Der Unterschied zwischen dem Ratschluss Gottes und den Wegen seiner Regierung - oder Stellung und Verantwortlichkeit
Botschafter des Heils in Christo 1882

Der Unterschied zwischen dem Ratschluss Gottes und den Wegen seiner Regierung - oder Stellung und Verantwortlichkeit - Teil 1/5

Bei einem Blick auf die große Zahl der Kinder Gottes, die sich in dieser letzten Zeit auf der Erde befinden, drängt sich einem aufmerksamen, von Gott geleiteten Beobachter die Überzeugung auf, dass im Allgemeinen unter ihnen eine beklagenswerte Unklarheit über ihre Stellung in Christus herrscht, und dass in ihrem Wandel eine höchst mangelhafte Übereinstimmung mit den Wegen Gottes besteht. Naturgemäß entsteht die Frage: Woher kommt diese Erscheinung? Sie hat einerseits ihren Grund in der mangelhaften Erkenntnis des Ratschlusses Gottes, und andererseits in der großen Untreue, mit welcher die vorhandene Erkenntnis in dem täglichen Leben verwertet und auf den praktischen Wandel angewandt wird. Gott hat uns seinen Ratschluss nicht nur mitgeteilt, weil wir die Gegenstände desselben sind, sondern damit wir auch im Licht der darin offenbarten herrlichen Stellung wandeln sollen. Die Kirche hätte das ihr anvertraute Geheimnis bewahren sollen; aber stattdessen hat sie es – wie einst Simson der Delila – der Welt verraten und ist in Folge dessen geblendet worden und in Gefangenschaft gekommen, um schließlich in dem Untergang der Feinde des Herrn ihren eigenen Untergang zu finden. Nichts könnte geeigneter sein, um einerseits Beschämung und Selbstgericht bei uns wachzurufen, und andererseits uns in Übereinstimmung mit den Wegen Gottes zu bewahren, als das Bewusstsein unserer Stellung nach dem Ratschluss Gottes. Um in dem Volk Israel ein Gefühl seines traurigen Zustandes zu wecken, musste der Prophet Hesekiel ihm das Haus, die zukünftige Wohnung der Herrlichkeit Jehovas, zeigen: „Du Menschensohn, zeige dem Haus Israel dieses Haus, auf dass sie schamrot werden wegen ihrer Ungerechtigkeiten, und lass sie das Muster messen. Und wenn sie schamrot werden über alles, was sie getan, so mache ihnen kund die Form des Hauses und seine Gestalt und seine Ausgänge und seine Eingänge und alle seine Formen und alle seine Gesetze, und schreibe es vor ihren Augen, auf dass sie bewahren seine ganze Form und alle seine Satzungen, und sie tun“ (Hes 43,10–11). Man kann niemals richtige Begriffe und Gedanken über die Kirche haben, wenn man nicht versteht, was sie nach dem Ratschluss Gottes ist; und ebenso wenig kann ein Christ seinen wahren Platz nach den Gedanken Gottes hienieden einnehmen, wenn ihm das Bewusstsein seiner Stellung in Christus mangelt. Der allgemeine Zweck der Wege, welche Gott mit uns geht, ist, uns in die praktische Übereinstimmung mit seinem Ratschluss zu bringen; denn nur dann sind wir es auch mit Gott selbst, und insofern sind die Wege Gottes und sein Ratschluss in vollkommener Harmonie mit einander. Der Unterschied zwischen den beiden besteht darin, dass Gott in dem letzteren in unumschränkter Gnade handelt, während in den Ersteren alles von unserer Verantwortlichkeit abhängt. In seinem Ratschluss handelt Gott frei und unabhängig für die Seinen, so schwach ihr Zustand auch sein mag; alles ist unvermischte Gnade, deren Fülle umso überströmender erscheint, je elender jener Zustand ist. Gefasst vor Grundlegung der Welt, schließt er die Erlösung und die Herrlichkeit in sich ein, hat aber mit unserer Pilgerschaft und der damit verbundenen Verantwortlichkeit durchaus nichts zu tun. In den Wegen seiner Regierung hingegen beschäftigt sich Gott mit unserem praktischen Verhalten, indem Er „ohne Ansehen der Person richtet nach eines jeden Werk“ (1. Pet 1,17). Nichtsdestoweniger sind auch diese Wege schließlich ein Beweis seiner vollkommenen Liebe zu uns; denn „wenn wir gerichtet werden, so werden wir vom Herrn gezüchtigt, auf dass wir nicht mit der Welt verurteilt werden“ (1. Kor 11,32).

