Betrachtungen über den Propheten Daniel
Botschafter des Heils in Christo 1881

Betrachtungen über den Propheten Daniel - Teil 16/16

Kapitel 12

Es möchte jedoch gefragt werden: Finden wir nicht in Lukas 21, wo uns durch den Evangelisten dasselbe Gespräch des Herrn mit seinen Jüngern mitgeteilt wird, eine direkte Anspielung auf die Zerstörung Jerusalems? Allerdings; in diesem Punkt weicht Lukas von Matthäus ab. Während der letztere nur von der Zeit des Endes redet, berührt der erstere beide Gegenstände, aber unterscheidet sie zugleich in der bestimmtesten Weise. Schon die Frage der Jünger ist bei Lukas eine andere, als bei Matthäus. Sie fragen: „Lehrer, wann wird denn dies sein, und welches ist das Zeichen, wann dies geschehen soll?“ (Lk 21,7) Es handelt sich hier nicht um die Ankunft des Herrn und die Vollendung des Zeitalters, sondern zunächst nur um die direkte Erfüllung der Worte des Herrn. Die Antwort Jesu ist dem entsprechend. Er versetzt seine Jünger nicht sogleich in die Zeit des Endes, sondern teilt ihnen die Eroberung der Stadt durch die Römer mit und folgt dann dem Lauf der Geschichte bis zu den letzten Tagen hin. „Wenn ihr aber seht, dass Jerusalem von Heerscharen umzingelt wird, alsdann erkennt, dass ihre Verwüstung nahegekommen ist. Dass alsdann, die in Judäa sind, auf die Berge fliehen, und die in ihrer Mitte sind, daraus entweichen usw“ (V 20–21). Lukas spricht kein Wort von dem Gräuel der Verwüstung, stehend an heiligem Ort; dagegen führt er einen Umstand ein, den wir bei Matthäus nicht finden – die Umzingelung Jerusalems von Heerscharen. „Denn dies sind Tage der Rache, dass erfüllt werde alles, was geschrieben steht“ (V 22). Es ist bewundernswürdig, wie bestimmt und genau der Heilige Geist sich ausdrückt. Er lässt Lukas nicht sagen: „Dies sind die Tage der Drangsal, dergleichen von Anfang der Welt bis jetzt hin nicht gewesen sind und auch nicht sein werden.“ Das würde weder auf die Zerstörung Jerusalems durch Titus angewandt werden können, noch dem Zusammenhang in diesem Kapitel entsprechen. Ferner lesen wir nicht, dass um der Auserwählten willen die Tage der Rache verkürzt werden sollen, noch auch, dass der Herr erscheint und seine Engel aussendet, um seine Auserwählten von allen Enden der Erde zu sammeln. Es heißt vielmehr in dem 23. und 24. Vers: „Wehe aber den Schwangeren und Säugenden in jenen Tagen! denn große Not wird in dem Land sein, und Zorn über dieses Volk. Und sie werden fallen durch die Schärfe des Schwertes und gefangen weggeführt werden unter alle die Nationen; und Jerusalem wird zertreten werden von den Nationen, bis dass die Zeiten der Nationen erfüllt werden.“ Diese Worte zeigen sehr deutlich den Unterschied zwischen Matthäus und Lukas. Der letztere redet bis zum Schluss des 24. Verses nur von der Zerstörung Jerusalems durch Titus, von der Zerstreuung des Volkes unter alle Nationen und von der Zertretung Jerusalems bis zur Erfüllung der Zeiten der Nationen. Wie schon wiederholt bemerkt, sind diese Zeiten der Nationen noch nicht erfüllt. Seit den Tagen Nebukadnezars sind sie dahingerollt bis zu dem gegenwärtigen Augenblick, ohne einen Abschluss gefunden zu haben. Doch sie werden bald endigen. Erst mit dem 25. Verse beginnt die Schlussszene, die Erfüllung der Zeiten der Nationen. „Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen und auf der Erde Bedrängnis der Nationen in Ratlosigkeit bei brausendem Meer und Wasserwogen, indem die Menschen verschmachten vor Furcht und Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen; denn die Kräfte der Himmel werden erschüttert werden. Und dann werden sie sehen den Sohn des Menschen, kommend in einer Wolke, mit Macht und großer Herrlichkeit“ (V 25–27).

