Botschafter des Heils in Christo 1874

Der unausforschliche Reichtum des Christus

Wenn wir, meine Freunde, an unsere gänzliche Unwürdigkeit, an unseren Zustand der Sünde und an unsere völlige Unfähigkeit bezüglich irgendwelcher Verbindung mit Gott denken, so könnten wir unmöglich eine solche Verbindung mit dem heiligen Gott voraussetzen, wenn dieses nicht in der freien, unumschränkten Gnade Gottes in Christus seinen Grund hätte; wir würden es nicht verstehen, wie Gott solche Sünder, wie wir sind, in seine Gegenwart einführen kann, wenn wir nicht wüssten, dass Er dadurch den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade ans Licht stellen wollte. Ja, im Blick auf die Sünde, die Eitelkeit und Selbstsucht in uns sind wir angesichts der Herrlichkeit Gottes versucht, auszurufen: „Ich bin nichts als, Sünde!“ Dieses Bewusstsein führt uns zu Gott, wenn Er in seiner Liebe und Gnade handelt Würden wir kein anderes Bewusstsein haben, als das der Sünde, so würden wir den Gedanken an das Gericht Gottes nicht ertragen können. Allein der Gedanke an diese Liebe und Gnade Gottes, welche sich trotz unserer Sünde und der Verderblichkeit unseres Fleisches entfaltet, gibt uns Frieden und Freude.

Der Mensch hat ganz und gar jedes Anrecht an der Liebe Gottes verloren. Er kann sich nicht mit Gott in Verbindung setzen und darf nicht antasten, was Ihm angehört. Unsere Herzen sind nur glücklich in dem Bewusstsein, dass die Gnade wirksam ist, und dass – in einem gewissen Sinne – je größer unsere Schuld und je tiefer unser Elend ist, desto erhabener und herrlicher Gott in seinen Wegen dasteht; und dieses öffnet uns den Mund, um mit Sündern, wer sie auch sein mögen, darüber zu reden. Man sieht, wie sehr das Herz des Apostels Paulus von diesem Gedanken erfüllt war, und wie seine Sprache die gewöhnliche Ausdrucksweise überschreitet, wenn er sich den Vornehmsten der Sünder und den Geringsten der Heiligen nennt. Wenn er an sich und an die Größe all der Gnade dachte, womit ihm Gott, indem Er ihm nicht nur alle Sünden vergeben, sondern ihm auch die Botschaft dieser Gnade an andere anvertraut hatte, begegnet war, dann fühlte er sich beschämt vor Gott.

Petrus und Paulus sind in ihrem Werk zwei beachtenswerte Gefäße der Erwählung und Beispiele dieser Gnade. Wie wurde Petrus zubereitet, um seine Brüder stärken und die Lämmer weiden zu können? War nicht seine Verleugnung das Mittel seiner Zubereitung, seiner Erziehung, wodurch ihm begreiflich gemacht wurde, dass er mehr als böse sei? Und auf welchem Weg wurde Paulus zubereitet? War nicht sein fluchwürdiger Eifer gegen Christus, indem er die Versammlung verfolgte und verwüstete, das Mittel seiner Erziehung? – Als Petrus den Juden vorwarf: „Ihr habt den Heiligen und Gerechten verleugnet;“ hätte man ihm entgegnen können: „Das hast auch du getan.“ Und als Paulus sie beschuldigte, den Kelch des göttlichen Zornes durch ihre Sünden gefüllt zu haben, hätten sie ihm erwidern können: „Und was hast du getan, als du die Christen verfolgtest, sie zu lästern zwangst und in die Gefängnisse schlepptest? Hast du nicht dem Satan gedient?