Eine Auslegung des Markusevangeliums

Kapitel 5

Wir haben hier wieder eine Entfaltung des Dienstes Jesu. In diesem Kapitel geht es nicht einfach um den Dienst des Wortes mit seinen verschiedenen Hindernissen und Maßen des Erfolges, so wie Gott ihn in lebengebender Macht und durch Fruchtbarkeit zu bewirken liebt – und zwar bis zum Ende. Es ist auch nicht ein Bild von den sturmumtosten Jüngern mit Jesus unter ihnen in ihrer Gefahr. Obwohl Er diese gar nicht zu beachten schien, bevor man sich an Ihn wandte, war Er doch die ganze Zeit über die Sicherheit für sein Volk.

Jetzt sehen wir einen anderen Gegenstand, nämlich den Dienst Jesu in Gegenwart der Macht Satans und des Eingeständnisses der äußersten Schwachheit und des Elends der menschlichen Natur. Das ist in der Tat eine lehrreiche Lektion; denn wir erkennen nicht nur die siegreiche Macht Dessen, der in Schwachheit gekreuzigt wurde, sondern auch das Ausmaß der Befreiung. Letztere sehen wir in dem Menschen, der zuerst von der Sklaverei Satans befreit wurde und danach ein wirksamer Zeuge an andere von der Größe und Macht des Herrn zugunsten anderer wird. Es geht hier nicht um Sünde oder die Begierden des Fleisches und der Welt. Wir wissen, wie unablässig Gott vor menschlicher Gewalttat und Verderbnis bzw. ihren Folgen bewahrt. In Legion haben wir jedoch mehr die direkte Wirksamkeit Satans, die wir nirgendwo gewaltsamer sehen als hier. Die Menschen glauben gewöhnlich nicht daran; und wenn sie zugeben, dass Satan so wirken kann, dann möchten sie es auf die Zeit, während Christus auf der Erde war, beschränken. Dass sich wahrscheinlich die Macht Satans im Widerstand gegen den Sohn Gottes, als Er hienieden war, besonders stark erhob, ist eine ganz andere Sache; und ich glaube daran. Doch es ist ein großer Irrtum, wenn man annimmt, dass die Macht des Teufels damals tatsächlich so stark erschüttert wurde, dass später keine Fälle einer dämonischen Besessenheit mehr auftreten konnten. Das Neue Testament widerlegt diese Täuschung. Nachdem Christus gestorben und auferstanden war (dieses Ereignis sollte eigentlich die Macht Satans mehr als irgendein anderes vernichtet haben!), beauftragte Er seine Jünger, das Evangelium zu predigen. Dabei sollten die folgenden Zeichen ihre Predigt begleiten: „In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben“ (Mk 16,17). Und in der Apostelgeschichte finden wir dieses Wort bestätigt. „Und sie brachten Kranke und von unreinen Geistern Geplagte, die alle geheilt wurden“ (Apg 5,16). Das geschah sogar nach dem Herabkommen des Heiligen Geistes. Dieses gewaltige Ereignis, welches der Erlösung folgte, beendete also keineswegs als solches alle Fälle von Besessenheit. Diese Macht war auch nicht auf Petrus und die übrigen Apostel beschränkt; denn ähnliche Kraft begleitete auch Philippus, den Evangelisten, in Samaria. „Denn von vielen, die unreine Geister hatten, fuhren sie aus, mit lauter Stimme schreiend; und viele Gelähmte und Verkrüppelte wurden geheilt“ (Apg 8,7). Ich brauche mich nicht bei solch ernsten Fällen aufzuhalten wie dem des wahrsagenden Mädchens in Philippi (Apg 16,16–18) oder dem Besessenen in Ephesus (Apg 19,13–16), wo die Söhne Skevas zu ihrem Schaden einen Beweis davon erhielten; sie sind ja gut bekannt.