Die Zeit, von welcher Daniel redet, muss also, nach den bestimmten Erklärungen der Heiligen Schrift, sowohl Alten wie Neuen Testaments, eine zukünftige sein. Nachdem dieses festgestellt ist, können wir die Betrachtung unseres Kapitels wiederaufnehmen. Durch die Worte des Engels ist Daniel über das Schicksal der in das Land Palästina zurückgekehrten Juden unterrichtet und beruhigt. Er vernimmt, dass sie durch eine unerhörte und unvergleichliche Drangsal gehen sollen, dass aber endlich alle diejenigen, deren Namen im Buch des Lebens geschrieben gefunden werden (d. h. der kleine, treue Überrest, der sich an Gott anklammert und durch den brennenden Ofen der Trübsal geläutert wird), errettet und befreit werden. Jetzt bleibt für ihn nur noch eine Frage übrig: Was wird aus allen denen werden, die zu jener Zeit noch nicht nach Judäa und Jerusalem zurückgekehrt sind, und in Folge dessen auch nicht die Gegenstände der bewirkten Befreiung sein können? Auf diese Frage gibt der 2. Vers eine völlig genügende Antwort. „Und viele von denen, die im Staub der Erde schlafen, werden erwachen – diese zum ewigen Leben, und jene zur Schande und zu ewigem Abscheu.“ ich weiß wohl, dass man gewöhnlich, dem Wortlaut entsprechend, in dieser Stelle eine leibliche Auferweckung Israels zu finden meint. Allein ich kann nicht glauben, dass diese Auffassung richtig ist. Vielmehr scheint es mir, dass der Heilige Geist hier das Bild der Auferstehung gebraucht, um uns dadurch die gesegnete Wiederherstellung des Volkes, oder wenigstens eines Teiles desselben, aus einem Zustand des tiefsten Verderbens in lebendiger Weise vor Augen zu führen. Dies ist durchaus nichts Ungewöhnliches. Die Auferstehung wird in dem Wort Gottes oft in einem bildlichen Sinne gebraucht. So z. B. in Jesaja 26,13–14, wo wir lesen: „Jehova, unser Gott, über uns haben Herren geherrscht außer dir, nur in dir sind wir eingedenk deines Namens. Sie sind tot, sie werden nicht leben, sie sind gestorben, sie werden nicht auferstehen; darum hast du sie heimgesucht und sie vertilgt, und hast all ihr Gedächtnis zunichtegemacht.“ Offenbar kann hier von einer Auferstehung im buchstäblichen Sinne keine Rede sein. Denn alle Menschen, auch jene Beherrscher Israels, werden einst wieder auferstehen, um gerichtet zu werden. Es ist vielmehr die Vernichtung ihrer Gewalt, um die es sich hier handelt. Jehova hat sie heimgesucht und vertilgt, und „sie werden nicht auferstehen“, d. h. sie werden nie wieder die Herrschaft über Israel besitzen.

Dann lesen wir weiter: „Du, Jehova, hast vermehrt die Nation, du hast vermehrt die Nation, du hast sie verherrlicht, du hattest sie weit entfernt nach allen Enden der Erde“ (V 15). Es liegt auf der Hand, von welcher Nation der Prophet hier redet. Es ist Israel, das von Gott über die ganze Erde zerstreute Volk. In seiner Bedrängnis schreit es zu Jehova und schüttet vor Ihm sein stilles Gebet aus. Nach seinem eignen Bekenntnis ist es vor dem Angesicht des Herrn wie eine Schwangere, die sich dem Gebühren nähert und in ihren Wehen schreit (V 16–18). Auf sein Rufen antwortet Jehova: „Deine Toten werden leben, wie mein Leichnam werden sie auferstehen.“ Er betrachtet sie als sein Eigentum, trotzdem sie sich so schwer versündigt haben und in einem so traurigen, elenden Zustand sind. „Wie mein Leichnam werden sie auferstehen. Wacht auf und jubelt, die ihr im Staub wohnt! denn dein Tau wird sein ein Tau der grünen Kräuter, und die Erde wird auswerfen die Toten“ (V 19). Dass hier wieder nicht an wirklich Gestorbene und an deren Auferweckung zu denken ist, braucht kaum gesagt zu werden. Der ganze Zusammenhang der Stelle spricht dagegen. Alle, „die im Staub wohnen“, beachten (wir hier die genaue, fast wörtliche Übereinstimmung mit Daniel) werden aufgefordert aufzuwachen und zu jubeln. Weshalb? Weil ihre Herren, und Unterdrücker verschwunden sind, vertilgt durch Jehova selbst. Israel ist augenblicklich als Volk gleichsam ein toter Körper, den der Herr einst wieder ins Leben zurückrufen wird.