“ Ja, dieses waren die Wege, auf welchen die Erziehung dieser beiden Männer bewirkt wurde, und wo sie lernen mussten, was das Fleisch und was im Herzen ist. Als Paulus den Nationen den Glauben verkündigte, bedurfte er, der bis in den dritten Himmel entrückt worden, wegen der Wichtigkeit dieser Offenbarung eines Dorns im Fleisch. Ich bemerke dieses, um zu zeigen, dass die Bosheit des Fleisches immer dieselbe ist. – Es war in der Tat ein Blick auf das, was diese beiden Männer getan, sehr demütigend für das Fleisch, wenn Petrus sich sagen musste: „Ich habe den Herrn verleugnet – Ihn, der stets so gütig gegen mich war, der mich so sehr liebte und dessen Warnstimme mich vorher auf die Gefahr aufmerksam machte.“ Und es war für Paulus eine schmerzliche Erinnerung, die Christen verfolgt zu haben und bekennen zu müssen: „Ich habe es von ganzem Herzen getan; selbst meine Religion diente dazu, einen erbitterten Feind Gottes aus mir zu machen.“ – Nichtsdestoweniger mussten diese Erfahrungen das Herz mit Gefühlen der Gnade erfüllen; denn Gott war da. „Wo die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwänglicher geworden.“ Und nicht dieses allein, sondern die Gefäße dieser Gnade selbst waren auch zubereitet worden, nicht etwa durch schöne Eigenschaften, sondern durch traurige Erfahrungen. Paulus war als Mensch zubereitet worden und empfänglich gemacht für die Gnade, deren er bedurfte, um an sich selbst den Glaubenden den Reichtum der Gnade Gottes zeigen zu können. Er sollte der Zeuge der Güte und Gnade Christi sein; an ihm sollte man erfahren, was die Sünde gegenüber der Liebe und Gnade Gottes ist. Und nachdem in dieser Weise das Fleisch an seinen Platz gestellt worden war, konnte Paulus den unausforschlichen Reichtum des Christus unter den Nationen verkündigen; denn in ihm selbst hatte sich die Gnade in einer überströmenden Flut gezeigt.

In Betreff der Juden bestand dieselbe Tatsache; allein sie erwarteten etwas, weil sie Verheißungen hatten. Petrus, der Apostel der Beschneidung, richtet sich an sie als solche, die ihrer äußeren Stellung nach das Volk Gottes waren, indem er sie als die Kinder der Verheißung, als die Kinder Abrahams, als die Erstlinge anredet, während die Nationen nach den an das kanaanitische Weib gerichteten Worten des Herrn: „Es geziemt sich nicht, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hündlein hinzuwerfen“ – als Fremdlinge und ohne Bürgerrecht betrachtet werden. Paulus schöpft daher das Recht, zu den Nationen von Christus zu reden, aus der Quelle jener Gnade, die nichts anders kennt, als dass Gott das Recht zusteht, Gnade üben zu können. Jene arme Syrophönizierin, welche einem verfluchten Geschlecht angehörte und mithin ohne jedes Anrecht war, genoss, sich als ein Hündlein anerkennend, die ganze Süßigkeit der Gnade Gottes, indem der Herr zu ihr sagte: „Dir geschehe, wie du willst!“ – Wenn es sich um das Recht handelte, dann musste Er ihr sagen: „du hast kein Recht; denn ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gekommen; und du bist keins von diesen Schafen.“ Aber das Weib nahm ihre Zuflucht zu der Gnade; und es war für sie Gnade genug in Gott, um sagen zu können: „Ich werde von allem essen!“ – und wie hätte der Herr sie nun abweisen können?

