Das Buch des Propheten Jona

2. Der Prophet

Bevor Jona den Auftrag bekam, nach Ninive zu gehen, hatte er eine prophetische Mission an Israel weiterzugeben.1 Diese Begebenheit war unter Jerobeam II. bzw. kurze Zeit vor dessen Machtergreifung erfolgt. In 2. Könige 14,25 lesen wir, dass Jerobeam „die Grenze Israels wiederherstellte, vom Eingang Hamats bis an das Meer der Ebene [das Salzmeer], nach dem Wort des Herrn, des Gottes Israels, das er geredet hatte durch seinen Knecht Jona, den Sohn Amittais, den Propheten, der von Gat-Hepher war.“ Hosea, Amos und zweifellos auch Jona kannten den traurigen Zustand der zehn Stämme und des Königtums in Israel. Mit welcher Entrüstung benannten die beiden erstgenannten Propheten die Sünden des Volkes und seiner Führer und kündigten das Gericht an, das beide erreichen würde.

Dennoch hatte der Herr gesehen, „dass das Elend Israels sehr bitter war und dass dahin war der Gebundene und dahin der Freie, und dass kein Helfer da war für Israel. Und der Herr hatte nicht gesagt, dass er den Namen Israels austilgen würde unter dem Himmel weg; und so rettete er sie durch die Hand Jerobeams, des Sohnes des Joas“ (2. Kön 14,26.27). An anderer Stelle wird gesagt: „Und der Herr gab Israel einen Retter, und sie kamen aus der Hand der Syrer heraus“ (2. Kön 13,5). Wir sehen daher, dass, während die anderen Propheten das Gericht Gottes über Israel ankündigten, Jona dazu aufgerufen wurde, eine zeitliche Errettung durch einen Retter anzukündigen, der zu diesem Zweck erweckt wurde (unabhängig von seinem Charakter).

Die Grenze Israels wurde wiederhergestellt; Hamat, die Hauptgrenze gegen die nördlichen Feinde, wurde wieder eingenommen. Und Jona war von dem Herrn ausgewählt worden, um diese Barmherzigkeiten Gottes in Tagen anzukündigen, in denen Israel unter dem schrecklichen Joch des Königs von Syrien seufzte. Ein Prophet, der nur Errettung ankündigte, war ein Phänomen, und wenn nicht einzigartig, so doch zumindest eine Ausnahme in Israel. Als Jona nach Ninive gesandt worden war, kannte er den Herrn somit, wie er es später in Kapitel 4,2 auch ausdrückt, als einen gnädigen und barmherzigen Gott, der langsam zum Zorn und groß an Güte ist, und der sich des Übels gereuen lässt.

Jonas National- und Prophetenstolz

Als es sich um Israel handelte, hatte Jona nicht gezögert, die Errettung seines Volkes anzukündigen. Sein Herz freute sich darüber und sein Nationalgefühl fand darin Befriedigung. In seinem geistlichen Stolz wollte er aber eine solch einzigartige Botschaft Gottes an Nationen nicht akzeptieren, wie er sie zuvor an Israel gerne ausgerichtet hatte. Das wäre noch nicht so schlimm gewesen, wenn er sich sicher gewesen wäre, dass die Drohung der Zerstörung Ninives auch sicher folgen würde. Aber er hatte schon den barmherzigen Charakter des Herrn erlebt, wie Er sich ja auch früher Mose gegenüber offenbart hatte: „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte und Wahrheit, der Güte bewahrt auf Tausende hin, der Ungerechtigkeit, Übertretung und Sünde vergibt“ (2. Mo 34,6.7).

Jona wollte gerne die Gnade seinem Volk gegenüber anerkennen, die übrigens durch das Gesetz beschränkt wurde, aber er wollte diese nicht anerkennen, wenn es sich um götzendienerische Nationen handelte. Gott hatte diesen nicht das Gesetz als Gabe gegeben; wie konnte man da gestatten, dass ihnen die Gnade frei gewährt werden sollte?

Man sollte jedoch noch an ein anderes Motiv für den Ungehorsam des Propheten denken, vielleicht das wichtigste: Jona dachte an sich selbst und seinen persönlichen Ruf. Man sieht das sehr deutlich an seinem ganzen Verhalten in den Kapiteln 3 und 4. Er würde in Ninive rufen: „Noch vierzig Tage, dann wird Ninive umgekehrt!“ (3,4) Wenn dieses Gericht aber doch nicht eintreffen würde? Wenn Gott es sich gereuen ließe? Was würde dann aus seinem Ruf als Propheten? Die Barmherzigkeit Gottes würde zum Zusammenbruch seiner Autorität und seiner eigenen Würde führen. Es kam Jona nicht einen Augenblick in den Sinn, dass die Menschen in Ninive Buße tun könnten und sich deshalb die Wege Gottes mit ihnen verändern könnten.