„Und viele von denen, die im Staub der Erde schlafen, werden erwachen“; das will sagen: Viele von denen, die noch nicht im Land sind, sondern sich in völliger Verborgenheit und Erniedrigung unter allen Nationen der Erde zerstreut befinden und bis zu jenem Augenblick gleichsam im Staub der Erde geschlafen haben, werden von Jehova selbst zum Vorschein gebracht und nach Palästina zurückgeführt werden – „diese zum ewigen Leben und jene zur Schande und zu ewigem Abscheu.“ Schon diese Worte schließen jede Möglichkeit aus, hier an die Auferstehung der Gerechten denken zu können; denn wenn diese stattfindet, werden alle zu ewigem Leben auferweckt werden. Die Stelle hat durchaus nichts mit einer leiblichen Auferstehung zu tun, sondern spricht von dem nationalen Wiederaufleben Israels aus einem Zustand der tiefsten Erniedrigung, aus „dem Staub der Erde.“

Doch es gibt noch eine Stelle, die vor allen anderen geeignet scheint, die Wahrheit des Gesagten zu bestätigen. Sie enthält eine sehr klare Darstellung von dem dereinstigen Wiederaufleben des Volkes Israel. Während Jesajas von Israel als einem toten Körper, einem Leichnam, spricht und Daniel die Juden betrachtet, als schlafend in dem Staub der Erde, geht der Prophet Hesekiel noch weiter und stellt sie unter dem Bild von verdorrten Gebeinen vor unser Auge. Ich führe die ganze Stelle wörtlich an: „Die Hand Jehovas war auf mir, und Jehova führte mich hinaus im Geist und ließ mich in der Mitte eines Tales nieder; und es war voller Gebeine. Und Er ließ mich rings, ringsum an ihnen vorübergehen, und siehe, ihrer waren sehr viele auf der Fläche des Tales, und siehe, sie waren sehr verdorrt. Und Er sprach zu mir: Menschensohn, werden diese Gebeine lebendig werden? Und ich sprach: Herr Jehova, du weißt es. Und Er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, hört das Wort Jehovas! So spricht der Herr Jehova zu diesen Gebeinen: Siehe, ich werde den Odem in euch bringen, und ihr werdet lebendig werden. Und ich werde euch Sehnen geben und Fleisch auf euch kommen lassen und euch mit Haut überziehen und den Odem in euch geben, und ihr werdet lebendig werden, und ihr werdet wissen, dass ich Jehova bin. Und ich weissagte, wie mir befohlen war; und es ward ein Getöse, als ich weissagte, und siehe, ein Geräusch, und die Gebeine näherten sich, Gebein zu Gebein. Und ich sah, und stehe, es wurden Sehnen darauf, und es kam Fleisch darauf; und Er zog eine Haut darüber obenher, aber es war kein Odem in ihnen“ (Hes 37,1–8). Es ist kaum begreiflich, wie man im Ernst daran denken kann, dass dieses Gesicht eine Darstellung der Auferstehung der Gläubigen bei der Ankunft des Herrn enthalten soll. Ganz abgesehen von der Erklärung, welche Gott nachher gibt, ist die ganze Sprache nicht dazu angetan, um einen solchen Gedanken nur für einen Augenblick aufkommen zu lassen. Werden sich, wenn unsere Leiber einst durch den Machtruf des Herrn aus ihren Gräbern hervorkommen werden, zuerst die einzelnen Gebeine zusammenfinden, wird dann Fleisch und Sehnen auf sie kommen und zum Schluss eine Haut darüber gezogen und den so wiederhergestellten Leibern ein Odem eingehaucht werden? Sicherlich nicht. Die Beschreibung, welche uns der Heilige Geist durch den Mund des Paulus von jenem herrlichen Augenblick gibt, lautet völlig anders (vgl. 1. Kor 15,51–55; 1. Thes 4,13–18). Ebenso unbegreiflich ist es aber auch, dass man in diesem Gesicht ein Bild von der Wirksamkeit des Evangeliums auf die Seelen finden will.

