Botschafter des Heils in Christo 1874

Eins aber ist Not

Aus dieser feierlichen Bemerkung, die der Herr Jesus an Marta richtet, ersehen wir, wie Er das Anhören seines Wortes mit großem Nachdruck als das „Eine, was noch ist“ bezeichnet. Und aus diesem Grund fand auch Maria mehr Anerkennung in seinen Augen, als ihre Schwester Marta, wiewohl diese, indem sie den Herrn in ihrem Haus aufnahm und Ihm diente, in einem gewissen Sinne ein gutes Werk verrichtete. Dennoch gibt es etwas Besseres, ja, etwas durchaus Notwendiges, wenn anders unser Dienst ein duftender Wohlgeruch vor dem Herrn sein soll; denn Er sagt: „Maria aber hat das gute Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden wird.“

Es ist dem Herrn über alles andere wohlgefällig, wenn sein Wort ein aufmerksames Ohr und ein geöffnetes Herz findet, so dass die Seele gänzlich durch die Macht seines Wortes beherrscht werden kann; und unstreitig hat die in unserer Zeit so vielfach zu Tage tretende Schlaffheit und Kraftlosigkeit der Gläubigen ihren Grund in der Vernachlässigung des „Einen, was Not ist“, oder, mit anderen Worten, in der Versäumnis, zu den Füßen Jesu zu sitzen und sein Wort zu hören. Die vielen Sekten und Parteiungen und vor allem die verschiedenartigen Irrlehren unter den Christen sind davon die traurigen Folgen und verraten nur zu deutlich die mangelhafte Erkenntnis des Wortes des Herrn.

Man kann die Person Jesu und sein Wort nimmer voneinander trennen, wenn man nicht den Wert und die Kraft von beiden für das Herz verlieren will. Denn wie kann man eine Gemeinschaft mit Christus genießen, wenn man es versäumt, auf sein Wort zu achten? Er sagt: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr alles tut, was ich euch gebiete“ (Joh 15,14). Und wie kann ich sein Gebot kennen und seinen Willen verstehen, wenn ich nicht zu seinen Füßen sitze und auf seine Worte lausche? Die Geringschätzung seines Wortes ist eine Geringschätzung seiner erhabenen Person; und sicher hat sein Wort nur dann Wert und Kraft für unsere Herzen, wenn wir verstehen, dass es sein Wort ist. Deshalb sagt Er: „Meine Schafe hören meine Stimme“ (Joh 10,27); und wiederum: „Du hast mein Wort bewahrt“ (Off 3,8).

Es ist daher von der größten Wichtigkeit, Jesus zu hören, auf sein Wort zu achten und dasselbe im Herzen wohnen zu lassen. Durch nichts anderes kann dieses ersetzt werden. Weder der eifrige Dienst, noch die große Aufmerksamkeit, welche dem Herrn durch die Liebe derjenigen, die Er liebte, gewidmet wurde, fanden in seinen Augen eine solche Anerkennung, wie das begierige Lauschen auf sein süßes Wort von Seiten derer, die zu seinen Füßen saß. Ohne Zweifel gefiel es dem Herrn, dass Marta Ihm diente, und sicher wird ihre aufopfernde Liebe manchen unter uns beschämen; allein ein anspruchsloser, segensreicher und unermüdlicher Dienst für Ihn wird nur da stattfinden können, wo das „Eine, was Not ist“, nicht nur nicht versäumt wird, sondern den vornehmsten Platz im Herzen einnimmt, während ein noch so bereitwilliger und eifriger Dienst, sobald man denselben zum ersten Gegenstand macht, nur zu bald mit Dürre, Unzufriedenheit und Mutlosigkeit enden wird. Die beiden Schwestern liefern uns dafür die Beweise. Während Maria sich an den Worten des Herrn erquickte, lesen wir von ihrer so eifrig dienenden Schwester: „Marta aber war sehr beschäftigt mit vielem Dienen; und sie trat hinzu und sprach: Herr! Kümmert es dich nicht, dass mich meine Schwester allein dienen lässt? Sage ihr nun, dass sie mir helfe!“ (V 40) Der Eifer des Dienstes war mit einem Mal gebrochen. Warum? Weil ihr Herz mit dem Dienst, aber nicht mit der Person dessen, dem der Dienst galt, beschäftigt war.

