Betrachtungen über den Propheten Daniel
Botschafter des Heils in Christo 1880

Betrachtungen über den Propheten Daniel - Teil 7/16

Kapitel 7.

Nachdem das letzte der vier großen wilden Tiere auf diese Weise hinweggetan ist, sieht der Prophet ein neues Gesicht. „Ich sah in den Gesichten der Nacht und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn, und Er kam zu dem Alten der Tage, und sie führten Ihn vor Ihn hin, und Ihm ward Herrschaft und Herrlichkeit und Königreich gegeben, und alle Völker, Völkerschaften und Zungen dienten Ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergehen wird, und sein Königreich wird nicht zerstört werden“ (V 13–14). Der Alte der Tage repräsentiert hier, wie ich glaube, Gott selbst, während der Eine, der mit den Wolken des Himmels kommt, außer allem Zweifel Christus ist. 1 Er ist gleich dem Sohn eines Menschen und wird vor den Alten der Tage gebracht, um von Ihm Königreich und unumschränkte Herrschaft zu empfangen. Die Herrschaft Jehovas wird dem Menschen in der Person Christi anvertraut und an die Stelle des Königreichs des letzten Tieres gesetzt. Es ist zu beachten, dass das Königreich nicht eher von dem Sohn des Menschen übernommen wird, bis das Gericht ausgeübt ist. Christus wird das Tier durch seine Macht vernichten und danach seine Herrschaft antreten. Dasselbe fanden wir bei der Betrachtung des Zweiten Kapitels. Ein Stein ward losgerissen ohne Hände und zermalmte das gewaltige Bild Nebukadnezars, dass es wurde wie Spreu der Dreschtennen des Sommers, und dann erst wuchs er zu einem gewaltigen Berge an, der die ganze Erde erfüllte. Die Herrschaft des Sohnes des Menschen ist eine ewige, d. h. sie wird solange dauern, wie die Erde bestehen wird; denn wir haben es hier immer mit der Erde und nicht mit dem Himmel zu tun. Die jüdischen Propheten reden nur von dem tausendjährigen Reich; die Entfaltung der Ratschlüsse Gottes in Bezug auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, in Bezug auf die Kirche und ihre Berufung liegt ganz außerhalb des Gesichtskreises Daniels; sie bildet den Inhalt des Neuen Testaments. Dort hören wir von einer Zeit, wo alles, selbst der Sohn, seinem Gott und Vater unterworfen sein wird, auf dass Gott alles in allem sei (1. Kor 15,28).

Wir sind in unserer Betrachtung an dem letzten Abschnitt des Kapitels angelangt. Daniel, betrübt und zugleich erschreckt durch die Gesichte, die ihm gezeigt worden, naht sich einem der Dastehenden und erbittet sich von ihm Gewissheit über dies alles. Er erhält eine umfassende Erklärung, die sich, was wohl zu beachten ist, nicht allein mit den Gesichten selbst beschäftigt, sondern auch einen neuen Gegenstand hinzufügt, der von höchstem Interesse ist. Es ist dies immer der Fall in den göttlichen Schriften; wenn Gott sich in seiner Gnade herablässt, eine Erklärung über sein Wort zu geben, so werden wir niemals eine bloße Auslegung, sondern stets neue Offenbarungen hinzugefügt finden. In den Gesichten war weder von irdischen, noch von himmlischen Heiligen die Rede, in der, Erklärung werden beide eingeführt. Doch dürfen wir, ich wiederhole es, bei dieser Einführung der Heiligen durchaus nicht an die Kirche oder Versammlung denken. In den Gesichten selbst handelte es sich nur um die äußere Geschichte der vier Tiere und um das endliche Gericht des letzten derselben; sobald aber in irgendeiner Weise die Ratschlüsse Gottes entfaltet werden, ist die Beziehung der Heiligen zu jenen Ereignissen der Hauptgegenstand.

„Diese großen Tiere, deren vier sind – vier Könige werden aus der Erde aufstehen. Aber die Heiligen der hohen Örter werden das Königreich empfangen, und sie werden das Reich besitzen bis in Ewigkeit, ja bis in Ewigkeit der Ewigkeiten“ (V 17–18). Die Heiligen der hohen Örter werden das Königreich empfangen, und nicht der Sohn des Menschen allein. Wenn Er kommen wird, um das Reich in Empfang zu nehmen, so werden die Heiligen Ihn begleiten und an der Herrschaft Teil nehmen. Sie werden hier ebenfalls in Gegensatz gebracht zu den vier Tieren oder Königreichen der Erde. Es mag vielleicht auffallen, dass hier von diesen vier Tieren gesagt wird: „sie werden aus der Erde aufstehen“, da dieses mit dem Inhalt des zweiten Verses unseres Kapitels im Widerspruch zu stehen scheint. Allein es soll hier, wie ich glaube, nur ihr rein irdischer Ursprung, im Gegensatz zu dem Sohn des Menschen, der mit den Wolken des Himmels kommt, und den Heiligen der hohen Örter, dargestellt werden.

