Das Buch des Propheten Jona

1. Der Zeuge

Zwischen dem Menschen, der durch den Sündenfall Sünder geworden ist, und dem Menschen, der durch den Glauben an den Erretter und aufgrund der Erlösung ein Heiliger geworden ist, besteht ein unermesslicher Unterschied.

Der Sündenfall von Adam und Eva1

Adam war vor seinem Fall unschuldig, aber verantwortlich, in Abhängigkeit von Gott zu leben. Nachdem er durch den Fall seine Unschuld und seine Abhängigkeit verloren hat, bleibt er dennoch verantwortlich. Aber er hat als Sünder nun das Bewusstsein von Gut und Böse, d. h. ein Gewissen, das ihn richtet. Dieses macht ihn unentschuldbar und verurteilt ihn. Er kennt nun Gut und Böse. Aber ach, der sündige und verantwortliche Mensch besitzt nur die absolute Unfähigkeit, das Gute zu vollbringen, und den Willen, das Böse zu tun.

Ganz anders steht es mit dem Gläubigen, dem heiligen Menschen, dem Zeugen Gottes in dieser Welt. Wenn er auch das Fleisch in sich trägt, die sündige Natur des ersten Adam, so hat er doch durch den Glauben eine neue Natur erhalten, das göttliche Leben. Er besitzt den Geist Gottes, die Kraft dieses Lebens, und die Fähigkeit, das Gute zu tun und dem Bösen zu widerstehen.

Dies macht ihn zweifellos doppelt verantwortlich. Sein Gewissen weist ihn auf Gut und Böse hin; es gibt nur zwei Möglichkeiten: gehorsam der Leitung des Heiligen Geistes und des neuen Lebens, das er besitzt, zu folgen, oder dem Fleisch gegenüber, das in ihm ist, gehorsam zu sein. Wenn er doppelt verantwortlich ist, so ist er auch doppelt unentschuldbar, wenn er sündigt, denn ihm steht die Kraft des Geistes Gottes und des neuen Menschen zur Verfügung, welche die Kraft des Fleisches und des alten Menschen tausendfach übertrifft.

Die erste Folge vom Fall Adams und vom Fall Jonas

Die Folgen der Sünde sind für den sündigen Menschen, der im Fleisch wandelt, anders als für den Gläubigen, wenn er dem Fleisch gemäß wandelt. Letzterer besitzt nämlich die Fähigkeit, im Geist zu wandeln. Der Sünder kann nichts anderes erwarten als Tod und Gericht; der Heilige begegnet, wenn er sündigt, der Strafe oder der Zucht Gottes, die sich an ihm und an allen Gläubigen vollzieht, damit sie nicht „mit der Welt verurteilt werden“ (1. Kor 11,32).

Dieses war bei Jona der Fall. Er war ein Gläubiger, ein Heiliger. Er hatte Leben aus Gott. Er stand in Verbindung mit Gott. Ihm war ein Zeugnis anvertraut worden, aber vor einen Befehl Gottes gestellt, lässt er sich durch den Willen des Fleisches, welches Feindschaft gegen Gott ist, davon abbringen. Obwohl er ein Gläubiger und ein Zeuge ist, handelt er nicht besser als Adam, der von Satan betrogen wurde. Er ist einem ausdrücklichen Befehl Gottes ungehorsam. Sein Fallen ist sogar schlimmer als bei Adam in seiner Unschuld, als dieser vom Teufel verführt wurde. Durch den Glauben besitzt Jona nämlich eine neue Natur, die fähig ist, das Gute zu erwählen und das Böse und die Verführungen zurückzuweisen.

Adam ist Gott ungehorsam und besitzt die Vermessenheit, sich selbst dafür zu entschuldigen (1. Mo 3,12). Jona ist Gott ungehorsam und wagt es, Ihm dafür auch noch eine Begründung anzugeben (Jona 4,2). Aber vor Gott gilt keine Entschuldigung, kein Beweggrund für Ungehorsam, und zwar noch weniger der eines Heiligen, als der des ersten Adam. Denn seit Beginn seines geistlichen Lebens besitzt der Heilige den Glaubensgehorsam, durch den er errettet ist (Rö 1,5); und vom ersten Schritt seiner Laufbahn an ist er durch den Heiligen Geist geheiligt zum Gehorsam Jesu Christi (1. Pet 1,2), d. h. um so zu gehorchen wie Er.