Wie beachtenswert! ist dieses Beispiel für uns! Der Herr sagt: „Marta, Marta! Du bist besorgt und beunruhigt um viele Dinge. Eins aber ist noch“ (V 41). Sicher bilden die „vielen Dinge“, um derentwillen Marta „besorgt und beunruhigt“ war, einen schroffen Gegensatz zu dem von Maria erwählten „guten Teil“, nämlich dem Wort Jesu, auf welches sie lauschte. Während Marta durch die „vielen Dinge“ beunruhigt wird, findet Maria Erquickung und Stärkung durch das erwählte „gute Teil.“ Während die „vielen Dinge“ nur Zerstreuung, Erschlaffung und Kraftlosigkeit im Gefolge haben, verleiht das „gute Teil“ Trost, Frische und Kraft. Während die „vielen Dinge“ mit Leere, Täuschung und selbst dem Tod endigen, findet das gebrochene, zu den Füßen Jesu gebeugte Herz in seinem Wort das ewige Leben, die unversiegbare Quelle des Wassers des Lebens.

Und so ist es noch immer. Der Herr Jesus verliert nimmer seine Schönheit, seinen Reiz, seinen Wert; und ebenso wenig verliert sein Wort die ihm eigentümliche Kraft. „Er ist gestern und heute und in die Zeitalter derselbe;“ – und „Sein Wort bleibt in Ewigkeit“ es „vermag weise zu machen zur Seligkeit und ist nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werk völlig geschickt.“ Wie köstlich und segensreich ist das Wort des Herrn, und wie wunderbar ist die Wirkung desselben in den Herzen derer, die darauf achten! Ja, nur das Wort vermag uns zu jedem guten Werke geschickt zu machen und uns zu einem wahren, ausharrenden und unermüdlichen Dienst zu befähigen, zu einem Dienst, der in den Augen des Herrn völlige Anerkennung findet, selbst wenn die Menschen ihn nicht zu erkennen und zu schätzen vermögen.

Die „vielen Dinge“, welche Marta so sehr beunruhigten, übten auf Maria keinen Einfluss aus, und zwar nicht bloß deshalb, weil der Zustand der letzteren geistlicher war, als der der ersteren, sondern weil das Wort, welches sie aus dem Mund Jesu hörte, sie weit über die „vielen Dinge“ erhob und ihren Gedanken und Neigungen eine andere Richtung verlieh. Hier zu den Füßen Jesu hatte Maria es gelernt, nicht einen eigenwilligen Dienst zu üben, sondern sich unter der Leitung des Geistes zu einer Handlung geschickt machen zu lassen, wovon der Herr sagte: „Sie hat ein gutes Werk an mir getan“ (Mk 14,6).

Wollen wir daher ein gutes Werk tun, ein Werk, das die Anerkennung Jesu finden soll, so müssen wir zuvor das „gute Teil“ erwählen, d. h. zu seinen Füßen sitzen und auf sein Wort achten. Im anderen Fall beschäftigen wir uns nur mit jenen „vielen Dingen“, die das Herz dürre, mutlos und unruhig machen. Das Wort aber, je mehr die Autorität desselben anerkannt ist, wird stets seine Kraft geltend machen. Alle unsere Anstrengungen, um uns dem Einfluss der irdischen Dinge An entziehen, werden vergeblich sein, solange wir nicht die Bedeutung der Worte Jesu verstehen: „Eins aber ist Not. Maria aber hat das gute Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden wird.“ Ohne dieses gibt es keinen wirklichen Dienst und kein entschiedenes Zeugnis für Christus.

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