Botschafter des Heils in Christo 1882

"Wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?"

Wir müssen uns wohl hüten, „Glaubensproben“ – so wertvoll und unentbehrlich sie auch für unsere Erziehung sind – mit der „Zucht“ zu verwechseln. Im Grund bildet das ganze Leben eines treuen Gläubigen eine fortgesetzte Prüfung seines Glaubens. Gott unterwirft den Glauben, den Er uns gegeben hat, mancherlei Hebungen, die alle diesen Glauben stärken sollen, wie der Wind die Wurzeln der Bäume befestigt. Diese Übungen sollen zur Ehre und zum Lob des Gebers alles Glaubens, des Spenders jeder Prüfung mitwirken. Niemals prüft Gott die ungläubigen Kinder der Welt. Das Kreuz Christi war das Endergebnis der letzten Probe, auf welche das Geschlecht des ersten Adam gestellt wurde. Jetzt prüft Er nur den Glauben, nur seine Kinder. „Und du, Jehova der Heerscharen, der den Gerechten prüft, der Nieren und Herz steht“ (Jer 20,12). Für uns Christen ist jede Prüfung – wenn wir anders in Unabhängigkeit von dem Fleisch nach dem Geist wandeln – eine Gelegenheit, um die Wahrheit des Wortes zu bezeugen: „Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.“ Der Herr Jesus, der uns zum Vater geführt hat, kann nicht anders, als denjenigen bis ans Ende erretten, der sich Ihm in allen Dingen übergibt. Es gibt zwei Gründe, um welcher willen Gott uns noch in der Welt lässt, nachdem wir sein eigen geworden sind: unsere Erziehung und unser Dienst inmitten der Versuchungen und Fallstricke des christlichen Lebens. Hat man diese Gründe erkannt, so sind sie wohl geeignet, uns wachsam und eifrig für sein Zeugnis und hingebend in Bezug auf seine Verherrlichung zu machen.

Um uns zu erziehen, hält Gott uns in seiner väterlichen Schule, in seiner geduldigen, werten Zucht. Er will, dass wir wachsen in seiner Erkenntnis, in dem vertrauten Umgang mit Ihm; mit einem Wort, Er will uns fähig machen, Ihn zu verehren und Ihm in gesegneter Weise zu dienen. Während seines Weilens hienieden befindet sich jeder Christ in der Schule Gottes, seines Vaters – und dies ist die Schule des Heiligen Geistes: „Denn so viele durch den Geist Gottes geleitet werden, diese sind Söhne Gottes“ (Röm 8,14); und: „Ich sage aber: Wandelt im Geist, und ihr werdet die Lust des Fleisches gar nicht vollbringen; denn das Fleisch gelüstet Wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch; diese aber sind einander entgegengesetzt, auf dass ihr nicht das tut, was ihr wollt.“

Wären wir immer aufmerksam auf die Leitung des Heiligen Geistes durch das Wort und Ihm unterworfen, so würde der Vater nie gezwungen sein, durch die Umstände einzugreifen, und noch weniger die Rute zu gebrauchen; nichtsdestoweniger wirken alle diese Dinge zusammengenommen zu unserem Besten. Wenn wir die Schule Gottes verlassen, so treten wir in die Herrlichkeit ein, welche wir mit Bestimmtheit erwarten. Es ist wahr, dass wir diese Herrlichkeit schon jetzt im Angesicht Jesu Christi im Glauben durch Geist und Wort genießen; aber dann wird es in Wirklichkeit der Fall sein, wir werden sie tatsächlich besitzen in den Wohnungen des Vaters und in seiner Gegenwart. Doch fragen wir uns: Ist es wirklich schon hienieden unsere Freude, dieses wahre, ewige Glück im Glauben zu genießen? Ist es der Fall, so besitzen wir gewissermaßen schon den Himmel auf der Erde. „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3,18).

Nun aber sind Schule und Erziehung unzertrennlich mit der Zucht verbunden; denn in der Schule des Herrn ist außer dem Unterricht auch die Rute nötig (Heb 11–12). Es ist sehr wichtig, dass wir uns niemals entmutigen oder gar erbittern lassen, wenn es uns an einer Antwort auf gewisse Fragen fehlt, die unter jungen Schülern nicht ungewöhnlich sind, wie z. B.: Was hat der Herr mit mir vor? Weshalb führt Er mich gerade so? Warum alle diese Umstände und Schwierigkeiten? – Ich will versuchen, in dem Folgenden zu zeigen, woher diese Fragen entstehen und wie sie in der Gegenwart Gottes zu beantworten sind.

Unser Gott ist außerordentlich gnädig und langmütig. Zunächst lässt Er Warnungen in ungemein verschiedener Gestalt an uns gelangen (vgl. Hiob 33,14 usw.), wenn wir Neigung zeigen, einen verkehrten Weg einzuschlagen. Vernachlässigen oder verachten wir diese Warnungen, so folgen Verweise; Dornen, Hecken, Gräben, Hindernisse aller Art stellen sich uns in den Weg und durchkreuzen unsere Pläne, und wir können uns glücklich schätzen, wenn wir – dadurch aufmerksam gemacht – stille stehen und umkehren in heiliger Hast, um, wenn möglich, die verlorene Zeit wieder einzuholen. Verharren wir aber als unfolgsame Kinder trotz allem auf unserem schlechten Wege, so folgen die Gerichte, oder, wenn man will, die Strafen verschiedenen Grades. Ihr Zweck ist, uns in die Gegenwart Gottes, in die Abhängigkeit von Ihm zurückzuführen und uns Kraft zu geben, um uns zunächst selbst zu richten und dann zu bekennen und von unseren Übertretungen abzulassen. „Wer vollkommen wandelt, wird gerettet; wer aber verkehrt auf zwei Wegen geht, wird auf einem fallen“ (Spr 28,18). „Wer seine Übertretung zudeckt, wird nicht glücklich sein; wer sie aber bekennt und lasst, wird Barmherzigkeit erlangen“ (Spr 28,13). „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, dass Er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit“ (1. Joh 1,9). „Bekennt einander nun die Vergehungen und betet für einander, damit ihr geheilt werdet; das inbrünstige Gebet eines Gerechten vermag viel“ (Jak 5,16). Lassen wir uns aber auch durch die Gerichte nicht weisen und sind am Rand des Verderbens, am Abgrund angekommen, so muss Gott uns gleichsam zu seinem Staub zermalmen. Was Gottesfurcht und Glaube, was Warnungen und Gerichte nicht zu Stand gebracht haben, müssen dann die Umstände bewirken. Aber ach! wie viele liebe Kinder Gottes bleiben bei alledem unempfindlich und gefühllos und gehen in Gleichgültigkeit und Weltliebe auf dem einmal eingeschlagenen Pfade vorwärts! Allein der Vater kann sie nicht verderben lassen, weil sie Pflanzen sind, die Er selbst gepflanzt hat. Es bleibt ihm endlich nichts anderes übrig, als die Unverbesserlichen aus der Schule zu jagen, d. h. sie durch den leiblichen, frühzeitigen Tod hinwegzunehmen. „Deshalb sind viele unter euch schwach und krank und ein gut Teil entschlafen“ (1. Kor 11,30). „Wenn jemand seinen Bruder sündigen steht eine Sünde nicht zum Tod ... es gibt Sünde zum Tod ... und es gibt Sünde nicht zum Tod“ (1. Joh 5,16–17). Der Geist zwar wird gerettet am Tag des Herrn Jesus, aber alle Hoffnung auf Fortschritte und Wachstum sind vernichtet, ebenso die Freude und der Ruhm, Gott zu dienen auf der Erde und Zeugnis abzulegen von seiner Gnade. Welch eine traurige Sache! Für die Ewigkeit eine Frucht zu sein, die vor der Reife, zu der sie bestimmt war, gepflückt ist. Ich bezweifle nicht, dass ein jeder Geretteter dort oben im Licht vollkommen glücklich sein und Gott die Ehre geben wird für seine Führungen in Bezug auf alle seine Kinder, folglich auch auf sich selbst. Aber die lautere und vollkommene Gnade Gottes des Vaters muss stets in Heiligkeit und Gerechtigkeit mit allem handeln, was zu seinem Haus gehört; und wie keine Schule möglich ist ohne Regel und Zucht, so müssen auch die unverbesserlichen Schüler von dem Herrn gerichtet und gezüchtigt werden, damit sie nicht dem Gericht der Welt anheimfallen. Und werden sie nicht, einmal gerettet, in der Herrlichkeit von tiefer Dankbarkeit durchdrungen sein?

Es ist im Anfang gesagt worden, dass es zwei Gründe gebe, um derentwillen Gott seine Auserwählten auf der Erde lasse, nachdem Er sie durch den Sohn zu sich gezogen: Erziehung und Dienst. Ich denke, dass moralisch der Dienst auf die Schule, von der wir oben gesprochen haben, folgt, wie die Meisterschaft auf die Lehrzeit. Der kindliche Dienst lässt weder Eigenliebe, noch Übertretung, noch eignen Willen zu. Dienen wir wirklich Gott, so muss die Welt notwendiger Weise es sehen. Dieser tägliche Dienst, verbunden mit dem öffentlichen gemeinschaftlichen Gottesdienst, bildet das, was wir das Zeugnis nennen. Gott bildet, erzieht und bewahrt die Seinen hienieden, damit sie vor der Welt Zeugen seiner Ehre und seiner Gnade in dem seien, den die Welt gekreuzigt hat.

Für uns handelt es sich stets darum, unsere festen Beziehungen – als aus Gott geboren – als teilhaftig der göttlichen Natur – zu pflegen. Außer Christus können wir nichts tun, höchstens tote Werke, die völlig wertlos sind und durch sein Blut ausgelöscht werden mussten. Beachten wir deshalb die Worte des Herrn: „Bleibt in mir! Bleibt in meiner Liebe!“

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