Betrachtungen über den Propheten Daniel
Botschafter des Heils in Christo 1880

Betrachtungen über den Propheten Daniel - Teil 1/16

1 Einleitung

Bevor wir mit der Betrachtung des so wichtigen wie interessanten Buches Daniel beginnen, wird es zum besseren Verständnis desselben nötig sein, uns ein wenig mit dem damaligen Zustand des Volkes Israel oder des kleinen Überrestes, an welchen die Prophezeiungen gerichtet wurden, bekannt zu machen.

Wir finden das Volk in der tiefsten Erniedrigung. Alle Ermahnungen und Warnungen von Seiten Jehovas, seines Gottes, sind vergeblich gewesen, und das schon lange vorher angedrohte Gericht ist endlich über dasselbe hereingebrochen. Israel hat seinen herrlichen, bevorzugten Platz als Volk Gottes eingebüßt. Gott selbst erkennt es als solches nicht mehr an. Er betrachtet es als „Lo–Ammi“, nicht (mein Volk) seine Herrlichkeit ist von Jerusalem gewichen, die Stadt und das ganze Land sind verwüstet und seine Bewohner in die Gefangenschaft nach Babylon weggeführt. Die dem König Hiskia durch den Propheten Jesajas gegebene Weissagung hat sich auf die schrecklichste Weise erfüllt (Jes 39,6–7). Der ganze königliche Same schmachtet in der Gefangenschaft Nebukadnezars, des Königs von Babylon. Gott hat sie in seine Hand gegeben und die Macht und Herrschaft ihm, dem Haupt der Nationen, übertragen. Dies bezeugt auch Daniel in dem 36. Verse des zweiten Kapitels, indem er sagt: „Du, o König, bist ein König der Könige, denn der Gott des Himmels hat dir Königreich, Macht und Stärke gegeben.“ Der Thron Jehovas (1. Chr 29,23), den Er in Jerusalem aufgerichtet hatte, ist völlig von der Erde verschwunden, und Nebukadnezar herrscht, nachdem er das Gericht über Israel ausgeführt, in der ganzen Unumschränktheit und Gewalt, wie sie ihm von Gott übergeben war. Diese Herrschaft des Hauptes der Nationen und der ihm folgenden heidnischen Könige ist es hauptsächlich, womit sich das Buch Daniels beschäftigt. Die Geschichte der vier Reiche der alten Welt: des babylonischen, des medopersischen, des griechischen und endlich des römischen wird uns in bestimmten Charakterzügen vor Augen gemalt. Die Zeit der Nationen ist hereingebrochen, und Gott beschäftigt sich bezüglich des Volkes Israel nur noch mit dem kleinen Überrest, der Ihm treu geblieben ist, und der durch Daniel repräsentiert wird. Der Geist der Prophezeiung und des Verständnisses in den Wegen Gottes kennzeichnet diesen gläubigen Überrest. Wie derselbe seiner Zeit in Samuel erweckt wurde, als ganz Israel gefehlt hatte, so finden wir ihn auch hier, um das Band zwischen Gott und seinem Volk zu bilden. Er ist der alleinige Ruheplatz für den Glauben inmitten des Ruins, in welchen das Gericht Gottes das Volk gebracht hatte.

Das Buch selbst zerfällt in zwei Hauptabschnitte, die leicht voneinander zu unterscheiden sind. Der Erste umfasst die Kapitel 1–6, der Zweite die folgenden Kapitel bis zum Ende des Buches. Jedoch haben das erste und letzte Kapitel als Einleitung und Schluss einen besonderen Charakter. Sie machen uns mit der Stellung und dem Zustand des Überrestes, dem, wie immer, das Zeugnis Gottes anvertraut wurde, bekannt. „Das Geheimnis Jehovas ist für die, so Ihn fürchten“ (Ps 25,14).

