Botschafter des Heils in Christo 1880

Die Liebe Gottes

In der Geschichte Adams finden wir die ganze Geschichte des Menschen. Was Adam in dem Garten Eden war, das ist der Mensch seitdem immer gewesen. Gott versuchte den Menschen, aber alles, was Er ihm anvertraute, hat er verdorben. Als Gott in Israel sich ein Volk erwählte, ging es nicht besser. Das Volk war götzendienerisch, die Könige lehnten sich wider Ihn auf, und die Priester besudelten ihre Gewänder, so dass sie nicht vor Ihm stehen konnten. Alles, was Gott in seiner Schöpfung, seiner Vorsehung, dem Gesetz und der Gnade gab, wurde von dem Menschen verdorben und verworfen. Als der Herr vom Himmel kam, verwarf die ungerechte Nation auch Ihn. Doch Er fehlt nimmer, und Gott will seine Liebe und Weisheit darin beweisen, dass Er seinem Volk in allen den Dingen begegnet, worin der Mensch zu Schanden geworden ist. Alles wird, als die wahre Frucht des Kreuzes, in Herrlichkeit enden. Wir lernen dadurch, dass wir erfahren, was der Mensch ist, weit mehr von Gott kennen, und machen umgekehrt durch die Erkenntnis Gottes eine genauere Bekanntschaft mit dem Zustand des Menschen. Nichten wir unseren Blick auf die Kirche, so entdecken wir bezüglich des Menschen dasselbe. Das Geheimnis der Gesetzlosigkeit ist wirksam, der Geist der Dämonen ist in ihrer Mitte, die Liebe vieler erkaltet, bis kein einziger Gerechter mehr in ihr zurückbleibt und alles in dem vollständigsten Ruin endet.

Gott gibt, unabhängig von dem Menschen, ein neues Leben – ein Leben in seinem Sohn. Es ist ewiges Leben – Leben in Christus. Gott wurde vollkommen in dem Sohn offenbart, als Er vom Himmel herniederkam, um Leben zu geben. Doch das ist nicht genug. Wie steht es um meine Sünden? Wo sind sie? Es handelt sich nicht nur darum, Leben zu haben, sondern auch die Frage der Sünde muss geordnet sein. Christus trug sie auf dem Kreuz. Er kam aus dem Himmel hernieder, um meine Sünden hinweg zu tun; Er hat sie hinweggetan und kann jetzt sagen: „An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin, und ihr in mir, und ich in euch.“ Das Leben Christi ist in mir – das ewige Leben, und dieses Leben ist in dem Sohn. Ich habe sein Leben, selbstverständlich nicht seine Gottheit. So gewiss ich an dem Leben und der Natur des ersten Adam Teil genommen habe, ebenso gewiss habe ich Leben in dem zweiten Adam. „Wenn jemand in Christus ist – eine neue Schöpfung.“ Die göttliche Natur ist vorhanden; allerdings in einem elenden, irdenen Gefäß, aber die Natur ist göttlich, und ich sollte sie in meinem Leben und Charakter offenbaren.

Je mehr ich von Gott kenne, desto mehr werde ich darstellen, was Er ist. Je mehr ich auf Ihn blicke, desto mehr werde ich Ihm gleich sein. Was war es, das Moses Antlitz erglänzen lieh? War es der Blick auf sich selbst? Nein, sondern sein Verkehr mit Jehova und das Anschauen seiner Herrlichkeit. Er wusste nicht, dass sein Antlitz glänzte, bis man ihn bat, es zu verhüllen. Er war nicht mit sich selbst beschäftigt; der Gegenstand, welcher vor ihm stand, war Gott. Er hatte Gott angeschaut und sich ganz in Ihn vertieft, und daher strahlte er die Herrlichkeit Gottes aus. Ebenso wird es mit uns sein. Ist Christus der Gegenstand, der vor meiner Seele steht, so werde ich nicht an mich denken, sondern an Ihn. Ich werde Ihn darstellen und bei dem verweilen, was Er ist, nicht aber bei dem, was ich tue. Ist mein Auge auf Christus gerichtet, so werde ich Ihm obwohl (in Schwachheit) ähnlich werden in Heiligkeit, Niedriggesinntheit und Liebe. Ich finde dies in Ihm in seiner ganzen Schönheit und Vortrefflichkeit, ich sehe es in seiner Vollkommenheit, und indem ich auf Ihn blicke, werde ich in sein Bild verwandelt. In Ihm ist alles, was die neue Natur verlangen und wünschen kann. In Ihm kann ich ruhen, in Ihm mich erfreuen und ergötzen.