In Wirklichkeit gilt der große Sieg Christi für den Glauben und zur Befreiung und Freude der Kirche (Versammlung). Ohne Zweifel wurde dieser Sieg der Welt reichlich in übernatürlichen Zeichen bezeugt. Bald wird die Macht des Sieges benutzt, um zuerst Satan zu binden und später für immer niederzuwerfen. In der Zwischenzeit ist jedoch die Kirche der Ort, wo der Sieg und die Macht Christi durch den Heiligen Geist verwirklicht wird. Die Welt ist nicht im Geringsten besser geworden und zeigt sich weiter von Gott entfernt als jemals zuvor. Satan erwies sich im Kreuz Christi eindeutig als ihr Fürst und Gott. Aus diesem Grund kann die Welt aber auch zur jetzigen Zeit ein Schauplatz für das vollständigste Zeugnis der Gnade Gottes im Namen des Gekreuzigten sein. Das Evangelium, welches so überreich ausgesandt wird, um aus der Welt herauszusammeln – beachte, ich sage nicht, „um zu segnen“, sondern „um herauszusammeln“, – betrachtet die Welt als schon verurteilt. Sie hat nur noch das schonungslose Gericht zu erwarten, wenn Jesus vom Himmel her offenbart wird. Deshalb ist die Absonderung von der Welt die oberste Pflicht und der einzig richtige Weg für den Christen. Die Schuld am Blut Jesu liegt auf der Welt. Der einzige Fluchtweg für jede Seele besteht im Glauben an jenes Blut, welches, indem es ihn zu Gott bringt, den Gläubigen dem Grundsatz nach aus der Welt heraus und weit über ihren Bereich hinaus führt. Das ist die Grundlage, das Verlangen und der Wandel des Glaubens. Darum ist auch der Gedanke an eine Besserung der Welt und des Menschen als solchen eine praktische Leugnung des Evangeliums und eine tiefe, wenn auch in vielen Fällen unabsichtliche Verunehrung des Herrn Jesus. Keine Unwissenheit kann das Zulassen solcher Gedanken rechtfertigen; und je mehr Erkenntnis von der göttlichen Wahrheit vorhanden ist, umso schuldiger sind solche Menschen. Die Gnade Gottes setzt den vollständigen Ruin der Gegenstände der Gnade voraus. Und die Offenbarung des Herrn Jesus vom Himmel her wird die göttliche Rache an jenen vollziehen, die ihre Sünde und ihren Ruin nicht fühlen und seine Gnade verachten.

Markus beschreibt also in den Einzelheiten und sehr anschaulich die Qual dieses Menschen mit einem unreinen Geist. „Und als er aus dem Schiff gestiegen war, kam ihm sogleich aus den Grüften ein Mensch mit einem unreinen Geist entgegen, der seine Wohnung in den Grabstätten hatte; und selbst mit Ketten konnte ihn niemand mehr binden, da er oft mit Fußfesseln und mit Ketten gebunden gewesen war und die Ketten von ihm in Stücke zerrissen und die Fußfesseln zerrieben worden waren; und niemand vermochte ihn zu bändigen“ (V. 2–5). Auffallend sind hier die Einsamkeit am Ort des Todes, die Ablehnung menschlichen Zwanges und Einflusses und die Unruhe und Grausamkeit dessen, was ihn besessen hielt. Aber nicht weniger bedeutsam ist die Anerkennung einer höheren Macht und Herrlichkeit in Jesus. „Und als er Jesus von weitem sah, lief er und warf sich vor ihm nieder; und mit lauter Stimme schreiend, sagt er: Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus, Sohn Gottes, des Höchsten? Ich beschwöre dich bei Gott, quäle mich nicht! Denn er sagte zu ihm: Fahre aus, du unreiner Geist, aus dem Menschen“ (V. 6–8).

Beiläufig gesagt, ist es bemerkenswert, wie der Mensch und der unreine Geist gleichgesetzt werden. Genauso eng verbindet sich jetzt in Gnade der Heilige Geist mit dem Gläubigen. Der Mensch schrie: „Quäle mich nicht!“; dabei ging es doch um den bösen Geist. So antwortete er auch: “Legion ist mein Name, denn wir sind viele. Und er bat ihn sehr, sie nicht aus der Gegend fortzuschicken“ (V. 9–10).