Der erste Hauptabschnitt des Buches enthüllt vor unseren Blicken die äußere und allgemeine Geschichte der kommenden Monarchien und ihrer Häupter, zeigt uns die verschiedenen Stellungen, in welche ihr Stolz und Hochmut sie bringt, ihr endliches Gericht und die Aufrichtung des Königreichs Christi. Der Geist, der die herrschende Macht in den verschiedenen Zeiträumen beseelte, tritt uns in einzelnen bestimmten Zügen entgegen. Besonders genau wird das Verhalten und das Gericht dessen erzählt, den Gott selbst eingesetzt hatte, und der alle die übrigen repräsentierte, indem er mit diesem Charakter göttlicher Anordnung bekleidet war. Die Anderen erben den Thron, den er von Gott empfangen hatte. Wir finden daher in diesem Teil des Buches keine direkten Offenbarungen an Daniel, ausgenommen zum Zweck der Deutung des Traumes Nebukadnezars.

Der Zweite Hauptabschnitt hingegen besteht ausschließlich aus Mitteilungen, die dem Propheten von Gott gegeben werden – aus Offenbarungen, die uns bekannt machen mit dem Charakter der heidnischen Könige oder der Häupter der Nationen und speziell mit ihrem Verhalten gegen diejenigen, welche den einigen Gott anerkennen, d. h. die Juden. Den Schluss bilden die Handlungen Gottes mit seinem Volk am Ende der Tage und die Aufrichtung des göttlichen Königreichs in der Person des Sohnes des Menschen, eines Königreiches, das die Heiligen besitzen werden. Der Charakter dieses Teiles unterscheidet sich also wesentlich von dem des vorhergehenden, obwohl die dem Propheten gemachten Mitteilungen der Zeit nach mit den Ereignissen des ersten Teiles zusammenfallen. Das 6. Kapitel schließt mit den Worten: „Und dieser Daniel wurde befördert in dem Königreich des Darms und in dem Königreich Kores, des Persers“, es geht also bis zum Ende der Laufbahn des Propheten, der, wie wir im ersten Kapitel lesen (V 21), bis zum ersten Jahre des Königs Kores blieb. Das 7. Kapitel geht wieder zurück bis zum ersten Jahre des Königs Belsazar, das achte bis zum dritten Jahr desselben Herrschers; das neunte Kapitel beginnt mit den Worten: „Im ersten Jahre Darms, des Sohnes Ahasveros, aus dem Samen der Meder usw.“, und das zehnte Kapitel: „Im dritten Jahre Kores, des Königs von Persien, ward Daniel usw.“; das elfte Kapitel endlich teilt uns eine Offenbarung aus der Zeit Darms, des Meders, mit und greift also wieder mehrere Jahre zurück. Mit einem Wort, wir finden in dem ersten Teil des Buches die äußere Geschichte der vier heidnischen Weltreiche, während uns der zweite Teil mehr die innere Geschichte oder das, was für solche, die Verständnis in den Wegen Gottes haben, von Interesse ist, mitteilt.

Ich füge noch hinzu, dass Kapitel 7 im Wesentlichen die Geschichte des westlichen Reiches, Kapitel 8 die des östlichen – die Geschichte der beiden kleinen Hörner – schildert. Kapitel 9 ist, obwohl es sich besonders auf Jerusalem und das Volk – den moralischen Mittelpunkt dieser Fragen – bezieht, verbunden mit der westlichen Macht, welche die Stadt und das Heiligtum zerstörte und das Volk völlig aus seinem Land vertrieb. Von Kapitel 10 bis zum Ende von Kapitel 11 befinden wir uns wieder im Osten.

Wenden wir uns jetzt nach dieser kurzen Einleitung zur Betrachtung des Buches selbst. Der Herr wolle uns durch seinen Geist befähigen, mit einem einfältigen Auge und einem einsichtsvollen Herzen den reichen, gesegneten Inhalt desselben zu erforschen, damit es zu unser aller Erbauung und Belehrung und zur Verherrlichung seines Namens gereiche! (Fortsetzung folgt)

Fußnoten

  • 1 Die vorliegenden Betrachtungen sind unter Benutzung der im Englischen erschienenen Abhandlungen über den Propheten Daniel von J. N. D. und W. Kelly bearbeitet worden.
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