn Ruth ein Bild der Versammlung wäre?

In der vorgeschlagenen Auslegung, dass Ruth für den jüdischen Überrest steht, löst sich das Problem schnell auf. Für Israel war das Gesetz „näher dran“. Es zeigt den von Gott gegebenen Weg, Ihm zu gefallen. Aber durch das Problem der Kraftlosigkeit Israels konnte das Gesetz keinen Segen bringen.

Die Versammlung dagegen war nie unter dem Gesetz und ihre Segnungen sind anders (himmlisch und geistlich).

Boas, der Blutsverwandte

Die Tatsache, dass nur der ein Löser sein konnte, der auch ein Blutsverwandter war, kann auf Christen angewendet werden. Christus musste Mensch werden, um unsere Erlösung vollbringen zu können. In einem engeren Sinn ist es auch wahr, dass Christus an Blut und Fleisch teilgenommen hat, um sich der Nachkommen Abrahams (d. h. Israel) anzunehmen:

„Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicher Weise daran teilgenommen, damit er durch den Tod den zunichtemachte, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die befreite, die durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen waren. Denn er nimmt sich fürwahr nicht der Engel an, sondern der Nachkommen Abrahams nimmt er sich an“ (Heb 2,14-16).

Ruth und das Land

Ein weiterer wichtiger Aspekt im Verlauf der Ereignisse ist, dass Ruth und das Land zusammengehören. Andernfalls hätte der andere Verwandte das Erbe gekauft und der Ausgang der ganzen Geschichte wäre ganz anders gewesen.

Als dieser andere Verwandte merkte, dass er das Land nicht haben konnte, ohne Ruth zu erlösen, sagte er: „Ich kann nicht für mich lösen, dass ich mein Erbteil nicht verderbe. Löse du für dich, was ich lösen sollte, denn ich kann nicht lösen“ (Ruth 4,6).

So ist es auch mit Israel: Das Volk und das Land gehören zusammen. Es ist unmöglich, dass das eine ohne das andere wiederhergestellt wird (ein zentraler Teil von Abrahams Segen war, dass seine Nachkommen das Land besitzen sollten, vgl. 1. Mo 12,7). All das trifft auf die Versammlung nicht zu.

Obed, der Segen Noomis

Die Verwandten schreiben Obed, das Kind von Ruth, Noomi zu:

„Und die Nachbarinnen gaben ihm einen Namen, indem sie sprachen: Ein Sohn ist der Noomi geboren! Und sie gaben ihm den Namen Obed. Er ist der Vater Isais, des Vaters Davids“ (Rt 4,17).

Mit anderen Worten, durch Ruth wird Noomi gesegnet. So wird es für die Nation Israel sein. Es wird eine Zeit kommen, in der Israel als Nation gesegnet sein wird, aber nur weil ein Überrest aus dem Volk Israel sich Christus zuwenden und aus purer Gnade angenommen werden wird.

Der Stammbaum

Der kurze Stammbaum am Ende des Buches beginnt mit Perez (der geboren wurde, nachdem Joseph nach Ägypten verkauft worden war, siehe 1. Mose 38,27-29) und endet mit David. Auf diese Weise stellt er eine Verbindung zwischen Israel in Ägypten und der Gründung des Königreichs unter David her:

„Und dies sind die Geschlechter des Perez: Perez zeugte Hezron, und Hezron zeugte Ram, und Ram zeugte Amminadab, und Amminadab zeugte Nachschon, und Nachschon zeugte Salma, und Salmon zeugte Boas, und Boas zeugte Obed, und Obed zeugte Isai, und Isai zeugte David“ (Rt 4,18-22).

Das passt wunderbar zur prophetischen Deutung des Buches: Gott greift in Gnade zugunsten Israels (Noomi) ein, indem Er dafür sorgt, dass ein gläubiger Überrest (Ruth) zu Christus umkehrt und mit Ihm verbunden wird, damit Christus schließlich als König über sie herrschen kann.

Aus all diesen Gründen heraus wird klar, dass diese Auslegung die typologische Bedeutung des Buches Ruth erschließt. Viele Details, die sonst rätselhaft bleiben würden, passen plötzlich genau an ihren Platz wie fehlende Puzzleteile in ein fast fertiges Puzzle. Sobald Ruth als ein Vorbild des in Gnade aufgenommenen Überrests Israels verstanden wird, wird die Auslegung einfach – und wunderschön.

Die Liebe des HERRN zu Israel

Die Geschichte von Ruth illustriert die Liebe zwischen dem HERRN und seinem irdischen Volk. Wenn Er den gläubigen Überrest betrachtet, den Er als sein Volk anerkennen wird, kann Er sein Gefallen an ihm ausdrücken.

„Der HERR, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein rettender Held. Er freut sich über dich mit Wonne, er schweigt in seiner Liebe, frohlockt über dich mit Jubel“ (Zeph 3,17).

Das wird seine Erfüllung finden, wenn die Zeit der Drangsal vorüber sein wird und der Überrest Christus erkannt und angenommen haben wird (Sach 12,10-12).

Dass Christus die Versammlung liebt, ist ebenfalls wahr (Eph 5,25). Aber wir sollten beides nebeneinander stehen lassen.

Wenn wir die Segnungen Israels auf die Versammlung beziehen, berauben wir beide: Einerseits nehmen wir (gedanklich) dem Volk Israel den Segen, der ihm zukommen wird. Andererseits stehen wir in Gefahr, die himmlischen Segnungen der Versammlung aus dem Auge zu verlieren. In der Erweckung im 19. Jahrhundert wurde beides neu entdeckt: die nationale Zukunft Israels und die besondere himmlische Stellung der Versammlung.

Anwendungen für einzelne Gläubige

Dennoch ist das Buch Ruth für Christen hochinteressant: nicht nur, weil wir dort eine Illustration der vergangenen und zukünftigen Geschichte Israels finden, sondern auch, weil das Buch viel Material bietet, um nützliche Anwendungen für unser Glaubensleben als Christen zu machen. Um nur einige Beispiele zu nennen:

  • die Unmöglichkeit, der göttlichen Erziehung zu entgehen
  • der Verlust, der mit einem Weg „weg von Gott“ einhergeht
  • die Notwendigkeit, umzukehren
  • die Segnung, mit Boas verbunden zu sein
  • der Platz zu seinen Füßen
  • die Notwendigkeit, gewaschen zu werden
  • die Wahrheit der Erlösung
  • die darauffolgende Freude

Fazit

  • Die Auslegung des Buches Ruth ist, dass Ruth für den zukünftigen jüdischen Überrest steht.
  • Die moralische Anwendung des Buches bezieht sich auf einzelne Gläubige.

Ruth als ein Vorbild der Versammlung zu sehen, ist eine problematische Interpretation, die viele Details unerklärt lässt und streckenweise in die falsche Richtung führt.

Fußnoten

  • 1 Eine ausführliche Erklärung zum Thema jüdischer Überrest findet man in dem Buch „Heilsgeschichtlich Denken – der rote Faden zur Bibel“ von demselben Autor (Kapitel 6, Baustein 10).
  • 2 In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu verstehen, dass der Ölbaum in Römer 11 kein Bild von Israel ist. Der Ölbaum spricht von Fettigkeit und steht daher für den Platz des Vorrechts auf der Erde. Abraham ist die Wurzel, Israel die natürlichen Zweige (nicht der Baum) und Heiden werden in diesen Baum eingepfropft, d. h. durch das Christentum an den Platz des Vorrechts gebracht. Mehr dazu in „Hat Gott sein Volk verstoßen“ von Christian Briem.
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