Die Botschaft des Heils an die Nationen stellt den ganzen Reichtum der Gnade, welche in Gott für uns ist, in das hellste Licht. Dieselben Umstände, die das Fleisch erkennen lassen, öffnen auch der in Rede stehenden Offenbarung des unausforschlichen Reichtums Christi den Weg – eines Reichtums, der unsere Begriffe übersteigt. Ein Jude war im Stande, seinen Reichtum erforschen zu können, obwohl die Gnade dieselbe war. Er konnte sagen: „Siehe, welche Gnade mir begegnet!“ So konnte z. B. Jesajas oder irgendein anderer Prophet das Gesetz erforschen und vieles darin entdecken, was ihm angehörte. Er konnte darin den Messias und viele herrliche Verheißungen finden, die einmal für Israel in Erfüllung gehen sollten; er konnte darin vor allem die Gunst Gottes gegen sein Volk finden. Ein jeder, welcher Einsicht in das Wort Gottes hatte, vermochte dieses zu erfassen. Es waren Verheißungen für ein Geschlecht, welchem Gott herrliche Segnungen verkündigt hatte – Segnungen, die jedoch den Menschen mit Gott auf dem Grund anerkannter Segnungen in Verbindung brachten. Sobald es sich indes um einen Heiden handelte, gab es von all diesem nichts (Röm 9,3–5; Eph 2,12; Phil 3,4–7); und es bedurfte eines geistlichen Zustandes, um die Gnade Christi in den Propheten zu erforschen. Ein Jude konnte wissen, dass ein über alle Völker erhabener König regieren und jede Verheißung die Krone der Herrlichkeit schmücken werde. Aber für einen Heiden war es nötig, die Segnungen zu entdecken, welche für ihn aus den ewigen Ratschlüssen Gottes hervorgingen. Nicht nur handelt es sich um ein zum Genuss der Segnungen berufenes Volk, sondern darum, dass man Christus nach den Ratschlüssen Gottes empfängt. Die Gnade beschäftigt sich mit einem armen Sünder und sucht solche, die ohne jedes Anrecht und unfähig sind, die Verheißungen erfassen und genießen zu können. Sie nimmt solche verlorene Sünder, welche weder eine Vorstellung noch ein Gefühl in Bezug auf Gott haben, und versetzt sie in den Genuss des ganzen Reichtums der Gedanken Gottes – und zwar in Christus selbst. Deshalb nennt der Apostel dieses den „unausforschlichen Reichtum des Christus.“ – dieses war nicht allein dem Menschen, sondern auch Gott angemessen; es war – d. h. nicht in den Gedanken Gottes, sondern in Betreff der Offenbarung – etwas ganz Neues, welches den Gewalten und Fürstentümern im Himmel offenbart werden sollte, damit die mannigfaltige Weisheit Gottes, sowohl durch die Versammlung selbst, als auch durch diese Offenbarung in den himmlischen Örtern kundgemacht würde.

Prüfen wir indes ein wenig sorgfältiger, was diese Gnade ist, und richten wir zum besseren Verständnis derselben unsere Blicke auf Kapitel 1,26–27, wo wir lesen: „das Geheimnis, das verborgen war von den Zeitaltern und von den Geschlechtern her, jetzt aber offenbart worden ist seinen Heiligen, denen Gott kundtun wollte, welches der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses ist unter den Nationen, welches ist Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit.“ Aus dieser Stelle ersehen wir, worin dieser unausforschliche Reichtum besteht. Christus ist für die Juden nicht die Hoffnung der Herrlichkeit, sondern der Erfüller der Verheißung. Hier ist Er nicht die Herrlichkeit, sondern die Hoffnung der Herrlichkeit, weil Er, obwohl im Himmel wohnend, nichtsdestoweniger durch seinen Geist in uns und in unserer Mitte wohnt. Dieses ist eine ganz neue Sache, jedoch nach der Darstellung des Apostels nur eine Hoffnung. Wir werden sehen, wie er diesen Gedanken einleitet und uns in die herrliche Stellung der Kinder Gottes – ausgedrückt in den Worten: „Christus in euch“ – einführt. Christus in uns, die Quelle der Kraft und der inneren Beziehungen, ist die Hoffnung der Herrlichkeit. Dieses ist unsere Stellung und unsere Freude. In Epheser 2,12 sagt der Apostel bezüglich der Gläubigen aus den Nationen: „Ihr wärt zu jener Zeit ohne Christus, entfremdet dem Bürgerrecht Israels, und Fremdlinge in Betreff der Bündnisse der Verheißungen, keine Hoffnung habend, und ohne Gott in der Welt.