Welch eine unendliche Freude erweckt das Bewusstsein, dass der Sohn Gottes gekommen ist! Wohl ist es wahr, dass Satan nie untätig ist, aber „wir sind aus Gott“ (V 4). Dies bringt die ganze Sache in Ordnung. Wir sind nicht mehr in unserer alten Natur, welche dem Leben des ersten Adam gemäß lebte und handelte, sondern stehen in der Kraft der neuen Natur, die wir von Gott empfangen. Welch eine wunderbare Sache ist es, Teilhaber der göttlichen Natur, über die Engel erhöht, ja Gebein von seinem Gebein zu sein! Es ist eine höchst gesegnete Wahrheit, dass wir „aus Gott“ sind, aus Ihm, dessen Natur eine göttliche ist. Und diese göttliche Natur kann nur durch Ihn selbst empfangen werden. Christus hat uns in seinem kostbaren Blut von unseren Sünden gewaschen. Er hat uns getauft mit dem Heiligen Geist aus der Höhe und uns versiegelt mit dem Geist der Verheißung. „Der uns aber eben hierzu bereitet hat, ist Gott.“ Er hat uns mit einer Kraft ausgerüstet, welche diejenige Satans übersteigt. „Der, welcher in euch ist, ist größer, als der, welcher in der Welt ist.“ „Ihr seid aus Gott, Kinder.“ Ich bin zu Gott gebracht. Ich bin aus Gott geboren. Ich ruhe in Gott. Ich lerne Gott kennen, weil ich die Natur empfangen habe, die Ihn kennen kann, ebenso wie ich nur deshalb wissen kann, was der Mensch ist, weil ich seine Natur besitze.

Wohl kenne ich nicht alles, was Gott betrifft, aber ich befinde mich nicht in Ungewissheit. Nehmen wir an, ich besitze einen Freund; ich mag nicht alle seine Umstände kennen, aber er ist mein Freund, und ich erfreue mich seiner als eines solchen. Ich Zweifel durchaus nicht an seinen Zuneigungen, weil mir nicht alles bekannt ist, was ihn betrifft. Nun aber ist Gott mein Freund, und ich finde eine gesegnete Ruhe darin, dass Er es ist. Wenn Gott mein Freund ist, was kann ich mehr bedürfen? Was kann gesegneter sein? Um Gott zu kennen, muss ich seine Natur haben. Ich kann nicht eine Person kennen, deren Natur ich nicht teilhaftig bin. Ich kenne die Engel nicht, weil ich nicht die Natur der Engel besitze.