Danach begehrt der Prophet Gewissheit über das vierte Tier, das von allen anderen verschieden war, und über die zehn Hörner und über das andere kleine Horn, das heraufkam, das Augen hatte und einen Mund, der große Dinge redete, vor welchem drei Hörner abfielen, und welches – beachten wir diese in dem Gesicht nicht erwähnte Tätigkeit des Hornes – „Krieg führte wider die Heiligen und sie überwältigte, bis dass der Alte der Tage kam und das Gericht gegeben ward den Heiligen der hohen Örter, und die bestimmte Zeit kam und die Heiligen das Reich besaßen“ (V 21–22). Das ist der vornehmste Charakterzug des kleinen Horns; es führt Krieg wider die Heiligen, und es überwindet sie; jedoch nur bis zu dem Augenblick, wo der Alte der Tage kommt und das Gericht den Heiligen der hohen Örter gegeben wird. Die Ankunft des Alten der Tage macht den Verfolgungen und der Macht des kleinen Horns ein Ende; es fällt einem schrecklichen Gericht anheim. Diese Dazwischenkunft Gottes wird jedoch von noch zwei anderen wichtigen Ereignissen begleitet, die das Resultat derselben sind und das ganze bisherige Aussehen der Erde verändern. Das Gericht wird den Heiligen der hohen Örter gegeben, und die Heiligen empfangen das Reich.

Wir finden hier zwei besondere, unterschiedliche Klassen von Personen, die unter dem Namen: „Heilige“ eingeführt werden. Der ersten Klasse wird jener besondere Titel: „Heilige der hohen Örter“ beigelegt, während die Zweite einfach die „Heiligen“ oder „das Volk der Heiligen der hohen Örter“ genannt wird (V 27). Beide Klassen unterscheiden sich auch wesentlich in dem, was sie empfangen. Den „Heiligen der hohen Örter“ wird das Gericht gegeben; „die Heiligen“, oder „das Volk der Heiligen der hohen Örter“ empfangen das Reich. „Das Reich und die Herrschaft und die Größe der Königreiche unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen der hohen Örter gegeben werden; sein Reich wird ein ewiges Reich sein, und alle Herrschaften werden ihm dienen und gehorchen“ (V 27). Der Heilige Geist erwähnt hier nichts vom Gericht; denn die Verleihung des Gerichts ist auf die himmlischen Heiligen beschränkt (V 22). Andererseits sind, wie uns Vers 18 zeigt, die Heiligen der hohen Örter von dem Reich und der Herrschaft nicht ausgeschlossen; sie sind im Gegenteil die Ersten, welche das Königreich empfangen; allein die Heiligen oder das Volk der Heiligen der hohen Örter nehmen nur an dieser letzteren Segnung Teil.

Wer aber sind diese beiden Klassen von Heiligen? Beschäftigen wir uns zunächst mit der Ersten. Der Apostel schreibt an die Gläubigen zu Korinth, die mit einander rechteten, und das sogar vor Ungläubigen oder „Ungerechten“, wie Paulus sie nennt: „Wisst ihr nicht, dass die Heiligen die Welt richten werden?“ (1. Kor 6,2) Dies belehrt uns, dass sie, und in weiterem Sinn die ganze Kirche oder Versammlung, das Gericht empfangen werden. Allein dürfen wir unter jenen Heiligen, welche die Welt richten werden, ausschließlich die Versammlung verstehen? Gewiss nicht; es würde dies ebenso verkehrt sein, als wenn wir die Versammlung davon ausschließen wollten. Die Ausdrücke: „Die Heiligen“ in 1. Kor 6, und „die Heiligen der hohen Örter“ hier in Daniel sind viel allgemeiner und umfassen eine weit größere Zahl von Personen. Sie schließen alle jene Heiligen ein, die jemals mit dem Höchsten, 2 mit Gott in Verbindung gestanden haben und jetzt noch in Verbindung stehen. Es ist gerade diese Verbindung, die ihnen den Titel: „Heilige der hohen Örter“ verleiht. Es sind alle, deren Herzen droben sind, wo Christus ist – alle, die errettet werden, bevor Christus kommt und die Seinen zu sich versammelt – alle, die in den vergangenen Zeitaltern im Glauben gestorben und in Christus entschlafen sind – alle die Heiligen endlich, welche durch die große Drangsal gehen und als ein Opfer der Verfolgungen des Tieres und des falschen Propheten sterben müssen. Alle diese sind „Heilige der hohen Örter“; sie alle „empfangen das Königreich und werden das Reich besitzen bis in Ewigkeit, ja bis in Ewigkeit der Ewigkeiten“ (V 18); und ihnen allen „wird das Gericht gegeben“ (V 22).