„Und Er sprach zu mir: Weissage zum Wind, weissage, Menschensohn, und sprich zum Wind: So spricht der Herr Jehova: Du, Wind, komm von den vier Winden und hauche in diese Getöteten, dass sie lebendig werden! Und ich weissagte, wie Er mir befohlen hatte; und es kam der Odem in sie, und sie wurden lebendig und standen auf ihren Füßen, ein überaus großes Heer. Und Er sprach zu mir: Menschensohn, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, sie sprechen: Verdorrt sind unsere Gebeine, und verloren ist unsere Hoffnung; wir sind unserseits abgeschnitten. Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht der Herr, Jehova: Siehe, ich werde eure Gräber öffnen und euch herauf kommen lassen aus euren Gräbern, mein Volk, und euch in das Land Israel bringen. Und ihr werdet wissen, dass ich Jehova bin, wenn ich eure Gräber geöffnet und euch aus euren Gräbern habe heraufkommen lassen, mein Volk. Und ich werde meinen Geist in euch geben, und ihr werdet leben, und ich werde euch in euer Land setzen, und ihr werdet wissen, dass ich, Jehova, es geredet und es getan habe, spricht Jehova“ (V 9–14). Nichts könnte einfacher und verständlicher sein, als diese Erklärung, welche Gott selbst von dem Gesicht gibt. Er gebraucht das Bild der Auferstehung nur, um zu zeigen, in welch einem traurigen, hoffnungslosen Zustand Israel sich befindet, und wie allein seine Gnade und Macht im Stande ist, das Volk als solches wieder ins Leben zu rufen und in die verheißenen Segnungen „im Land“ einzuführen. Indem wir jetzt zu unserem Kapitel zurückkehren, ist es wichtig, zu bemerken, dass nicht alle, die aus ihrem Schlaf im Staub der Erde erwachen, errettet werden. Ein Teil erwacht zur Schande und zu ewigem Abscheu. Was ist die Ursache dieses Unterschieds? Nicht aller Namen werden geschrieben gefunden in dem Buch des Lebens. Dies zeigt uns, dass die Wiederherstellung Israels auch einen geistlichen Charakter tragen wird. Alle, die errettet werden, müssen geschrieben sein in dem Buch des Lebens, oder mit anderen Worten, sie müssen in Wahrheit göttliches Leben besitzen und aus Gott geboren sein.

Doch gibt es auch unter denen, die der göttlichen Errettung teilhaftig werden, noch einen Unterschied. „Und die Verständigen werden leuchten wie der Glanz der Ausdehnung, und die, welche die vielen zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich“ (V 3). Diese Verständigen sind ohne Zweifel solche, die während der Zeit der großen Drangsal sich durch eine genaue Kenntnis mit den Ratschlüssen und Gedanken Gottes ausgezeichnet haben. Sie werden leuchten, wie der Glanz der Ausdehnung, d. h. Gott selbst wird sie mit dem Glänze seiner Gnade bekleiden, weil sie während jener Periode des Aufruhrs und der Drangsal treu geblieben sind. Doch nicht nur sie, sondern auch alle „die, welche die vielen zur Gerechtigkeit gewiesen haben, werden leuchten wie die Sterne immer und ewiglich.“ Der Ausdruck „die Vielen“ bezeichnet hier wie an anderen Stellen die große Masse des jüdischen Volkes, welche durch jene frommen, treuen Seelen, die ohne Zweifel eine gewisse Kenntnis der göttlichen Wahrheiten besitzen, zur Gerechtigkeit gewiesen wird. Beachtenswert ist hier auch das Wörtchen „Gerechtigkeit.“ Es wird sich zu jener Zeit nicht mehr um die Predigt der Gnade handeln – diese findet in dem gegenwärtigen Augenblick statt – sondern die vielen werden zur Gerechtigkeit gewiesen. Wohl mögen jene Treuen die herrlichen Gedanken Gottes in Verbindung mit Israel verkündigen, allein es wird immer eine Unterweisung in Gerechtigkeit sein.