Wir finden in 1. Johannes 4 zwei. Dinge, welche der Seele ein unermessliches Glück verleihen. Vers 9 zeigt uns die Art und Weise, wie Gott seine Liebe offenbar macht. In Vers 17 sehen wir, wie seine Liebe vollendet worden ist. Gott sandte seinen eingeborenen Sohn in die Welt, auf dass wir, die wir tot waren, durch Ihn eines Lebens teilhaftig werden möchten, das aus der Offenbarung der Liebe Gottes stießt – eines Lebens, das völlig von der Natur und von dem, worin sie ihre Befriedigung und Freude findet, getrennt ist. Es kann nicht mit Selbstsucht verbunden werden. Worin besteht jedoch meine Natur? Nicht einzig und allein in Selbstsucht? Durch welche Beweggründe werde ich von Tag zu Tage geleitet? Sind sie nicht selbstsüchtiger Art? Wie betreibe ich mein Geschäft? Steht nicht mein eigenes Ich stets dabei im Vordergrund? Wir ahnen gar nicht, wie sehr wir unter dem Einfluss der Selbstsucht stehen. Ist es nicht wahr, dass der Kleidertand die Gedanken vieler mehr beschäftigt, als alles, was Gott getan hat, indem Er seinen Sohn aus den Himmeln herniedersandte, um Sünder zu erretten? Es ist das Eine wirkliche Tatsache, und es ist wertlos, dies vor uns selbst verbergen zu wollen. Vor Gott können wir es doch nicht verbergen.

Je mehr ich mich auf der anderen Seite mit der Liebe Gottes beschäftige, desto mehr erkenne ich ihre Vollkommenheit. Es heißt an einer Stelle: „Für einen Gütigen möchte vielleicht jemand zu sterben wagen.“ Gott aber erwies seine Liebe gegen uns, als nicht eine Spur von Gutem in uns war. In dem Kreuz erzeigte Er uns eine reine, unverdiente Gnade. Wir waren Sünder und nichts als Sünder, als Christus starb, um uns zu erretten. Ich werde nimmer verstehen, was die Liebe Gottes wirklich ist, bevor ich sagen kann, dass ich ausschließlich und nichts anders als ein Sünder bin. Solange ich diese große Wahrheit nicht gelernt habe, kenne ich die Liebe Gottes nicht. Was hat Gott gegeben, um Sünder zu erretten? Das, was seinem Herzen am nächsten stand, das Teuerste, was Er hatte, seinen geliebten und eingeborenen Sohn. Wer versteht diese Liebe? Wer schätzt sie, wie sie es wert ist? Das, was Gott von allem am teuersten war, war der Sohn seines Schoßes, und Ihn gab Er hin. Seine Liebe ist ohne Grenzen. Er hat mir Christus gegeben, und das, was ich in Ihm besitze, ist unermesslich. Der Sohn Gottes ist für meine Sünden dahingegeben worden; Er ist in die Tiefen meines Elends hinabgestiegen und hat Leben ans Licht gebracht. „Hierin ist die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass Er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden.“ Wie kann ich wissen, dass Gott mich liebt? Dadurch, dass ich auf den vollkommenen Gegenstand seiner Liebe blicke; das gibt mir Ruhe. Und warum? Weil ich in Ihm sehe, wie bewunderungswürdig die Liebe ist, welche den eignen Sohn herniedersandte, um mir Leben zu geben und eine Sühnung für meine Sünden zu sein. Wenn ich keine Ruhe habe, so bedarf ich eines tieferen Gefühls von der Sünde. Am Kreuz muss ich lernen, was die Sünde ist; ich werde dann die Liebe erblicken, welche ihr begegnet ist und für sie gelitten hat, und das wird meiner Seele Ruhe geben.