Auf der anderen Seite war es von großer Bedeutung, den unmissverständlichen Beweis zu geben, dass das Wohnen von Dämonen in einem Menschen eine Tatsache und Wirklichkeit sowie von äußerstem Ernst ist. Deshalb erhörte der Herr ihre Bitte, sie in die große Herde Schweine zu schicken, die dort weidete. „Und er erlaubte es ihnen. Und die unreinen Geister fuhren aus und fuhren in die Schweine, und die Herde stürzte sich den Abhang hinab in den See (etwa zweitausend), und sie ertranken in dem See (V. 13). In einigen Fällen hatte ein Besessener auch noch eine ernste Krankheit. Im Fall von Legion hören wir von keiner. Doch selbst, wenn er eine gehabt hätte, wäre es absurd, eine Übertragung derselben auf alle Schweine und eine solche Wirkung wie ihr sofortiges tobendes Rasen in die Vernichtung anzunehmen. Die Vertreibung all der Dämonen aus dem Menschen und ihre Vereinnahmung der Herde war jedoch eine Gelegenheit, ihren Hang zur Vernichtung zu zeigen, wenn eine mächtigere Hand nicht länger ihre hassvolle Bosheit zügelte.

Aber, ach, was ist der Mensch in der Gegenwart Jesu oder der barmherzigen Macht, welche auf diese Weise das Opfer aus der Folter des Teufels befreite. „Und sie kamen, um zu sehen, was geschehen war. Und sie kommen zu Jesus und sehen den Besessenen dasitzen, bekleidet und vernünftig, den, der die Legion gehabt hatte; und sie fürchteten sich“ (V. 14–15). Ja, sie fürchteten sich vor Dem, der die Gefangenschaft des Teufels zerbrach. Sie fürchteten sich mehr vor Jesus und seiner Gnade als vor dem Teufel und seinen Werken. Nein, noch mehr! „Und die es gesehen hatten, erzählten ihnen, wie dem Besessenen geschehen war, und das von den Schweinen. Und sie fingen an, ihm zuzureden, aus ihrem Gebiet wegzugehen“ (V. 16–17). Ach, ach, die Schweine und die Dämonen waren ihnen angenehmere Nachbarn als der Sohn Gottes! Sie hatten niemals versucht, von ihnen frei zu werden. Aber sie wollten Jesus los sein. Das ist der Mensch! So war und ist die Welt!

Es ist lieblich, das Gegenteil hiervon im Herzen dessen zu sehen, der so befreit worden war. Er saß nicht nur ungezwungen vor dem Heiland, „bekleidet und vernünftig“, sondern alle seine Zuneigungen waren auf Ihn gerichtet. Er wollte folgen, wohin Jesus gehen würde. So lesen wir: „Und als er in das Schiff stieg, bat ihn der Besessene, dass er bei ihm sein dürfe. Und er ließ es ihm nicht zu, sondern spricht zu ihm: Geh hin in dein Haus zu den deinen und verkünde ihnen, wie viel der Herr an dir getan und wie er sich deiner erbarmt hat“ (V. 18–19). Das geistliche Gefühl, welches seine Seele mit Jesus verband, war von Gott und sollte zu seiner Zeit ausgelebt und befriedigt werden. Doch die Gnade des Herrn dachte an andere auf diesem elenden Schauplatz der List des Feindes. An ihnen wollte Er das Zeugnis dessen, der so schmerzlich die Macht Satans erfahren hatte, segnen. Die Seinen und nicht so sehr die Fremden sollten seine Botschaft hören. „Verkünde ihnen“, sagte der Heiland, „wie viel der Herr1 an dir getan und wie er sich deiner erbarmt hat. Und er ging hin und fing an, in der Dekapolis bekannt zu machen, wie viel Jesus an ihm getan hatte; und alle verwunderten sich“ (V. 19–20). Und letzteres sollten auch wir tun, und zwar nicht nur wegen der großen Dinge, die getan worden waren, sondern auch wegen des einfältigen Glaubens, der sich hier zeigte. „Jesus“ war für ihn der „Herr“.