Andere Propheten und später der größte unter ihnen, Johannes der Täufer, haben dagegen Gericht und Buße gepredigt. Jona wünschte sich eine solche Botschaft nicht. Das, was er unter allen Umständen retten wollte, waren sein Ruf, seine Würde, seine Autorität als Prophet. Was würde aus diesem allen, wenn sich seine Worte nicht erfüllten? Als er im Voraus prophezeit hatte, dass Hamat wieder eingenommen würde, hatte er einen hervorragenden Ruf bei seinem Volk bekommen. Nun wollte er durch das Aufrufen des Gerichts auch einen guten Ruf unter den Nationen erhalten. Was für eine traurige Sache ist doch der Egoismus des Menschen. Aber wie viel schlimmer noch ist der Egoismus eines Propheten!

Der Ungehorsam des Propheten

Aus diesem Grund flieht Jona und muss die Strafe dieser Tat des Ungehorsams tragen. Wie viele Diener Gottes sind durch ihren Eigenwillen nutzlos geblieben und haben ihrer Berufung nicht Folge geleistet, was auch immer sonst ihre Motive gewesen sein mögen. „Der Herr will mich nach Ninive senden; ich jedoch ziehe vor, nach Tarsis in Spanien wegzugehen!“ In unseren Tagen gehört dieser Ungehorsam schon fast natürlicherweise zu den Sitten der Jünger des Herrn. Man begibt sich auf ein Schiff, das einen innerlich von Gott entfernt. Und wir machen es häufig noch schlimmer als Jona, indem wir diesen Ungehorsam als einen göttlichen Auftrag und als Gehorsam gegenüber der Führung des Heiligen Geistes deklarieren.

Jona war einerseits weniger schuldig als diejenigen, von denen wir gerade sprechen, da er sich nicht fürchtete, seine Flucht vor dem Angesicht des Herrn auch als solche zu bezeichnen (1,10). Andererseits war er schuldiger, da er wusste, dass er seinen eigenen Willen tat, indem er auf der Flucht war. Heute ist es häufig einfach Unwissenheit bei Dienern. Ihnen bleibt zudem die Zucht erspart, während der Diener, „der den Willen seines Herrn kannte und nicht ... nach seinem Willen getan hat, … mit vielen Schlägen geschlagen“ wird (Lk 12,47). Schenke es der Herr, dass die Diener oder Evangelisten, die den wahren Auftrag Gottes unbeachtet lassen, aufrichtig vor Ihm sind und ihr Gewissen nicht dadurch beruhigen, dass sie das Gehorsam nennen, was das Gegenteil davon ist.

Die Hartherzigkeit des Propheten

Am Ende von Kapitel 2 scheint es, als habe Jona seine Lektion als Zeuge durch die Zucht Gottes gelernt, denn der Fisch hatte Jona an das Land ausgespien. Dadurch war der alte Jona, der dem alten Adam so ähnlich war, im Gleichnis zu einem auferstandenen Jona geworden. Als Prophet jedoch ist er noch weit davon entfernt, die ganze Lektion verstanden zu haben, die - wie der Bericht zeigt - offenbar sehr schwierig zu lernen ist. Er hatte zweifellos durch die Züchtigung erkannt, dass es hart ist, sich gegen den Stachel zu sträuben, und dass er, koste es was es wolle, gehorchen musste.

So lesen wir anlässlich des zweiten Auftrages Gottes an Jona, dass er nicht erneut die Ausführung ablehnt: „Da machte sich Jona auf und ging nach Ninive, nach dem Wort des Herrn“ (3,3). Aber wie und in welchem Geist gehorchte er? Wie ein Jude unter dem Gesetz gehorchte, so handelt er in Nationalstolz und voller Selbstgerechtigkeit. Dabei war er sich sicher, dass Gott die Nationen richten musste, die überhaupt kein Bürgerrecht in Israel besaßen und zudem Fremdlinge in Bezug auf die Bündnisse der Verheißungen waren. Schließlich lebten sie ohne Gott in der Welt (Eph 2,12).

Jona musste lernen, dass das letzte Wort eines Propheten nicht das Gericht ist: Wie gewiss dieses auch sein mag, es bleibt immer Hoffnung, solange das Urteil (noch) nicht ausgeführt ist. Gott hatte gesagt: „Noch vierzig Tage.“ Aber einst waren durch die Fürbitte Moses nicht mehr Tage nötig gewesen, um das Gericht abzuwenden (2. Mo 24,18; 34,28). Auch später nicht, um die Listen Satans kraft des Gehorsams Christi zu vereiteln (Lk 4,2). Das letzte Wort der Prophetie ist Gnade und Herrlichkeit. Und das wusste Jona ohne jeden Zweifel. Sein Herz war gesetzlich, hochmütig, hart, und freute sich am Gericht. Er, den das gleiche Gericht gerade erst erreicht hatte, hätte die Gnade kennen müssen. Und das nicht nur, weil er sie selbst früher angekündigt hatte, sondern auch, weil er selbst Gegenstand dieser Gnade geworden war. Wie hartherzig muss der natürliche Mensch sein, wenn man das gleiche Herz unter dem Mantel eines Propheten schlagen sieht! Wie demütigend ist es doch, daran zu denken, dass wir unsere Lektionen so langsam lernen.