Für Jona wie für Adam ist die erste Folge des Ungehorsams dieselbe. Adam flieht aus der Gegenwart Gottes, der ihn sucht, und versteckt sich hinter den Bäumen des Gartens. Jona macht sich auf, um vom Angesicht des Herrn weg nach Tarsis zu fliehen (1,3). Welche Tat ist schlimmer? Auf jeden Fall die zweite, denn Jona ist ein Heiliger, der eine gewohnheitsmäßige und innige Beziehung zu Gott besaß. Vor seinem besten Freund fliehen, um sich der Verpflichtung zu entziehen: Welch eine Beleidigung fügt eine solche Tat dem zu, der uns liebt!

Aber da, wo Adam oder Jona gefehlt haben, offenbart ein Mensch Vollkommenheit, ein Mensch, der nicht einmal einen ausdrücklichen Befehl brauchte, um zu gehorchen, obwohl Er alle Gebote seines Vaters hielt (Joh 15,10), ein Mensch, der Gottes Willen zuvorkam, ohne dass dieser Ihn darum bat. „Ich komme“, sagt Er, „um deinen Willen zu tun“ (Heb 10,7). Das ist noch mehr als Gehorsam. Das ist ein Wille, der vollkommen aufgeht in dem Willen eines anderen, sich mit diesem identifiziert und sich davon nährt: „Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe“ (Joh 4,34), so sagte dieser Mensch, Jesus Christus.

Die zweite Folge vom Fall Adams und vom Fall Jonas

Die zweite Folge von Adams Ungehorsam lässt nicht auf sich warten. Wohl oder übel muss er in seiner Nacktheit vor dem Angesicht dessen erscheinen, vor dem er floh, und das Urteil über sich anhören. Dieses ist unwiderruflich, aber trotz allem kann die Gnade ein Rettungsmittel schaffen. Adam erscheint vor Gott, bevor das Urteil ausgeführt wird, und das rettet ihn. Er findet die Hilfsmittel in Gott, der für ihn und seine Frau Kleider der Gerechtigkeit schenkt.

Jona zieht durch seinen Fehler eine viel beschwerlichere Züchtigung auf sich als der erste Adam. Es ist notwendig, dass sich die Kinder Gottes dessen erinnern und darüber nachdenken. Lasst uns daher für einen Augenblick diesem Mann Gottes auf seiner Reise nach Tarsis folgen, wo er solch furchtbare Erfahrungen machen muss. Zunächst bezahlt er sein Fährgeld (1,3) und begleicht damit seine Schuld vor Menschen, während er in seiner ersten Pflicht Gott gegenüber fehlt.

Wir müssen bedenken, dass Jona dadurch, dass er seinen Verpflichtungen gegenüber der Welt nachkommt, die Entfernung vergrößert, die ihn von Gott trennt. So geht es auch oft mit uns. Durch einen Geist der Opposition getrieben bezahlt man sein Fährgeld. Indem man verschiedene Verpflichtungen erfüllt, versteckt man sich selbst vor einer viel höheren Aufgabe: Gott zu gehorchen. Man erfüllt die Verpflichtungen der Familie und der Gesellschaft, der Stadt und des Landes - so richtig und wichtig das auch ist -, aber man ist dem ausdrücklichen Befehl Gottes ungehorsam. Und dieser Auftrag besteht darin, für Ihn zu zeugen.

Jona war gerufen worden, Zeuge Gottes vor der Welt zu sein. Ein Zeugnis für Christus ablegen ist in der Tat das, was Gott von uns will in einer Welt der Sünde und der Entfremdung von Ihm, einer Welt, die dem Gericht entgegen läuft. Genau das ist einer der wichtigen Punkte im Buch Jona. Die Welt ist bereits verurteilt; vor der Ausführung des Gerichts will Gott jedoch, dass die Seinen von seiner Gerechtigkeit zeugen, damit noch Buße in Herzen herbeigeführt wird und Er noch Gnade wirken kann.