“ Auf welches Fundament hat nun Gott ihre glorreiche Hoffnung gegründet? Das Wort, welches Gott gleich im Anfang zu Adam sagte: „Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen“, war ebenso wenig ein Verheißungswort, wie die angekündigten Dornen und Disteln; – es gab für Adam kein Verheißungswort. Aber was sagte Gott zur Schlange? indem Er sie verurteilte? „Der Same des Weibes wird dir den Kopf zermalmen.“ War etwa Adam der Same des Weibes? Nein; er war als das Haupt seines Geschlechts von dieser Verheißung ausgeschlossen, während in dem zweiten Adam alle Verheißungen Ja und Amen sind. Diese Verheißung ist nicht dem Menschen, sondern Christus, dem zweiten Adam gemacht worden, weil Gott den ersten Adam, seiner äußeren Stellung nach, bezüglich der Verheißungen bei Seite gestellt hat. Ein anderer, der zweite Adam, der Same des Weibes, ist als der Gegenstand aller Verheißungen eingeführt. Es ist dem Menschen schwer, einen Standpunkt auf einer solch niedrigen Stufe einzunehmen und zu sagen: „Ich bin ein Sünder und nichts als ein Sünder, ich habe jedes Anrecht verloren; ich habe gegen Gott, gegen das Licht meines Gewissens und gegen meine Erkenntnis gesündigt; ich besitze nichts und habe nichts zu beanspruchen, als die Verdammnis.“ – Dennoch aber ist dieses der wahre Sachverhalt; und das Gewissen bestätigt es, selbst wenn der Wille sich nicht darunter beugen will. Oder möchtest du es wagen, mein Freund, vor Gott zu treten? Sagt dein Gewissen dir nicht, dass du auf tausend nicht eins wirst antworten können? Ist nicht auch Adam durch sein Gewissen überführt worden? Er wartete die Gegenwart Gottes nicht ab, sondern verbarg sich unter die Bäume des Gartens, weil er es nicht wagte, vor Gott hin zu treten. Nun wohlan, bist du bereit, dich vor Gericht zu stellen? Würdest du wünschen, dass alles, was du getan, vor der Welt offenbar werde? O nein, ich bin gewiss, dass niemand von den Ungläubigen es wagen möchte, mit all seinen Handlungen vor Gott hinzutreten; denn das Gewissen überführt jeden von der Gerechtigkeit Gottes. Auch du weißt, dass du schuldig bist, selbst wenn du es nicht einräumen willst und dich lieber entschuldigen möchtest mit den Worten: „Das Weib, das du mir gegeben hast, betrog mich.“ – Dennoch hat Gott in seiner Güte, wiewohl dieses dem Gewissen nicht sagt, für alles Sorge getragen; dennoch will Er dich gewinnen durch die Gnade, die alles zu heilen vermag. Er stellt den Menschen, den Nachkommen Adams, als verurteilt bei Seite und führt den neuen Menschen in Christus, in seine Herrlichkeit ein. Das ewige Leben befindet sich in dem neuen Menschen, in dem Samen des Weibes, dem Sohn Gottes; und wir haben in Ihm das Leben. Von Anfang an sind alle Verheißungen Ja und Amen in Christus, dem zweiten Adam, zur Herrlichkeit Gottes. Dieser Christus ist der Gegenstand? aller Gedanken Gottes. Man begreift jetzt den Reichtum dieser Gnade, sobald man versteht, dass es sich um den Sohn Gottes, den zweiten Adam, handelt, um Ihn, der auch der Heilige und Gerechte ist. Er ist der Mittelpunkt aller Dinge; Ihm gebührt alle Herrlichkeit; denn die ganze Offenbarung kann nur in Ihm enthalten sein, welcher der alleinige Gegenstand derselben ist. Wahrlich, die Liebe des Christus übersteigt alle Erkenntnis Für uns, die wir glauben, hat sich dieses alles erfüllt und eine solche unermessliche, bis ins Unendliche reichende Ausdehnung genommen, die ihren Ausdruck in Christus, dem Gegenstand der Offenbarung der Herrlichkeit Gottes, findet.