In dem nächsten Vers tritt uns ein höchst wichtiger Grundsatz entgegen: „Und du, Daniel, verschließe die Worte und versiegle das Buch bis zur Zeit des Endes. Viele werden alles durchforschen, und die Erkenntnis wird sich mehren“ (V 4). Der Prophet wird nicht nur, wie früher schon, darauf hingewiesen, dass die Dinge, welche er gesehen, und die Mitteilungen, die er empfangen hat, für die Zeit des Endes bestimmt sind, sondern auch aufgefordert, sie bis dahin zu versiegeln. Ferner erhält er, als er einige Verse später fragt: „Mein Herr, was wird das Ende von diesem sein?“ Zur Antwort: „Gehe hin, Daniel, denn diese Worte sind verschlossen und versiegelt bis zur Zeit des Endes. Viele werden gereinigt und weiß gemacht und geläutert werden; doch die Gesetzlosen werden gesetzlos handeln, und keine der Gesetzlosen werden es verstehen, aber die Verständigen (d. h. jene treuen Personen, von denen wir soeben geredet haben) werden es verstehen“ (V 8–10). Dies ist höchst beachtenswert. Johannes erhielt nach Empfang seiner Offenbarungen gerade den entgegengesetzten Befehl. Ihm wurde gesagt: „Versiegele nicht die Worte der Weissagung dieses Buches, die Zeit ist nahe“ (Kap 22,10). Woher dieser Unterschied? Die Antwort ist einfach. Der Christ und die Versammlung werden immer betrachtet, als am Ende der Zeit stehend. „Kindlein, es ist die letzte Stunde“, ruft Johannes den Gläubigen zu (vgl. auch 1. Kor 10,11; Heb 9,26). Zugleich hat die Gabe des Heiligen Geistes alles verändert. Für den Christen, der – so schwach und unwissend er auch sein mag – den Heiligen Geist persönlich in sich wohnend hat, ist nichts mehr versiegelt. Alles ist für ihn aufgeschlossen. Er besitzt den „Geist Christi“ und hat in Folge dessen Einsicht und Verständnis in die Wege und Ratschlüsse Gottes. Die Geheimnisse Gottes sind ihm offenbart, so dass Johannes sagen kann: „Ihr habt die Salbung von dem Heiligen und wisst alles“ (1. Joh 2,20). Der Herr gibt kurz vor seinem Hingang zum Vater den trauernden Jüngern die Verheißung, dass Er ihnen den Heiligen Geist senden werde, und sagt dann: „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, gekommen sein wird, so wird Er euch in die ganze Wahrheit leiten.“ Während kein noch so sorgfältiges Studium des Wortes Gottes dem natürlichen, ungläubigen Menschen Einsicht in die göttlichen Dinge geben kann, ist dem einfachsten Gläubigen durch die Macht Gottes und durch den Heiligen Geist, der in ihm wohnt, der Eingang in alle die Ratschlüsse und Geheimnisse Gottes geöffnet. Ja, es ist sein gesegnetes Vorrecht, da einzutreten und mit staunendem, anbetendem Herzen die Tiefe und Höhe und Länge und Breite der Gedanken Gottes in Bezug auf Israel, die Kirche, die Welt, Himmel und Erde, ja bezüglich des ganzen Weltalls zu erforschen.