Doch lasst uns etwas näher auf diese beiden Gegenstände eingehen und richten wir zunächst unseren Blick auf die Gegenstände des Ratschlusses Gottes.

Der erste Gegenstand, der eigentliche Mittelpunkt aller Ratschlüsse Gottes, ist Christus. In Ihm allein konnten und können sie ihre Erfüllung finden, mögen sie sich auf das himmlische Volk Gottes, die Kirche, oder auf sein irdisches Volk, Israel, oder endlich auf die Nationen beziehen. Wir lesen deshalb auch: „Jehova besah mich im Anfang seines Weges, vor seinen Werken, von jeher usw“ (Spr 8,22–31). In Christus war die Erfüllung dieser Ratschlüsse gesichert, selbst für den Fall, dass das Verderben in dem Maß eindringen würde, wie es tatsächlich eingedrungen ist. Nichts ist im Stande, Gott aufzuhalten in der Ausführung dessen, was Er sich vorgesetzt hat: weder die Macht des Feindes, noch der hoffnungslos verlorene Zustand des Menschen, noch endlich die alles verheerende Macht des Verderbens, welches die Sünde in die Schöpfung eingeführt hat. Und weshalb nicht? Weil Er seinen Vorsatz von Ewigkeit her „in Christus“ gefasst hat (Eph 3,11). In Ihm war für alles Vorsorge getroffen, was der Ausführung dieses Vorsatzes irgendwie hindernd in den Weg treten konnte. Oder sollte Gott nicht gewusst haben, als Er seinen Vorsatz fasste und ehe Er „Seinen Weg“ antrat, dass das Verderben kommen würde? Ohne Zweifel wusste Er es. Als Er die Himmel bereitete und die Grundfesten der Erde legte, stand alles, was sich dort ereignen würde, vor seinen Augen. Er überblickte im Voraus den ganzen Schauplatz der Verwüstung und Zerstörung, des Jammers und Elendes, den Schauplatz der Herabwürdigung seines Namens, seiner Herrlichkeit, seiner Heiligkeit und Majestät, mit einem Wort das, was seinem Vorsatz durchaus entgegengesetzt war. Er sah aber noch mehr. Er sah das vor Grundlegung der Welt zuvorerkannte Lamm, ohne Fehl und ohne Flecken, welches durch die Erlösung die Erfüllung seines Vorsatzes herbeiführen sollte, und zwar angesichts und inmitten jenes traurigen Schauplatzes, so dass dieser selbst zu einem Anlass wurde, um die Herrlichkeit Gottes nur noch völliger und glorreicher zu entfalten (1. Pet 1,19–20). Christus stand vor seinen Augen, und darum konnte Er „Seinen Weg“ antreten und die Grundfesten der Erde legen usw. „Als Er die Himmel bereitete, war ich da, da Er den Kreis feststellte auf der Fläche der Tiefe ... da er die Grundfesten der Erde, legte: da war ich Schoßkind bei Ihm, und war Tag für Tag seine Wonne, spielend vor Ihm zu aller Zeit usw“ (Spr 8). Demgemäß musste Christus in verschiedener Hinsicht der Mittelpunkt und der Gegenstand der Ratschlüsse Gottes sein. Das erste Kapitel des Kolosserbriefes zeigt Ihn uns in diesen verschiedenen Herrlichkeiten seiner Person. Er ist zunächst der Sohn Gottes, „der Sohn seiner Liebe.“ Dies ist der erste Charakter seiner persönlichen Herrlichkeit von Ewigkeit her, der wesentliche Mittelpunkt aller seiner übrigen Herrlichkeiten. Von Ewigkeit her hatte Er seinen Platz im Schoß des Vaters und war der Gegenstand seiner Wonne und seiner innigsten Zuneigungen. Dann ist Er „das Bild des unsichtbaren Gottes.“ Er ist als Sohn Gottes in seiner eigenen Person, in seiner Natur, die vollkommene Darstellung Gottes vor den Menschen und vor dem ganzen Weltall, „denn in Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.“ Und da Er zugleich Mensch ist, so ist Gott in dieser Gestalt gesehen worden von den Engeln und von uns. „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns (und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater) ... Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat Ihn kundgemacht“ (Joh 1,14.18). Ferner gebührt Ihm nach den ewigen Ratschlüssen Gottes der erste Platz in der Schöpfung. Er ist der Erstgeborene aller Schöpfung; 1 „denn durch Ihn sind alle Pinge erschaffen, die in den Himmeln und die auf der Erde, die sichtbaren und die unsichtbaren, es seien Throne oder Herrschaften oder Fürstentümer oder Gewalten usw.“ Gott handelte in Christus, als Er das Weltall schuf. Alles was besteht, ist durch Ihn und für Ihn geschaffen; und mit Recht ist Er schon aus diesem Grund der Erbe von allem. „Den Er gesetzt hat zum Erben aller Dinge, durch den Er auch die Welten gemacht hat usw“ (Heb 1,2). „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ward durch dasselbe, und ohne dasselbe ward auch nicht eins, das geworden ist“ (Joh 1,1–3). Welch eine wunderbare Person! Er, der als Mensch unter den Menschen hier auf Erden wandelte und von denselben verworfen wurde – Er, der nicht hatte, wo Er sein Haupt hinlegen konnte, und der sich, um das Lösegeld für uns zu werden, völlig erniedrigte, war der Schöpfer des Weltalls, der Sohn Gottes! Und Er ist der Mensch, den Gott verherrlicht und nach seinem Ratschluss gesetzt hat über alle Werke seiner Hände (Ps 8). Alle Dinge sind durch Ihn und notwendigerweise auch für Ihn geschaffen. Und obgleich Ihm jetzt noch nicht alles unterworfen ist, so wird dennoch der Vorsatz Gottes erfüllt werden, wie uns dies in den Worten des Apostels offenbart ist: „Für die Verwaltung der Fülle der Zeiten alles unter ein Haupt zusammen zu bringen in dem Christus, das was in den Himmeln, und das was auf der Erde ist“ (Eph 1,10).