Die Liebe Christi bestand nicht in der Lehre eines Menschen, der kommt und einfach erzählt, was Gott ist, sondern in der praktischen Darstellung Gottes. Er offenbarte Gott in der ganzen Mannigfaltigkeit seiner unbeschränkten und unermesslichen Liebe. Vergleiche den 12. Vers im 1. Kapitel des Evangeliums Johannes mit dem 18. Vers. „Niemand hat Gott je gesehen usw.“ Niemand hat gesehen – Er, der in dem Schoß des Vaters ist, nicht (war) musste Ihn kundmachen. Der Sohn musste sagen, was von dem Vater erkannt werden kann. Alles ist abhängig von Christus. Alle Hindernisse sind für den Gläubigen durch Ihn hinweggeräumt, alle Sünde ist durch Ihn beseitigt. In Ihm finde ich einen Platz vertrauter Nähe zu Gott. An dem Kreuz habe ich gelernt, was Gott für mich, den Sünder, war; jetzt muss ich erfahren, wie Er meinen Bedürfnissen, als ein Heiliger, begegnet, indem ich meine Not fühle und sie vor Ihn bringe. Hungrig zu sein, ist nicht genug; ich muss wirklich „umkommen vor Hunger“, um zu erfahren, was in dem Herzen Gottes gegen mich ist. Als der verlorene Sohn anfing zu hungern, ging er hin und sättigte sich mit den Träbern; als er aber dem Hungertod nahe war, machte er sich auf nach seines Vaters Haus und erfuhr dann die Liebe des Vaterherzens.

Wie tief lässt sich Gott in dem 15. Verse unseres Kapitels herab! „Wer irgend bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, in ihm bleibt Gott und er in Gott.“ Wie tief steigt Er hernieder, um uns zu begegnen, so dass für keinen ein Raum zur Entschuldigung bleibt! „Wer irgend bekennt.“ Das Kind in Christus, welches eben Christus bekennen kann, hat ebenso gut ewiges Leben, wie der erwachsene Mann. Es handelt sich hierbei nicht darum, was ich bin, sondern was Christus ist. Ich verschwinde ganz von dem Schauplatz. Alles hängt davon ab, was Gott ist. Wie kann ich seine Liebe erkennen? Muss ich auf ihre völlige Entfaltung warten? Nein, Er hat seine Liebe in mein Herz ausgegossen, durch den Geist, den Er mir gegeben hat. „Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott in ihm“ (V 16). Wenn ich in Gott bleibe, so bleibe ich in der Liebe und sollte Liebe offenbaren, dadurch dass ich auf Ihn und nicht auf andere blicke. Es ist eine wunderbare Sache, sagen zu können: „Gleichwie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt“ (V 17). Christus hat seinen Platz genommen zur Rechten Gottes und versetzt mich dorthin.

Wir stehen jetzt vor Gott in der Gerechtigkeit Christi. Er ist mein Leben, und ich kann in Wirklichkeit in keiner Sache von Ihm getrennt sein. „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, auf dass wir Freimütigkeit haben an dem Tag des Gerichts“ (V 17). Ist das Herz beunruhigt im Blick auf das Gericht? Macht dich der Gedanke, vor demselben zu stehen, unglücklich? Warum sollte, es so sein? Ist nicht Er, der Richter, meine Gerechtigkeit? Hat Er nicht vollkommen meine Sünde hinweggetan und mein Gewissen von aller Schuld gereinigt, so dass ich ohne Furcht in Gott ruhen kann, ohne einen Augenblick langer in peinlicher Ungewissheit sein zu müssen? Kann ich nicht ruhig in die Zukunft blicken, in der vollen Gewissheit, dass Christus an meiner statt gerichtet worden ist und mich mit jener Liebe in Verbindung gebracht hat, die mir Freimütigkeit gibt am Tag des Gerichts? „Gleichwie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt.“

„Furcht ist nicht in der Liebe.“ Befindet sich in deinem Herzen, Gott gegenüber, der geringste Zweifel, die leiseste Unruhe, so bist du nicht vollendet in der Liebe; denn vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Es gibt allerdings Dinge, die wir zu fürchten haben; wir sollten die Sünde und den Einfluss unserer eignen selbstsüchtigen Interessen fürchten. Ruhe ich aber in Gott, so wird alle Furcht ausgetrieben und das Herz in der Liebe vollendet. Seine Liebe ist vollkommen. Wir haben sie nur anzuerkennen, uns unter sie zu beugen, sie anzunehmen als unser Teil in Christus und Ihm dafür zu danken. Das heißt, vollendet zu sein in der Liebe.

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