Die zweite Klasse, die „Heiligen“ (V 22), oder „das Volk der Heiligen der hohen Örter“ (V 27), empfängt, wie schon oben bemerkt, ebenfalls das Reich. Allein wenn wir den 27. Vers mit Aufmerksamkeit lesen, so werden wir auch hierin einen bemerkenswerten Unterschied von jener ersten Klasse finden. „Aber das Reich und die Herrschaft und die Größe der Königreiche unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen der hohen Örter gegeben werden.“ Während jene Heiligen sich im Himmel befinden und von dort aus über die Erde herrschen, ist ihr Volk auf der Erde und empfängt die Herrschaft unter dem ganzen Himmel. Wir haben, wie ich nicht zweifle, unter diesem Volk alle die Heiligen zu verstehen, welche bei der Ankunft des Alten der Tage noch auf der Erde sein werden.

Über die Erklärung der geschichtlichen Einzelheiten des kleinen Horns, die mit dem 23. Verse beginnt, können wir hinweggehen, da wir schon bei der Betrachtung des Gesichts in ausführlicher Weise davon gesprochen haben. Nur möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine besondere Seite der Tätigkeit des kleinen Horns richten, die uns hier zum ersten Male entgegentritt. Es heißt in Vers 25: „Und er (der elfte König, das kleine Horn) wird Worte reden Wider den Höchsten und die Heiligen der hohen Örter wird er zerstören und wird bestimmte Zeiten und Gesetze zu verändern gedenken; und sie werden auf eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit in seine Hände gegeben werden.“ Wir haben schon oben gehört, dass das kleine Horn Lästerungen Wider den höchsten Gott ausstoßen und die Heiligen überwältigen und zerstören wird. Hier aber wird noch eine neue Sache hinzugefügt. Es wird auch bestimmte Zeiten und Gesetze zu verändern gedenken, und diese, nämlich die Zeiten und Gesetze, werden auf eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit, d. h. für drei und ein halbes Jahr, in seine Hände gegeben werden. Unter den hier erwähnten bestimmten Zeiten haben wir, wie ich glaube, religiöse Feste und Einrichtungen zu verstehen. Die in ihr Land zurückgekehrten Juden werden ihre religiösen Formen und Gebräuche wieder einrichten, und diese wird das Horn in seiner Bosheit und seinem Übermut ganz beseitigen, umso das letzte Zeugnis – denn ein solches ist es immerhin, wenn auch in den Augen Gottes völlig wertlos, weil die Wiederherstellung jener Feste im Unglauben geschieht – für das Dasein eines Gottes von der Erde zu verbannen.

Man hat oft gesagt, dass die Heiligen während jenes Zeitraums von drei und einem halben Jahr in die Hände des kleinen Horns gegeben würden. Doch ist dies ein großer Irrtum. Gott wird niemals die seinigen in die Hände seiner Feinde geben. Er mag wohl zu ihrem Besten erlauben, dass sie eine Zeitlang verfolgt werden, aber nimmer überlässt Er sie auch nur für einen Augenblick der Willkür und Wut ihrer Verfolger. Er kann und wird die Seinen nicht verlassen, noch versäumen. Niemand kann sie aus seiner, noch aus der Hand des Vaters rauben (Joh 10,27–29).

Wir haben also im vorliegenden Kapitel zuerst die Macht der vier Tiere im Allgemeinen, dann das kleine Horn, welches sich zum Oberhaupt des vierten Reiches erhebt, drei von den zehn Königen vernichtet, sich in verwegenem Stolz gegen den Höchsten auflehnt, die Heiligen, die sich mit dem Gott des Himmels eins machen und jener Anmaßung gegenüber ein treues Zeugnis aufrecht halten, verfolgt und überwindet, und endlich alle die jüdischen Einrichtungen abschafft und jede Spur einer Religion von der Erde beseitigt. Zur bestimmten Zeit wird das Gericht über diese aufrührerische Macht ausgeübt und den Heiligen der hohen Örter gegeben. Zugleich empfangen diese mit Christus das Königreich und die Herrschaft, und in Verbindung mit ihnen und in Abhängigkeit von ihnen wird das irdische Volk in die Herrschaft über die Königreiche unter dem ganzen Himmel eingesetzt.