Als Nächstes sehen wir den Herrn, wie Er aufgrund der Bitte eines Synagogenvorstehers aufbricht, um dessen kranke Tochter, die sich an der Schwelle des Todes befand, zu heilen (V. 21–24). Auf dem Weg wurde seine Kleidung in dem Gedräng von einer Frau angerührt, die seit zwölf Jahren blutflüssig war. Auch hier war der Mensch machtlos. Anstatt dass sie bei den Fachleuten Erleichterung fand, hatte sie „und von vielen Ärzten vieles erlitten hatte und ihre ganze Habe verwandt und keinen Nutzen davon gehabt hatte –– es war vielmehr schlimmer geworden“ (V. 26). Was für ein Bild von menschlichem Leid! Und wie weit verbreitet! Doch „sie sprach: Wenn ich auch nur seine Kleider anrühre, werde ich geheilt werden“ (V. 28). Und sie handelte, wie es der Glaube immer tut, richtig. „Und sogleich versiegte die Quelle ihres Blutes, und sie merkte am Leib, dass sie von der Plage geheilt war“ (V. 29). Doch sogar bewusste Gewissheit war für die Gnade Gottes nicht genug. Sie hatte sozusagen den Segen gestohlen. Andererseits musste sie ihn als freie und vollkommene Gabe Auge in Auge von dem Herrn empfangen. „Und sogleich erkannte Jesus in sich selbst die Kraft, die von ihm ausgegangen war, wandte sich um in der Volksmenge und sprach: Wer hat meine Kleider angerührt? Und seine Jünger sprachen zu ihm: Du siehst, dass die Volksmenge dich umdrängt, und du sprichst: Wer hat mich angerührt? Und er blickte umher, um die zu sehen, die dies getan hatte. Die Frau aber, voll Furcht und Zittern, da sie wusste, was ihr geschehen war, kam und fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit“ (V. 30–33). „Gesegneter Herr, wie gut ist es, wenn deine Hand uns auf irgendeine, ja, auf jede Weise zu Dir führt, um Dir alles zu sagen! Denn in Wahrheit, unseren Kelch füllst Du dann bis zum Überfließen!“ „Er aber sprach zu ihr: Tochter, dein Glaube hat dich geheilt; geh hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage“ (V. 34). Wurde die Segnung geringer, nachdem der Gewinn der Gläubigen vom Herrn gegengezeichnet war? Wurde das Werk der Macht durch die gnädigen Worte, welche es ihr mit seinem eigenen Siegel besiegelte, nicht vergrößert?

Das ist der Segen, den der Glaube sich jetzt aneignet, während der Herr auf dem Weg ist, die kranke Tochter Judas zu heilen. Und wenn schlechte Nachrichten an das Ohr des Vorstehers gelangten, während Jesus seine Barmherzigkeit an ihr, die Ihn berührte, krönte, so ist seine Güte schnell dabei, ein schwaches Herz vor der Verzweiflung zu schützen. „Fürchte dich nicht; glaube nur“ (V. 36). Die Nachricht beunruhigte den Lehrer nicht; Er wollte sein eigenes Werk ausführen. Mit ausgewählten Zeugen, Säulen der Beschneidung, ging Er hinein, trieb die nutzlos Weinenden, die seine Worte des Trostes verspotteten, hinaus und weckte in Gegenwart der Eltern und seiner Begleiter zu ihrem großen Erstaunen das Mädchen aus dem Todesschlaf (V. 35–43). So wird Er am Ende des Zeitalters Israel auferwecken.

Fußnoten

  • 1 An anderer Stelle weist Kelly darauf hin, dass wir nicht eindeutig entscheiden können, ob mit dem Ausdruck „Herr“ hier Jesus oder Jahwe gemeint sei (Übs.).
Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel