Betrachtungen über den Propheten Daniel
Botschafter des Heils in Christo 1880

Betrachtungen über den Propheten Daniel - Teil 6/16

Kapitel 7.

Wie am Schluss des vorigen Kapitels bereits bemerkt, finden wir in diesem und den folgenden Kapiteln die Mitteilungen, die Gott dem Propheten selbst machte. Diese Mitteilungen stehen in enger Beziehung zu dem Volk der Juden und enthalten in besonderer Weise die endgültige Segnung dieses Volkes oder vielmehr des treuen Überrestes. In dem vorliegenden Kapitel begegnen wir wieder den vier heidnischen Reichen, welche in Babylon ihren Anfang nahmen. Während sie jedoch im Zweiten Kapitel dem König Nebukadnezar im Traum unter der Form eines großen Bildes vorgestellt wurden, treten sie uns hier in der Gestalt von vier wilden Tieren entgegen. Zudem wird auch hier das Königreich der Himmel durch den Herrn Jesus, den Sohn des Menschen, eingeführt. Doch müssen wir bemerken, dass jene schon im zweiten Kapitel erwähnten Reich hier von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus betrachtet werden. In jenem Bild handelte es sich um die Beziehungen der einzelnen Reiche zu einander, während sie hier gesehen werden in Verbindung mit dem Volk Israel und so, wie Gott sie betrachtet.

Das siebente Kapitel bildet gleichsam die Einleitung zu dem zweiten Teil des Buches Daniel und enthält drei Gesicht. Das erste Gesicht beschäftigt sich mit der Schilderung der drei ersten Tiere (V 2–6). Diesen wird zwar der Reihe nach die Herrschaft genommen, aber sie behalten ihr Leben und werden nicht vertilgt. Das zweite Gesicht enthält eine spezielle Beschreibung des vierten Tieres (V 7–12). Das dritte Gesicht zeigt (V 13 usw.), wie schließlich die ganze Herrschaft in die Hand des Sohnes des Menschen gegeben wird.

„Im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel, sah Daniel einen Traum und Gesicht seines Hauptes auf seinem Lager. Da schrieb er den Traum auf; die Summe der Sache sagte er. Daniel antwortete und sprach: Ich sah in meinem Gesicht bei Nacht und siehe, die vier Winde des Himmels brachen los auf das große Meer. Und es stiegen vier große Tiere heraus aus dem Meer, eines verschieden von dem Anderen“ (V 1–3). Das unruhige, wogende Meer ist hier, wie an verschiedenen anderen Stellen der Schrift, ein Bild von ungeordneten Völkermassen – von einer unzähligen Menge von Menschen, die sich in politischer Anarchie befinden. Aus ihrer Mitte steigen die vier Tiere oder die durch sie repräsentierten Reiche herauf. Sie kommen eins nach dem anderen zum Vorschein; sie bestehen nicht, wie wir schon im zweiten Kapitel gesehen, zu gleicher Zeit, sondern treten nacheinander unter der Leitung Gottes ihre Herrschaft über die Welt an. Jedoch werden sie hier nicht als von Gott eingesetzt, sondern in ihrem rein geschichtlichen Charakter und Verhältnis betrachtet.

„Das Erste war gleich einem Löwen und hatte Flügel eines Adlers“ (V 4). Das sind die charakteristischen Merkmale des babylonischen Reiches. An mehreren Stellen der Schrift ist von Nebukadnezar unter dem Bild eines Löwen und eines Adlers die Rede. So lesen wir z. B. von ihm in Jeremias 4,7: „Es ist herausgebrochen der Löwe aus seinem Dickicht und aufgebrochen der Verderber der Nationen“, und in Kapitel 49,19.22: „Siehe, wie ein Löwe wird er Heraufziehen von der Anschwellung des Jordans wider die starke Wohnung. ... Siehe gleich einem Adler wird er heraufkommen und stiegen und seine Flügel ausbreiten über Bozra“ (vgl. Hes 17). Hier bei Daniel finden wir die beiden Tiergestalten in einem Körper vereinigt. Die furchtbare Kraft des Löwen und die Schnelligkeit des Adlers, der sich in hohem und raschem Flug über alles zu erheben vermag, charakterisieren die babylonische Macht. Doch zeigt sich bald eine große Veränderung, die freilich zurzeit dieser Mitteilung an den Propheten nur dem Auge Gottes offenbar war; die Kraft schwindet und die Schnelligkeit wird weggenommen: „Ich sah zu, bis dass seine Flügel ausgerupft waren, und es ward von der Erde aufgehoben und auf die Füße gestellt wie ein Mensch, und ihm ward das Herz eines Menschen gegeben“ (V 4). Das wilde Tier wurde geschwächt und erniedrigt. Babylon wurde nicht völlig vernichtet, aber seine Oberherrschaft über die damals bekannte Welt wurde ihm genommen; es wurde gedemütigt und unterjocht.

Der fünfte Vers enthält die Beschreibung des medopersischen Reiches, der Brust und der Arme von Silber. „Und siehe, das andere Tier, das Zweite, war gleich einem Bären und richtete sich auf der einen Seite auf.“ Das Zweite Reich hatte weder die Energie, noch den schnellen Flug des ersteren, es war schwerfälliger und von vornherein aus zwei Hauptelementen, den Medern und Persern, zusammengesetzt. Zunächst rissen, wie wir in Kapitel 5,30 und 6,1 gesehen haben, die Meder unter Darius das Königreich an sich; allein ihre Herrschaft war nur von kurzer Dauer. Die Perser, unter der Führung des Kyrus, machten sich von der Botmäßigkeit der Meder frei und bemächtigten sich bald nachher der ganzen Herrschaft. Bis zum Untergang des medopersischen Reiches saß fortwährend ein Perser auf dem Thron. Ans diesem Grund wird auch gesagt, dass sich das Tier auf der einen Seite aufrichtete. Durch die folgenden Worte: „Und es hatte drei Nippen in seinem Maul Zwischen seinen Zähnen, und man sprach zu ihm also: Stehe auf und friss viel Fleisch“, wird, wie ich nicht Zweifel, die außergewöhnliche Raubgier und Eroberungssucht des persischen Reiches bezeichnet. Freilich behandelten sowohl Kyrus als auch seine Nachfolger das jüdische Volk mit Nachsicht und ließen es in sein Land zurückkehren; denn die von Gott bestimmte Zeit der Rückkehr war gekommen. Allein im Allgemeinen waren die Perser hart und grausam gegen andere, und besonders, gegen die Völker, die sich ihrer Herrschaft nicht unterwerfen wollten und erst nach längeren Kämpfen bezwungen wurden.

Wir kommen jetzt zu dem dritten Tier. „Nach, diesem sah ich, und stehe, es war ein anderes, gleich einem Pardel, und es hatte vier Flügel eines Vogels auf seinem Rücken, und das Tier hatte vier Häupter, und ihm ward die Herrschaft gegeben“ (V 6). Dieses Tier entspricht „dem Bauch und den Lenden von Erz“ (Kap 2,32); es repräsentiert das dritte Reich, welches die Herrschaft empfangen sollte. Es trägt nicht die Stärke und Raubgier der beiden ersten Tiere zur Schau; seine Kraft besteht vielmehr in seiner außerordentlichen Behändigkeit und Ausdauer. Es gleicht einem Pardel, der seine Beute in flüchtigem Lauf verfolgt und sich wie ein Blitz auf dieselbe stürzt. Außerdem hat es noch, als besonderes Symbol der Schnelligkeit, auf seinem Rücken vier Flügel eines Vogels. Es ist das treffende Bild Alexanders des Großen und seiner Herrschaft. Während seiner Regierung folgten die wichtigsten Ereignisse mit überraschender Schnelligkeit auf einander. In unglaublich kurzer Zeit unterwarf er das ganze ungeheure Gebiet des damals bekannten Asien seiner Oberherrschaft. Er durchflog, im wahren Sinne des Wortes, mit seinen Heeren das Land vom Ägäischen Meere bis zum Indus, vom schwarzen Meere bis zum Nil. Nichts vermochte seinen kühnen und raschen Flug aufzuhalten. Plötzlich jedoch ereilte ihn der Tod; in der Blüte seiner Jahre erlag er einem hitzigen Fieber. Seine sechs Generäle teilten sich in das gewaltige Reich. Allmählich aber schmolzen diese sechs getrennten Reiche in vier zusammen. Das Tier hatte vier Häupter. Es wird uns also in diesem Tier sowohl die anfängliche als auch die spätere Gestalt des griechischen Reiches vor Augen gestellt.

Das vierte Tier ist Gegenstand eines besonderen Gesichts, und zwar ohne Zweifel deshalb, weil es von weit größerer Wichtigkeit ist, als seine Vorgänger. „Nach diesem sah ich in Gesichten der Nacht, und siehe, das vierte Tier war schrecklich und gräulich und sehr stark und hatte große eiserne Zähne; es fraß und Zermalmte und Zertrat das übrige mit seinen Füßen; und es war verschieden von allen Tieren, die vor ihm gewesen, und es hatte Zehn Hörner“ (V 7). Es wird uns nicht schwer werden, in diesem vierten Tier die Charakterzüge des letzten, des römischen Weltreiches zu erkennen. Es entspricht den „Schenkeln von Eisen und den Füßen, teils von Eisen und teils von Ton“ (Kap 2,33). In dem zweiten Kapitel wird der Charakter dieses letzten Königreiches in ähnlicher Weise beschrieben: „Und das vierte Königreich wird hart sein wie Eisen; ganz so wie das Eisen alles zermalmt und Zerschlägt, und wie das Eisen, das dies alles zerbricht, wird es zermalmen und zerbrechen“ (V 40).

Das römische Reich wird also durch eine alles überwältigende Stärke charakterisiert und durch ein Ungeheuer dargestellt, das in der ganzen Schöpfung nicht seines Gleichen hat. 1 „Es war schrecklich und gräulich und sehr stark und hatte große eiserne Zähne; es fraß und Zermalmte und zertrat das übrige mit seinen Füßen.“ Das römische Reich besaß eine beispiellose Eroberungswut und warf ein Volk nach dem anderen mit unwiderstehlicher Gewalt vor sich nieder und zog ein Land nach dem anderen unter seine Botmäßigkeit. Wollte sich aber ein Volk nicht unter seine Herrschaft beugen, so wurde es vernichtet, oder, bildlich gesprochen, unter den Füßen zertreten. „Und es war verschieden von allen Tieren, die vor ihm gewesen“ (V 7). Abweichend von den vorhergehenden Reichen bildete Rom Jahrhundert hindurch eine Republik, und erst Cäsar gelang es, sich zum Alleinherrscher des unermesslichen Reiches zu machen. Er wusste die republikanischen Elemente desselben mit einem solch eisernen Despotismus zu verbinden, wie er je in der Welt geherrscht haben mag.

Außerdem entdecken wir noch ein Zweites unterscheidendes Merkmal. Das Tier hatte „zehn Hörner.“ Es nimmt eine neue Form an. Das griechische Reich trennte sich nach dem Tod seines Gründers in vier einzelne Königreiche, während die Herrschermacht des römischen Reiches sich in den Händen von Zehn gemeinsam regierenden Fürsten oder Königen befinden wird (vgl. V 24). Nun hat es aber während des langen Bestehens des römischen Reiches nie eine Zeit gegeben, wo die oberste Gewalt von zehn Königen zugleich ausgeübt wurde. Alle die vorher angeführten Eigenschaften des Tieres, dass es schrecklich, gräulich und sehr stark war, dass es fraß und zermalmte und das übrige mit seinen Füßen zertrat, mögen ihre Verwirklichung in der Geschichte des römischen Reiches gefunden haben – und ich glaube, dass dies besonders zurzeit der Kaiser der Fall war – allein von einer Teilung der Herrschaft unter zehn Könige, ohne eine Zersplitterung des Reiches, ist nie die Rede gewesen. Solange jener ungeheure Koloss bestand, gab es keine zehn Hörner; und als er endlich in sich selbst zusammenbrach, bildeten sich aus den Trümmern zahlreiche Königreiche, vielleicht (zehn, vielleicht noch mehr) allein sie entstanden erst in Folge der Vernichtung der römischen Oberherrschaft. Eine gemeinsame Herrschaft von zehn Königen über ein einheitliches römisches Reich ist bis jetzt eine unerfüllte Tatsache geblieben. Ich zweifle daher keinen Augenblick daran, dass uns der Heilige Geist in diesen zehn Hörnern den Charakter jenes Reiches vor Augen führen will, den es nach seiner Wiederherstellung in den letzten Tagen annehmen wird.

Zur näheren Begründung des Gesagten mag es gut sein, einen Augenblick das Buch der Offenbarung zur Hand zu nehmen. Wir finden dort im 8. Verse des 17. Kapitels die Worte: „Das Tier, welches du sähest, war und ist nicht und wird aufsteigen aus dem Abgrund.“ Es unterliegt keinem Zweifel, dass dieses Tier ein Symbol des römischen Reiches ist, welches zurzeit des Johannes war. Die Zeit des Bestehens der herrschenden Macht Roms umfasst einige Jahrhunderte vor und nach dem Tod des Propheten. Zur Zeit der Geburt Christi stand es auf dem Gipfel seiner Macht, und in der Person des Landpflegers Pontius Pilatus nahm es Teil an der Verwerfung Christi. Sein Bestehen reicht bis ungefähr in die Mitte des fünften Jahrhunderts unserer jetzigen Zeitrechnung. Um diese Zeit drangen die Goten und Wandalen in Italien ein und bereiteten der römischen Herrschaft ein schnelles Ende. Das ungeheure Reich zerfiel in Trümmer – es hörte auf zu existieren; und in diesem Zustand befindet es sich heute noch: „es ist nicht.“ Allem wir hören, dass es wiederhergestellt werden wird: es wird „aufsteigen aus dem Abgrund.“ Es wird aufs Neue als ein Reich auf dem Weltschauplatz erscheinen und durch Satan selbst zu Ansehen und Kraft gelangen. In dieser letzten Periode wird es, unterstützt von den zehn Königen, die mit dem Tier eine Stunde Gewalt empfangen, mit dem Lamm Krieg führen, „und das Lamm wird sie überwinden“ (V 12–14). In Kapitel 19,11–21 wird uns die Ausübung dieses Gerichts über das Tier und die Könige der Erde mitgeteilt. Es ist ein vollständiges Gericht; nicht nur wird dem Tier Herrschaft und Gewalt genommen, wie früher seinen Vorgängern, sondern es fällt einer gänzlichen Vernichtung anheim. Dies wird uns auch in unserem vorliegenden Kapitel aufs klarste mitgeteilt. „Ich sah, bis dass Throne aufgestellt wurden und der Alte der Tage sich setzte; sein Kleid war weiß wie Schnee, und das Haar seines Hauptes wie reine Wolle, sein Thron Feuerflammen, seine Räder ein brennendes Feuer. Ein Strom von Feuer floss und ging von ihm aus; tausendmal Tausende dienten Ihm und zehn pausend mal Zehntausende standen vor Ihm; das Gericht saß, und die Bücher wurden aufgetan“ (V 9–10). Die göttliche Herrlichkeit offenbart sich im Gericht; der Thron des Gerichts Jehovas wird aufgestellt. „Da sah ich wegen der Stimme der großen Worte, die das Horn redete, ich sah, bis dass das Tier getötet und sein Leib vertilgt und übergeben ward, um vom Feuer verbrannt zu werden“ (V 11). Dieses hier angeführte Horn ist jenes „kleine Horn“ in Vers 8. „Ich gab Acht auf die Hörner, und siehe ein anderes kleines Horn kam zwischen ihnen herauf, und drei der vorigen Hörner wurden von ihm ausgerissen; und siehe, an diesem Horn waren Augen, wie eines Menschen Augen, und ein Mund, der große Dinge redete.“ Klein in seinen Anfängen gelingt es ihm durch irgendwelche Mittel drei der übrigen Hörner auszureißen und sich allmählich zum Leiter und Beherrscher des ganzen Tieres zu machen. Dass dies letztere der Fall ist, beweisen die Worte: „Da sah ich wegen der Stimme der großen Worte, die das Horn redete, ich sah, bis dass das Tier getötet ward usw.“ Es heißt nicht: „Ich sah, bis dass das Horn ausgerissen oder niedergeworfen wurde.“ Die Lästerungen des kleinen Hornes haben die völlige Vernichtung des ganzen Tieres zur Folge. Das Tier ward getötet und sein Leib vertilgt und übergeben, um vom Feuer verbrannt zu werden. „Und die übrigen Tiere – man nahm ihre Herrschaft weg; aber Verlängerung des Lebens ward ihnen gegeben bis auf Zeit und Stunde“ (V 12). Wie schon bemerkt, zeigt das Gericht des vierten Tieres eine große Verschiedenheit von den drei ersten. Obgleich diesen die Herrschaft genommen wurde, so fielen sie doch keiner völligen Vernichtung anheim. Die Überreste des chaldäischen Volkes sind noch heute vorhanden; Persien und Griechenland existieren sogar noch als selbstständige Reiche, wenn sie auch eine untergeordnete Stellung einnehmen. Ihre ehemalige Machtstellung als Beherrscher der Welt ist ihnen freilich genommen; allein „Verlängerung des Lebens ward ihnen gegeben bis auf Zeit und Stunde.“ Mit dem vierten Reich oder Tiere verhält es sich jedoch anders. Die Stunde der Zerstörung seiner Herrschaft ist auch die Stunde seiner gänzlichen Vernichtung.

Es ist augenscheinlich, dass die hier erwähnten Ereignisse mit dem Inhalt des 13., 17. und 19. Kapitels der Offenbarung im genauesten Zusammenhang stehen. Johannes spricht natürlich nur von dem vierten Tier, dem römischen Reich, weil die Herrschaft der drei vorhergehenden Tiere zu der Zeit, als er seine Offenbarungen empfing, schon längst vom Schauplatz verschwunden war. So wie uns dort mitgeteilt wird, dass das Tier seinen Mund öffnete zu Lästerungen Wider Gott, wider seinen Namen und seine Hütte, und dass es Krieg führte mit den Heiligen und sich empörte gegen das Lamm, so hören wir hier ebenfalls, dass das Horn einen Mund hatte, der große Dinge redete, und dass es Krieg führte mit den Heiligen. In beiden Büchern ist auch das gleiche Gericht, das über das Tier kommt, mitgeteilt. In der Offenbarung lesen wir: „Und es ward ergriffen das Tier und der falsche Prophet, der mit ihm war ... lebendig wurden die zwei geworfen in den Feuersee, der mit Schwefel brennt“; und hier heißt es: „Ich sah, bis dass das Tier getötet und sein Leib vertilgt und übergeben ward, um vom Feuer verbrannt zu werden.“

Die Behauptung, dass alle jene von Daniel und Johannes prophezeiten Gerichte schon über das römische Reich ergangen seien, ist falsch und entbehrt jeder Grundlage. Ich frage nur: Ist jemals das Haupt des römischen Reiches und einer seiner Helfershelfer, den man unter dem falschen Propheten verstehen könnte, lebendig in die Hölle geworfen worden? Gewiss nicht. Es ist wahr, dass das römische Reich schon seit mehr als einem Jahrtausend in Wirklichkeit nicht mehr existiert, wenn es auch dem Namen nach noch länger bestanden haben mag; aber es wird, wie gesagt, wieder zum Vorschein kommen und unter der Leitung eines durch die Wirksamkeit Satans hervorgebrachten und von ihm völlig beeinflussten Hauptes sich in offenem Abfall gegen den Höchsten empören, um dann einem schrecklichen Gericht anheim zu fallen.

Werfen wir jetzt noch einen kurzen Rückblick auf das kleine Horn, welches Daniel zwischen den zehn Hörnern des Tieres heraufkommen sah. Es ist häufig behauptet worden, dass unter diesem Horn das Papsttum zu verstehen sei. Allein wenn es auch wahr ist, dass eine auffallende Ähnlichkeit zwischen beiden gefunden wird, dass verschiedene Eigenschaften des kleinen Horns das Papsttum während der Jahrhunderte seines Bestehens charakterisierten, so gelangte dasselbe doch erst dann zur Entfaltung seiner Macht, als das römische Reich schon längst vom Schauplatz verschwunden war. Zudem hat niemals ein Papst drei von den zehn Königreichen in seinen Besitz gebracht. Die päpstliche Macht bestand zu jeder Zeit weit mehr in dem Einfluss auf die Seelen der Menschen, als in dem Besitz von ausgedehnten Länderstrecken, obgleich sie auch danach trachtete und Jahrhunderte hindurch eine weltliche Herrschaft ausübte. Die Erfüllung der Prophezeiung über das kleine Horn liegt noch im Schoß der Zukunft verborgen. Erst bei der späteren Wiederherstellung des römischen Reiches wird das kleine Horn in die Erscheinung treten, drei der vorhandenen zehn Königreiche, aus welchem jenes Reich bestehen wird, an sich reißen und sich zum Haupt desselben machen. Ich glaube auch nicht, dass wir unter diesem Horn den Antichristen zu verstehen haben, sondern die letzte tätige Macht des Bösen in dem römischen Reich oder dem Tier. Jedoch wird der Antichrist ohne Zweifel in enger Verbindung mit diesem Haupt des Tieres stehen und es zu den schrecklichen Lästerungen, die es gegen den Höchsten ausstoßen wird, anreizen. Wir werden hierauf später noch einmal zurückkommen.

Es werden uns noch einige andere Mitteilungen über das kleine Horn gemacht, die wir nicht mit Stillschweigen übergehen dürfen. „Und siehe, an diesem Horn waren Augen, wie eines Menschen Augen, und ein Mund, der große Dinge redete.“ Dies sind die moralischen Charakterzüge des Hornes, durch welches das ganze Tier repräsentiert wird. Es besitzt den Scharfsinn und den Verstand eines Menschen und maßt sich große Dinge an. Seine Gedanken und Pläne gehen über das Gebiet seiner Herrschaft hinaus. Es übt einen großen moralischen Einfluss auf seine ganze Umgebung aus und erhebt sich mit der verwegensten Anmaßung. Es ist nicht nur ein großer Eroberer und Herrscher, sondern weiß mit großer Schlauheit alles für seine gottlosen, wohlberechneten Pläne und Anschläge zu gewinnen. Es unterscheidet sich in bemerkenswerter Weise von dem Lamm in Offenbarung 5, welches bekanntlich ein Symbol des Herrn ist, und als Zeichen der Vollkommenheit seiner Macht und Einsicht sieben Hörner und sieben Augen hat. Scheinbar besitzt das hier beschriebene Tier eine größere äußerliche Gewalt – es hat zehn Hörner. Es ist ein Ungeheuer anstatt eines vollkommenen Menschen und erhebt sich in frecher Weise über Gott und das Lamm. In Folge dessen wird es, wie wir gesehen haben, in den Feuersee geworfen, der mit Schwefel brennt (Fortsetzung folgt).

Fußnoten

  • 1 Im 13. Kapitel der Offenbarung sieht Johannes „aus dem Meer ein Tier aufsteigen, das hatte zehn Hörner und sieben Köpfe und auf seinen Hörnern zehn Diademe und auf seinen Köpfen Namen der Lästerung. Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Pardel und seine Füße wie eines Bären und sein Maul wie eines Löwen Maul. Und der Drache gab ihm seine Macht und seinen Thron und große Gewalt“ (V 1–2). Durch das Meer, aus dessen Tiefe das Tier emporsteigt, wird uns auch hier, wie oben, der ungeordnete, revolutionäre Zustand der Völker bezeichnet. Allein das Tier unterscheidet sich merklich von demjenigen, welches Daniel sah. Es ist gleich einem Pardel und hat die Füße eines Bären und das Maul eines Löwen. Es vereinigt alle jene Eigenschaften in sich, welche die drei ersten Reiche charakterisierten und auszeichneten. Zugleich hat es Zehn Hörner und sieben Köpfe usw. und der Drache (Satan) gibt ihm seine Macht und seinen Thron und große Gewalt. Es ist das am Ende dieses Zeitalters durch satanischen Einfluss wiederhergestellte römische Reich, welches von Satan Macht und Thron und große Gewalt empfängt. Wenn wir in der Offenbarung die Tiere in umgekehrter Reihenfolge angeführt finden, so hat dies darin seinen Grund, dass Daniel unter der Herrschaft des ersten, des babylonischen Reiches lebte, während sich Johannes unter der Herrschaft des letzten, des römischen Reiches befand, und also der Eine die Tiere vorwärts, der Andere rückwärts aufzählte.
Nächstes Kapitel der Artikelfolge »« Vorheriges Kapitel der Artikelfolge
Nächstes Kapitel der Zeitschrift »« Vorheriges Kapitel der Zeitschrift