Bezüglich dieser armen Welt ist jeder Unterschied zwischen Juden und Nationen verschwunden und vernichtet. Gott hat sowohl den Nationen, als auch den Juden Gnade geschenkt; denn alle sind unglückliche Sünder. Und wenn die Juden sich anmaßten, den Genuss der Verheißungen durch ihre eigene Gerechtigkeit erlangen zu wollen, so stellten sie sich, weil sie das Licht des Gesetzes haften, unter eine umso größere Verantwortlichkeit. Alle sind nicht nur „gottlos“, sondern auch „kraftlos.“ Dieser Zustand trat völlig ins Licht, als der wahre Gott in ihrer Mitte gegenwärtig und durch Zeichen und Wunder wirksam war. Folglich war sowohl bezüglich des Menschen, der seine gänzliche Unfähigkeit offenbart hatte, als auch in Bezug auf Gott zur Erweisung seiner unendlichen Liebe die passende Zeit gekommen, um ins Licht zu stellen, dass alles unerlässlich abhängig von dieser Liebe war. Auf diesem Punkt angekommen, findet man die ganze Fülle der Segnungen der Liebe Gottes. Jeder Unterschied zwischen Juden und Heiden ist beseitigt, indem die Juden – die Erben der Verheißung – eben sowohl Kinder des Zornes sind, wie auch die Übrigen. Der Mensch hat gezeigt, was er ist; und Gott hat kundgemacht, was Er ist. Wir haben uns erwiesen als Kinder des Zornes, die nichts als das Gericht verdient hatten; aber Gott hat gezeigt, dass Er reich an Barmherzigkeit ist. Zu dieser Erkenntnis muss man gelangt sein, um in Gott alle die Hilfsquellen der Gnade und Güte zu entdecken, welche sich zu Gunsten eines von Ihm entfernten Wesens, zu Gunsten seines Feindes verwenden. Man muss die Gnade dessen verstehen, der alle Forderungen der Herrlichkeit Gottes befriedigt hat, und der den Sünder, ungeachtet seiner Bosheit und alles dessen, was er ist, zu retten die Absicht hat. Gott ist ein Gott, der in Gnade handelt gegen die, welche böse sind – gegen arme Sünder, welche jedes Anrecht verloren haben. Wer vermag es zu fassen? Das ist der unausforschliche Reichtum des Christus – der Reichtum, welcher den Fürstentümern und Gewalten offenbart werden musste. Christus wurde das Gefäß dieser Gnade; seine Liebe hat sich gegenüber den elendesten Sündern, gegenüber solchen entfaltet, die, jedes Anrechtes bar, es nicht wagen durften, vor Gott zu erscheinen. „Gott, der da reich ist an Barmherzigkeit“, ist gekommen, um den zu retten, der sich in Sünde und Elend befindet. Anstatt – wie dieses hätte geschehen müssen – den Menschen zu sich kommen zu lassen, geht Gott dem Menschen entgegen und gibt sich ihm zu erkennen. Er kam in die Mitte des Bösen, weil der Mensch seinen Platz inmitten des Guten nicht nehmen konnte und nicht nehmen wollte. Gott erschien „im Fleisch“, jedoch in Heiligkeit in der Mitte all dieser Ungerechtigkeit und stellte sowohl diese Ungerechtigkeit, als auch die Heiligkeit ins Licht. Er kam, nicht um den Sünder auszustoßen, sondern um ihn zu suchen. Man ist glücklich in dem Bewusstsein, dass man es mit Gott, und zwar mit einem unendlich und überaus heiligen Gott zu tun hat. Wenn er nicht vollkommen heilig wäre, so müsste man noch immer wegen der Sicherheit der Errettung in Furcht sein; aber es ist ein unendlich heiliger Gott, welcher uns liebt, und welcher, wiewohl Er heilig ist, Sünder, versunkene Kreaturen, sucht, um ihnen seine Gnade zu schenken und mit sich zu versöhnen. Gott war es in Christus, der mit Zöllnern und Sündern verkehrte und sich zum Gesellschafter verrufener Menschen machte. Würden wir Ihn unter solchen gesucht haben? Nein, man würde dort die Ungerechtigkeit gesucht haben. Dennoch aber steht Gott, indem Er solche nichtswürdigen Geschöpfe rettet, umso mehr verherrlicht da.