Die Heiligen des Alten Testaments und mit ihnen Daniel und alle die Propheten hatten nicht den Heiligen Geist persönlich in sich wohnend. Allerdings redeten sie, getrieben von diesem Geist, aber das, was sie redeten, blieb ihnen selbst unverständlich. Der Heilige Geist war noch nicht persönlich auf diese Erde herniedergekommen. Wohl weissagten jene Männer von der für uns bestimmten Gnade und redeten von den Leiden, die auf Christus kommen sollten, und von den Herrlichkeiten danach, sie forschten und suchten, „auf welche oder welcherlei Zeit der Geist Christi, der in ihnen war, hindeutete“, allein ihr Verständnis war nicht geöffnet; ihre eignen Prophezeiungen blieben ihnen ein dunkles Rätsel, obwohl es ihnen offenbart war, dass sie nicht für sich selbst, sondern für uns die Dinge bedienten (1. Pet 1,10–12). Wir aber verstehen und genießen jetzt, belehrt durch den Heiligen Geist, jene Dinge. Wir werden betrachtet, als in der Zeit des Endes stehend, und alle die bis zu dieser Zeit versiegelten Prophezeiungen sind uns aufgeschlossen. Durch die Gnade von allen Fragen in Betreff unserer Sünden befreit, haben wir das Vorrecht, mit aller Zuversicht und Einsicht in die gesegneten Dinge Gottes einzutreten. Daniel besaß dieses Vorrecht nicht. Er musste bekennen: „Und ich hörte und verstand es nicht, und ich sprach: Was wird das Ende von diesem sein?“ und darauf die Antwort hören: „Gehe hin, Daniel, denn diese Worte sind verschlossen und versiegelt bis zur Zeit des Endes“ (V 8–9). Alles das ist wohl geeignet, unsere Herzen mit Lob und Dank zu erfüllen, zugleich aber sollte es auch ein tiefes Gefühl von unserer Verantwortlichkeit in uns hervorrufen. Denn je mehr uns gegeben, desto mehr wird von uns gefordert werden.

„Und ich, Daniel, sah, und siehe, es standen da zwei andere, der Eine hier am Ufer des Stromes, und der Andere dort am Ufer des Stromes. Und er sprach zu dem Mann, der mit Linnen bekleidet, der über dem Wasser des Stromes war: Bis wann verzieht sich das Ende der Wunder?“ Der Fragende, dessen Person nicht näher beschrieben wird, wahrscheinlich (einer der beiden am Ufer des Stromes stehenden Männer) wünscht Auskunft über die Zeit der Vollendung der Wege Gottes mit Israel. Er erhält eine ganz bestimmte, unzweideutige Antwort. „Und ich hörte den Mann, der mit Linnen bekleidet, der über dem Wasser des Stromes war, und er hob seine Rechte und seine Linke gen Himmel und schwur bei dem, der ewig lebt, dass nach einer Zeit, Zeiten und einer halben Zeit, und wenn vollendet sei die Zerstreuung der Macht des heiligen Volkes, alle diese Dinge vollendet werden sollen“ (V 5–7). Der Leser wird sich erinnern, dass der Ausdruck: eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit, wiederholt in der Heiligen Schrift gebraucht wird, um einen Zeitraum von drei und einem halben Jahre oder von 1260 Tagen zu bezeichnen. Nach dieser Zeit werden die Wunder, d. h. die Drangsale der Israeliten und ihre Befreiung aus denselben durch die mächtige Hilfe ihres Jehova, vollendet sein. Doch der Engel fügt noch die allgemeine Bestimmung hinzu, dass alle diese Dinge vollendet werden sollen, sobald die Zerstreuung der Macht des heiligen Volkes, d. i. Israels, ihr Ende erreicht hat. Die Frage Daniels: „Mein Herr, was wird das Ende sein?“ ruft dann die schon oben besprochene Aufforderung des Engels hervor, die Worte des Buches zu versiegeln bis zur Zeit des Endes. Bis dahin werden viele geläutert und gereinigt werden, die Gesetzlosen werden gesetzlos handeln, und keiner von ihnen wird die Weissagung verstehen; nur den Verständigen wird Einsicht darin gegeben werden.