Indessen müssen wir zwischen dem Ewigen und dem Zeitlichen Ratschluss unterscheiden. Sicher ist Christus der Mittelpunkt von beiden. Der Unterschied besteht darin, dass in dem ersteren die Kirche mit Christus verbunden ist, während in dem letzteren Israel und in untergeordneter Weise die Nationen mit Ihm in Verbindung stehen. Der Erste ist gefasst vor Grundlegung der Welt, der zweite Don Gründung der Welt an (Eph 1,4; Mt 25,34). Die Segnungen und Herrlichkeiten des Ersten sind ihrer Natur nach geistlich und ewig, diejenigen des zweiten Zeitlich und irdisch. Durch ihre Verbindung mit Christus teilt die Kirche mit Ihm alle die Herrlichkeiten (soweit eine geschaffene Kreatur dies vermag), welche Ihm nach dem ewigen Nachschlich Gottes zugehören, und wozu alle ihre einzelnen Wieder schon vor Grundlegung der Welt aus er wählt sind. Diese Herrlichkeiten werden schon im tausendjährigen Reiche teilweise offenbart sein und geschaut werden, allein das völlige und schließliche Resultat jenes ewigen Ratschlusses wird, da er lange vor und gänzlich außerhalb dieser Schöpfung gefasst ist, erst dann ans Licht treten, wenn diese Erde und dieser Himmel samt den mit ihnen verbundenen irdischen Systemen verschwunden sind. Das was vor Grundlegung der Welt in den Gedanken Gottes bestand, was in den mannigfaltigen Vorbildern des Alten Testaments, wie z. B. in Adam und Eva, Isaak und Rebekka, gesehen wurde, und was sich gleich einem goldenen Faden durch die ganze Beschichte der Wege Gottes hindurchzieht – der Ratschluss Gottes in Bezug auf Christus und die Kirche – wird als vollendete Tatsache in seiner ganzen Schönheit erst auf der neuen Erde gesehen werden. Dort wird selbst das, was der Tempel inmitten des irdischen Volkes Gottes vorbildlich darstellte, seine tatsächliche Verwirklichung finden. Dort wird die Kirche in ihrer ewigen Verbindung mit dem Lamm – als sein Weib – und zugleich als die „Hütte Gottes bei den Menschen“ geschaut werden. Die letzteren dagegen werden ohne Ausnahme „Sein Volk“ genannt, weil auf der neuen Erde der Unterschied zwischen Israel und den Nationen aufgehoben ist (vgl. Off 21,1–8). Das Verhältnis der Kirche zu Christus ist ein ewiges, durch alle Zeitalter fortbestehendes, während dasjenige Israels, als des irdischen Volkes Gottes, vorübergehend ist. Darum ist gesagt: „Ihm sei die Herrlichkeit in der Versammlung in Christus Jesus, auf alle Geschlechter des Zeitalters der Zeitalter“ (Eph 3,21). Diese Erde ist also der Schauplatz der Entfaltung des Ratschlusses Gottes in Bezug auf Christus und Israel samt den Nationen. Israel und das Land Palästina bilden den Mittelpunkt dieses Schauplatzes. „Da der Höchste das Erbteil austeilte den Nationen, da Er voneinander schied die Menschensöhne, da stellte Er fest die Grenzen der Völker nach der Zahl der Kinder Israel“ (5. Mo 32,8). Dieses