Einst hatte Gott dieses Zeugnis seinem Volk Israel anvertraut. Dieses war jedoch ungehorsam, sodass Er das Zeugnis in die Hände der Versammlung gelegt hat. Die Versammlung verlässt jedoch ebenso die Wahrheit und wird zu einer abgefallenen Christenheit. Dieses Thema wird im Alten Testament übrigens nicht behandelt. Schließlich wird in Zukunft ein jüdischer Überrest der treue Zeuge Gottes inmitten der Nationen sein. Das waren in der Vergangenheit weder das Volk noch seine Führer. Das Buch Jona behandelt diesen Überrest in einer geheimnisvollen Weise, wie wir es später sehen werden.

Die Zucht des Herrn

Kehren wir jedoch zu Jona zurück, der die Heiligen, Gottes Zeugen, in dieser Welt repräsentiert. Damit sein Ungehorsam nicht wie der des Sünders zum endgültigen Gericht führt, muss er auf seinem Weg, der ihn immer weiter von Gott wegführt, angehalten werden. Das Wort sagt uns: „Da warf der Herr einen heftigen Wind auf das Meer, und es entstand ein großer Sturm auf dem Meer, sodass das Schiff zu zerbrechen drohte“ (1,4). Das ist erst der Anfang der Züchtigung Gottes für seinen Diener, aber diese Zucht leitet, wie wir es später sehen werden, seine Wege der Gnade mit den Nationen ein. Jona jedoch liegt während dieses Sturms im unteren Schiffsraum, in tiefen Schlaf gesunken (1,5).

Häufig erreichen die bedrohlichsten Situationen nicht das Gewissen der Kinder Gottes. Weder der Sturm noch die Not der Seeleute berühren Jona. Er erkennt nicht, dass er ganz persönlich das Gericht Gottes, gegen den er sich aufgelehnt hat, erfahren muss. Er wird nicht einmal mit Furcht erfüllt. Das ist die Gleichgültigkeit eines eingeschlafenen Gewissens. Wenn es sich um einen sündigen Menschen und seinen moralischen Zustand handelt, dann schläft er immer. Als Kind der Finsternis und der Nacht kennt er nichts anderes als diesen Schlaf (1. Thes 5,4.7). Wenn aber ein Jona schläft, ein Sohn des Lichts, dann ist das viel schlimmer! Leider gibt es das so häufig. Die Jünger schliefen angesichts der Leiden ihres Retters in Gethsemane und seiner Herrlichkeit auf dem Berg der Verklärung. Der Jünger Jona schläft angesichts des Gerichts, das über die Welt kommt, ohne dass er erkennt, dass es für ihn bestimmt ist.

Oft haben wir uns gefragt, als wieder grässliche Kriege unter den Nationen herrschten, ob die Gläubigen erwachen und erkennen, dass dieser Sturm in erster Linie ihnen gilt. Zweifellos bedient sich Gott, dem viele Mittel zur Verfügung stehen, einer solchen Not auch, um andere Ziele zu erreichen und andere Absichten zu vollbringen. Lasst uns jedoch nicht vergessen, dass es das erste Ziel im Fall Jona war, diesem Diener Gottes ins Gewissen zu reden.

Häufig benutzt Gott dabei zu unserer Schande und Verwirrung die Welt, die uns aus unserem Schlaf aufweckt. „Was ist mit dir, du Schläfer? Steh auf, rufe deinen Gott an! Vielleicht wird der Gott unser gedenken, dass wir nicht umkommen“ (1,6), sagt der Obersteuermann. „Diener Gottes,“ sagt er gleichsam, „denkst du nicht an diejenigen, die umkommen? Bist du in deinem Egoismus so erstarrt? Wir anderen arbeiten, quälen uns, opfern unsere ganze Habe. Unsere ganze Schiffsladung ist schon im Sturm untergegangen. Und was machst du? Betest du, flehst du zu deinem Gott? Wir zumindest, wir schreien ein jeder zu seinem Gott.“ Ist es nicht wahr, dass die Welt häufig das Recht hat, auf eine solche Weise die Kinder Gottes hart anzufahren, da diese nicht verstanden haben, dass das Gericht ihnen gilt?