„Und von der Zeit, da das beständige Opfer weggenommen und der Gräuel der Verwüstung aufgestellt sein wird, werden tausend zweihundert und neunzig Tage sein. Glückselig der, der erwartet und erreicht tausend dreihundert und fünfunddreißig Tage“ (V 11–12). Drei Zeitabschnitte von verschiedener Länge sind es, die hier unsere besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Der Erste ist jener von drei und einem halben Jahr oder 1260 Tagen; der Zweite umfasst 30 Tage oder einen Monat mehr; der Dritte endlich währt noch anderthalb Monate länger, beträgt also 1335 Tage. Unwillkürlich drängen sich die Fragen auf: Was bedeuten diese drei Zeiträume, und mit welchem Augenblick beginnen sie? Die letzte Frage beantwortet der 11. Vers: „Von der Zeit, da das beständige Opfer weggenommen und der Gräuel der Verwüstung aufgestellt sein wird.“

Die erste Frage ist ungleich schwerer zu beantworten, und ich maß mir nicht an, ein bestimmtes Urteil über die Bedeutung jener drei Abschnitte auszusprechen. Allein es scheint mir, als ob sie andeuteten, dass die Segnung nicht plötzlich über Israel kommen, sondern sich stufenweise, während des Verlaufes einiger Monate, entwickeln wird. Der Erste große Wendepunkt in der Geschichte jener Tage ist ohne Zweifel die Vernichtung „des Königs.“ Ich denke, dass diese am Schluss des ersten Zeitraumes von drei und einem halben Jahre oder von 1260 Tagen stattfinden wird. Nach dem Hinwegtun „des Königs“ wird sich Gott mit dem König des Nordens beschäftigen und ihn zu seinem Ende bringen (Kap 11,45). Ob aber dieses Gericht des Königs des Nordens nach Verlauf der 1290 oder der 1335 Tage in Ausübung kommen wird, nage ich nicht zu entscheiden. Aus Jesaja 10,12 scheint allerdings hervorzugehen, dass es eins der letzten Ereignisse vor dem Eintritt der völligen Segnung Israels, wenn nicht das allerletzte, ist. Es heißt dort: „Denn es wird geschehen, wenn der Herr wird vollendet haben sein ganzes Werk auf dem Berg Zion und zu Jerusalem, so werde ich heimsuchen die Frucht des Hochmuts des Herzens des Königs von Assyrien und die Pracht der Hoffart seiner Augen.“ Es sei dem jedoch, wie ihm wolle – das Eine ist gewiss, dass am Ende der 1335 Tage das ganze herrliche Werk der Segnung des israelitischen Volkes vollendet und es selbst in die Ruhe und den Frieden des tausendjährigen Reiches eingegangen sein wird. Der Engel preist daher jeden glückselig, „der erwartet und erreicht tausend dreihundert und fünfunddreißig Tage.“

Das Buch schließt mit einer trostreichen Verheißung für den Propheten. Er verstand in jenem Augenblick nicht den Sinn der ihm von Gott gegebenen Weissagung; er musste im Gegenteil hören, dass sie nicht für seine Zeit, sondern für die Zeit des Endes bestimmt sei. Sollte er nun jener herrlichen Segnungen, die seinem geliebten Volk zu Teil werden sollten, verlustig gehen? O nein! Er sollte auferstehen aus seinem Grab und Teil haben an der Errettung und Wiederherstellung seines Volkes. „Du aber gehe hin bis zum Ende; und du wirst ruhen und aufstehen in deinem Los am Ende der Tage.“ Köstliche Verheißung für das trauernde Herz des Propheten!

Indem ich hiermit die Betrachtungen über das inhaltsreiche, herrliche Buch Daniels schließe, bitte ich den Herrn, dass Er sie mit seinem reichen Segen begleiten und sie seinen geliebten Kindern zum Nutzen gereichen lassen möge. Ich bin mir tief bewusst, wie mangelhaft und schwach diese Arbeit ist; aber ich habe sie unternommen im Vertrauen auf den Herrn und mit dem innigen Wunsch, dass sie vielen seiner teuer Erkauften eine Erquickung und ein Segen auf dem Weg durch diese Wüste sein möchte. Der Herr wolle geben, dass sie nicht gelesen werde, um eine müßige Neugierde zu befriedigen, sondern mit dem aufrichtigen Verlangen, immer mehr einzudringen in die unergründlichen Tiefen der wunderbaren Ratschlüsse und Gedanken Gottes, damit Ihm mehr Lob und Dank und Anbetung aus unser aller Herzen dargebracht werde!

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