Er vernichtet den menschlichen Hochmut, indem Er zeigt, dass der Mensch nicht Ihn, sondern dass Er den Menschen gesucht hat. Deshalb, geliebte Brüder, haben wir alles, den ganzen Reichtum des Christus, in Ihm selbst, in seiner Person. Christus hat als Schöpfer, als Sohn Gottes, als Erbe der Verheißungen und als Mensch ein Anrecht auf alles. Sein Leben war ein Zeugnis sowohl von der Liebe, als auch von der Heiligkeit; und Gott ist vollkommen in Ihm verherrlicht worden. Er konnte sagen: „Das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte.“ Aber ebenso völlig hat auch Er von der Heiligkeit Gottes Zeugnis abgelegt; denn Er sagt: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde; und nun verherrliche du mich, Vater, bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.“ Er hatte daher zufolge dieses Werkes gerechte Ansprüche auf diese Herrlichkeit, wiewohl Ihm dieses Recht auch ohne dasselbe gehörte.

Welch ein Werk hat Jesus vollbracht! Wieder erblicken wir den unausforschlichen Reichtum dieser Gnade, wenn wir Ihn für uns zur Sünde gemacht sehen. Der Heilige und Gerechte ward zur Sünde gemacht; der Sohn Gottes, der Fürst des Lebens, unterwarf sich dem Tod; her Zorn Gottes traf den Sohn, den Vielgeliebten, für uns, die elenden Sünder, welche fern von Gott, kein Verlangen nach Ihm hatten. Denn Er, der unsere Sünden trug, war in demselben Augenblick, wo sein Schweiß wie Blutstropfen zur Erde fiel, und wo Er den schrecklichen Kelch des Zornes Gottes leerte, der teuerste Gegenstand der unendlichen Liebe des Vaters, weil Er Ihn vollkommen Verherrlichte. Die Engel begehrten in die Tiefen dieses Geheimnisses hinein zu schauen, während sich der Mensch dieser Szene durch die Flucht entzog. Ja, unsere Vergebung ist ganz und gar eine göttliche Sache.

In dem ersten Kapitel des Hebräerbriefes zeigt uns der Apostel die göttliche Herrlichkeit Christi. „Gott hat zu uns geredet im Sohn, den Er gesetzt hat zum Erben aller Dinge, durch den Er auch die Welten gemacht hat; welcher, der Abglanz seiner Herrlichkeit und der Abdruck seines Wesens seiend und alle Dinge durch das Wort seiner Macht tragend, nachdem Er durch sich selbst die Reinigung der Sünden gemacht, sich gesetzt hat zur Rechten der Majestät in der Höhe.“ Welch ein Zeugnis liefert uns hier der Apostel von der Herrlichkeit Jesu und seines göttlichen Werkes! In der glorreichsten Weise aber strahlt uns seine Gnade darin entgegen, dass Er „uns gereinigt hat von unseren Sünden.“ In einem noch höheren Glänze, als in der Schöpfung, hat Er sich in der Liebe der Erlösung gezeigt. Er offenbarte sich nicht nur als ein Messias, welcher nur die einem Volk gegebenen Verheißungen zu erfüllen hatte, sondern es bedurfte der Erledigung alles dessen, was sich in Betreff Satans und der Sünde zwischen Gott und den Menschen gedrängt hatte, wenn nicht jede Segnung in Frage gestellt sein sollte. Was könnte uns jetzt noch von Gott trennen? Etwa die Sünde oder die Macht Satans? Oder könnte – überhaupt in moralischer Beziehung noch irgendeine Schranke zwischen Gott und dem Menschen bestehen? Unmöglich. Vielmehr ist alles, was als eine Schranke zwischen Gott und dem Menschen betrachtet werden konnte, im