Gottes Handeln mit Jona

Gott sucht Jona, seinen Zeugen, so wie Er ehedem Adam, den Sünder, gesucht hat. Der Obersteuermann ist somit die Stimme Gottes, die einst Adam fragte: „Wo bist du?“ Aber hier sehen wir auch schon eine erste Demütigung für Jona, denn die Welt ist das Mittel, durch das Gott ihn daran erinnert, dass er verloren ist. Der Herr antwortet diesen unwissenden, aber aufrichtigen Menschen, die den Gott überhaupt nicht kennen, an den sie sich wenden, durch das Los. Er offenbart ihnen, dass es sein Zeuge ist, mit dem Er sich durch den Sturm in Wirklichkeit beschäftigt.

Die zweite Demütigung Jonas besteht darin, dass er, der Jude, überhaupt keine direkte Mitteilung von Gott erhält. Noch schlimmer, es ist wiederum die Welt, die ihm sagen muss: „Was hast du da getan!“ (1,10) Früher war es Gott selbst, der Eva sagte: „Was hast du da getan!“ (1. Mo 3,13) Bei Jona wird die Welt der Richter der Taten eines Zeugen des Herrn. Und auf welch eine Weise! Sie müssen ihm gleichsam sagen: „Du selbst bekennst, dass du den Herrn, den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat, fürchtest (1,9), und du fliehst vor Ihm? Welch eine Narrheit!“

Das Gewissen dieser Heiden ist geradliniger und aufrichtiger, weniger eingeschlafen, als dasjenige von Jona! Aber schließlich wird auch seines erreicht. Jona erkennt die volle Gerechtigkeit des Gerichtes Gottes an: „Nehmt mich und werft mich ins Meer“ (1,12). Er weiß, dass er es verdient hat, in den Abgrund geworfen zu werden, und verkündet dieses. Er sagt den Seeleuten, dass dies für sie die Rettung vom Sturm bedeute, während er verdiene, sein Leben zu verlieren. Er empfängt wie einst Adam das Urteil des Todes. Nur dass es für Jona im gleichen Augenblick vollzogen wird. Genau so ist es auch mit uns: „Ich bin gestorben.“ „Ich halte mich der Sünde für tot.“ „Ich bin mit Christus gekreuzigt.“ In der Tat, mein Gericht ist gerecht und ich lege davon Zeugnis ab. Aber in den Tiefen der Flut, da finde ich Christus, der sich mit mir in diesem Gericht eins macht, um mich zu erretten!

Gott greift ein, und tatsächlich, wie könnte es sein, dass Er es nicht täte? Ein anderer, auf den Jona in den Tiefen ein Vorbild ist, hat gleichsam den Platz im Bauch des Fisches eingenommen. Genau hier, unter der Zucht und in der Tiefe der Not, findet der schuldige Zeuge seine Abhängigkeit wieder, die er so töricht verloren hat: Er betet (2,2). Niemals hätte er es gewagt, ungehorsam zu sein, wenn er durch das Gebet in wahrer Abhängigkeit geblieben wäre. Die Preisgabe der Abhängigkeit hatte zum Verderben des ersten Adam geführt. Hier muss der Zeuge Gottes diese Lektion wieder völlig neu lernen.

Auf diese Wiederherstellung kann Gott nicht anders antworten als durch Errettung. Jona erkennt an, dass diese Segnung allein der Gnade Gottes zuzuschreiben ist: „Bei dem Herrn ist die Rettung“ (2,10). Von ihr spricht auch Elihu im Buch Hiob: „Er wird vor den Menschen singen und sagen: Ich hatte gesündigt und die Geradheit verkehrt, und es wurde mir nicht vergolten; er hat meine Seele erlöst, dass sie nicht in die Grube fahre, und mein Leben erfreut sich des Lichts“ (Hiob 33,27.28). Solcher Art ist also die Frucht der Züchtigung für den Zeugen Gottes durch den Erretter: Vollständiges Selbstgericht, tiefe Erkenntnis der Gnade. Von diesem Augenblick an flüchtet Jona nicht mehr, um dem Herrn zu entgehen.

Fußnoten

  • 1 Die Zwischenüberschriften der einzelnen Kapitel wurden der Übersichtlichkeit halber von den Herausgebern eingefügt.
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