wird seine vollständige Erfüllung im tausendjährigen Reiche finden. Vor dem Beginn desselben findet der große Gerichtstag der Nationen statt, wo der Herr sie voneinander scheiden wird, wie der Hirte die Schafe von den Böcken scheidet. Die Schafe, d. h. die Geretteten aus den Nationen, gehen ein in die Segnungen des Reiches. Zu ihnen sagt der Herr: „Kommt her, Gesegnete meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Gründung der Welt an“ (Mt 25,34). Im Vorübergehen möchte ich bemerken, dass das Verhalten, welches die Nationen gegen das Volk Israel während der Zeit der letzten Drangsal an den Tag gelegt haben, bei diesem Gericht entscheidend sein wird. „Wahrlich, ich sage euch: insofern ihre getan habt einem der geringsten dieser meiner Brüder (dem gläubigen Überrest aus Israel), habt ihr es mir getan.“ Indessen wird, obwohl die geretteten Nationen in jenem herrlichen Reiche mit Israel gesegnet sein werden, dieses letztere den ersten Platz darin einnehmen, und Jerusalem wird den Mittelpunkt der Offenbarung der Herrlichkeit des Herrn auf der Erde bilden. „Seid fröhlich, ihr Nationen, mit seinem Volk“ (Röm 15,10). „Und es wird geschehen am Ende der Tage, dass der Berg des Hauses Jehovas wird festgestellt sein auf dem Gipfel der Berge und erhaben über die Hügel, und alle Nationen werden zu ihm strömen. Und viele Völker werden hingehen und sprechen: Kommt, lasst, uns hinaufgehen auf den Berg Jehovas, zum Haus des Gottes Jakobs! ... Denn von Zion wird ausgehen das Gesetz, und das Wort Jehovas von Jerusalem“ (Jes 2,2–4). Das ganze Hohelied, sowie die Kapitel 49, 60, 62, 65 und 66 des Propheten Jesaja und viele andere Stellen beschreiben die Herrlichkeit des Jerusalems jener Tage. Sie ist „die Stadt des großen Königs“ (Mt 5,35). „Und der Name der Stadt soll von selbigem Tag an sein: Jehova daselbst“ (Hes 46,35). „In selbiger Zeit wird man Jerusalem nennen: Thron Jehovas; und alle Nationen werden zu ihr versammelt werden, um des Namens Jehovas willen, zu Jerusalem usw“ (Jer 3,17). Von ihr wird sich die Herrlichkeit des Herrn ausbreiten über die ganze Erde, wie geschrieben steht: „So wahr ich lebe, so soll von der Herrlichkeit Jehovas erfüllt werden die ganze Erde“ (4. Mo 14,21). „Aus Zion, der Schönheit Vollendung, bricht Gott mit Glanz hervor“ (Ps 50,2). „Es kommt – ich habe beschlossen, zu versammeln alle Nationen und Zungen, sie werden kommen und meine Herrlichkeit sehen“ (Jes 66,18). „Denn die Erde wird voll werden von Erkenntnis der Herrlichkeit Jehovas, wie die Wasser das Meer bedecken“ (Hab 2,14). (Fortsetzung folgt)

Fußnoten

  • 1 Diese Worte bezeichnen nicht den Anfang Christi zu irgendeiner Zeit, sondern enthalten, wie dies aus dem Folgenden deutlich hervorgeht, den Titel, der Ihm, als Schöpfer aller Dinge, zukommt.
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