In den Handlungen und Ratschlüssen Gottes bezüglich der Erde lassen sich drei wichtige Abschnitte unterscheiden. 1. Gott hat seinen irdischen Thron in Jerusalem aufgegeben und den heidnischen durch seine Autorität aufgerichtet. Diese heidnische Macht empört sich jedoch wider Ihn, der ihr Ansehen und Gewalt verliehen hat. – 2. Die Heiligen werden durch ihre Anerkennung Gottes, den jene Macht verwirft, abgesondert. Sie sind von oben, von dem Himmel, wo Gott nach Aufgabe des Thrones zu Jerusalem jetzt seinen Platz und seinen Thron hat. – 3. Das Gericht wird über jene Macht, die sich gegen Gott auflehnt, ausgeführt und den himmlischen Heiligen gegeben. Das irdische Volk der Heiligen empfängt die Herrschaft unter dem Himmel.

In Verbindung hiermit offenbart sich der Herr nicht in der Gestalt des in Zion als König anerkannten Messias, sondern als „Einer, wie eines Menschen Sohn.“ Dieser Titel ist von weit größerer und ausgedehnterer Bedeutung. Es ist der durch seine Verwerfung hervorgebrachte Übergang von Psalm 2 zu Psalm 8. Zugleich sehen wir, dass der, welcher kommt, um der Macht, die die Heiligen verfolgt, ein Ende zu machen, der Alte der Tage selbst ist, d. h., dass Christus Jehova ist. Die Heiligen tragen in diesem Kapitel einen besonderen Charakter. Sie befinden sich in einer leidenden Stellung, da die Erde, so zu sagen, in die Hand des Bösen gegeben ist und sie von demselben verfolgt und überwältigt werden. Sie blicken deshalb auf zum Himmel, erkennen den höchsten Gott an und erwarten aus seiner Hand ihre Befreiung. Sie erheben sich im Geist über die Erde und schauen aufwärts zu Ihm hin, der im Himmel regiert (Fortsetzung folgt).

Fußnoten

  • 1 In der Offenbarung finden wir bei der Beschreibung des Sohnes des Menschen mehrere der herrlichen Eigenschaften wieder, die hier dem Alten der Tage zugeschrieben werden. Im 1. Kapitel jenes Buches heißt es: „Und ich sah einen gleich dem Sohn des Menschen, angetan mit einem bis zu den Füßen reichenden Gewände; sein Haupt aber und seine Haare weiß wie weiße Wolle, wie Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme.“ Von dem Alten der Tage lesen wir: „Sein Kleid war weiß wie Schnee, und das Haar seines Hauptes wie reine Wolle, sein Thron Feuerflammen usw.“ Daniel sieht Christus einfach als Mensch, während Johannes Ihn als Mensch und zugleich als Gott erblickt.
  • 2 Wir finden in der Heiligen Schrift vier Namen für Gott, welche die verschiedenen Beziehungen bezeichnen, in welche Er zu den Menschen getreten ist. Er ist der „Allmächtige“ in Verbindung mit Abraham und den Patriarchen (1. Mo 17). „Jehova“ in Verbindung mit Israel (2. Mo 6). Uns, den Christen, hat Er sich als „Vater“ offenbart (Joh 17). Hier in Daniel wird Er der „Höchste“ genannt, und dies ist auch der Titel, den Er im tausendjährigen Reich annehmen wird. Es ist der Ausdruck der unumschränkten Herrschaft und Oberhoheit Gottes über alles, was Gott genannt wird. Wir lesen in 1. Mose 14, dass Melchisedek (ein Vorbild Christi als König und Priester, als Priester auf seinem Thron in der zukünftigen Welt, als König der Gerechtigkeit und König des Friedens) hervortritt und den Abraham, als er von der Schlacht der Könige zurückgekehrt war, (ein Bild der Befreiung und des endlichen Sieges Israels in den letzten Tagen) segnet von Seiten „Gottes, des Höchsten, der Himmel und Erde besitzt“, und den Höchsten preist in Abrahams Namen. Der Name „Vater“ bewirkt einen Unterschied in der ganzen Stellung des Gläubigen, indem Er ihn mit Christus, dem Sohn, in welchem Gott sich offenbart hat, vereinigt. Er steht jetzt vor Gott wie Christus selbst.
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