Gesetzlichkeit und Gnade

Das Prophetenwort Jonas führt zu einem nachhaltigen Eindruck auf das Gewissen der Menschen in Ninive. Das Ziel, das Gott im Auge hatte, war damit erreicht. Denn wenn Er seine Gerichte bekannt macht, dann möchte Er damit erreichen, dass sich die Seelen bekehren und zu Ihm zurückkehren. Auf diese Weise kann sich das Herz des Gottes voller Gnade offenbaren. Wenn jedoch die Gnade ausgerufen wird, machen Hochmut und Selbstgerechtigkeit des Propheten Platz für eine taube Gereiztheit. Das hat die Juden in der Tat schon immer gekennzeichnet. Es erzürnte sie zu sehen, dass das Heil auch den Nationen gepredigt wurde. Sie konnten es nicht ertragen, dass diese auch in Bezug auf das Gericht in gleicher Weise behandelt wurden.

Wir denken bei Jona unwillkürlich an den älteren Bruder des sogenannten „verlorenen Sohnes“, der seinem Vater zürnt und ablehnt, in das Haus zu kommen, da sein Bruder der Gegenstand der Gnade und der Freude geworden ist. Wie der Vater im Gleichnis tadelt Gott Jona - und mit welcher Geduld -, aber Er überlässt ihn schließlich seinem Eigensinn in der Hütte, die er sich selbst gebaut hatte, seines Wunderbaumes beraubt in der Gluthitze der Sonne. Hier endet die Geschichte Jonas. Wenn wir auch nicht wissen, welche Veränderung danach im Herzen des Propheten stattgefunden hat, so wissen wir doch, dass die Gnade des Herrn sich auch heute in Bezug auf die Nationen nicht geändert hat. Davon dürfen wir selbst glückliche Zeugen sein.

Im ersten Teil der Geschichte offenbart Jona mehr Gnade in seinem Herzen als im zweiten Teil. So ist es häufig in der Laufbahn von Dienern Gottes. In dem Maße, wie ihr Einfluss - zu Recht - zunimmt, verstärkt sich auch ihre Selbstzufriedenheit und führt dazu, dass sie mit den Gedanken Gottes nicht mehr übereinstimmen, was sie zu ihrem Dienst unfähig macht. Wie viele von ihnen stehen wie Jona mit einer gescheiterten Laufbahn da, weil sie darin durch Selbstzufriedenheit gekennzeichnet waren, anstatt in der Erkenntnis der Gnade zu wachsen.

Im ersten Kapitel ist die Zucht, die den Propheten trifft, voller Belehrung für ihn. Er erkennt an - welch schmerzliche Feststellung -, dass er, der Prophet des Herrn, der Grund für das Gericht ist, das seine Genossen und das Schiff trifft (1,12). Er nimmt das Gericht, welches ihn selbst trifft, als gerecht hin und verkündet, dass seine Verwerfung die Rettung der Nationen ist. Wie schön wäre es gewesen, wenn diese Demütigung im zweiten Teil der Geschichte des Propheten ihre Früchte getragen hätte!

Lasst uns durch diese Dinge lernen und vor allem nicht dort anfangen, wo Jona begann. Lasst uns auch nicht die Gegenwart Gottes meiden, sondern im Licht wandeln. Lasst uns Ihm sagen: „Erforsche mich und erkenne mich.“ So werden wir schmerzliche Züchtigungen vermeiden. Gott sendet uns nicht als Propheten in die Welt, aber Er vertraut uns eine Aufgabe als Diener an. Dieser nicht treu nachzukommen hieße, wie Jona zu handeln und Gott den Rücken zuzukehren.

Fußnoten

  • 1 Ich glaube, dass Jona diese andere Mission zuvor ausgeführt hat, da das Wort „und“, mit dem das Buch Jona – genau wie einige andere Bücher des Alten Testamentes wie z.B. Josua, Ruth, 1. Samuel, Hesekiel – beginnt, anzudeuten scheint, dass die dann im Folgenden aufgezeichneten Begebenheiten in Verbindung mit Dingen stehen, die mehr oder weniger kurze Zeit zuvor stattgefunden haben.
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