Tod Christi beseitigt worden. Überall, wo sich die Schwierigkeiten als unübersteiglich erwiesen, und wo das Herz des Menschen, welches sich nicht bis zur Höhe der Gedanken Gottes zu erheben vermochte, keinen Ausweg sah, da zeigt sich Christus unseren Blicken, und zwar in der vollkommensten Schwachheit. „Er ist hinabgestiegen in die untersten Teile der Erde“ und hat dort den unerschütterlichen Grundstein, den Felsen der Zeitalter, gelegt, worauf die Gewissheit unseres Heils gegründet ist. Das ist der unausforschliche Reichtum des Christus. Was könnte uns jetzt noch verweigert werden, nachdem Gott selbst durch alles hindurchgegangen ist? Kann es für uns noch irgendwelchen Zweifel, oder irgendeine Schwierigkeit geben, nachdem Gott allem zuvorgekommen ist? Wenn es noch irgendeinen Mangel gäbe, so würde Er nicht alles besitzen, was Er verdient hat. Wir gehören Christus an, wie gesagt ist: „Von der Mühsal seiner Seele wird Er die Frucht sehen und gesättigt werden“ (Jes 53,11). Wie aber könnte er die Mühsal seiner Seele genießen, wenn wir nicht in seinem Besitz wären? Man sieht, wie angesichts der Liebe Gottes alles offenbart worden und alles in Tätigkeit gewesen ist; und dennoch hat dieses alles nur zur Offenbarung der Macht dieser Liebe gedient. Jede Schranke, die sich dem Heil des Menschen entgegenstellte, ist nicht allein hinweggenommen, sondern hat vielmehr zur Erfüllung desselben beitragen müssen. Alle meine Sünden, alle Bosheit meines Herzens, kurz, alles, was ich als ein Werkzeug Satans war, ist durch das Gericht beseitigt worden. Die Liebe Gottes überstieg all meinen Hass und beseitigte jedes Böse; es gibt keine Scheidewand mehr zwischen mir und Gott; denn Christus hat diesem allem ein Ende gemacht. Gott hat bewiesen, dass seine Liebe jede Art des Bösen überragte. Und wo entdecken wir dieses? Am Kreuz. Ja, am Kreuz haben wir die Gnade und den gefunden, dessen unsere Herzen bedurften; mir fanden dort Gott selbst, der alle unsere Sünden getilgt, alles was zu unserer Errettung nötig war, vollbracht und uns in den Besitz alles dessen gesetzt hat, was Ihm gehört. Christus ist in das Licht der Gegenwart Gottes eingetreten; denn Er hat das erfüllt, wodurch der Vater vollkommen verherrlicht worden ist. Wir sind die Gerechtigkeit Gottes in Ihm, der für uns zur Sünde gemacht wurde; wir haben das Leben im Sohn, dem zweiten Adam, und haben daher auch Teil mit Ihm; denn Christus hat uns nicht allein die Gerechtigkeit, sondern auch den Preis derselben gebracht. Gott hat uns in Jesu geliebt und das Kostbarste was Er im Himmel besaß, seinen Sohn, für uns gegeben. Wir sind die Gegenstände seiner Liebe und befinden uns jetzt über den finsteren Wolken, die sich zwischen uns und Gott aufgetürmt hatten, in der Gegenwart dessen, der uns zu der Wohnung seiner Heiligkeit geleitet hat. Wir sind in dem Vater, weil Christus durch das Blut seines Kreuzes Frieden gemacht hat. Dieser vollkommene Frieden ist in Ihm, und wir alle, die wir glauben, besitzen denselben. Wir sind unaussprechlich gesegnet und können, indem wir Jesus betrachten, ausrufen: „Alles ist zu seinem Ruhm, dessen Er allein würdig ist.“ Denn man fühlt das eigene Nichts, sobald man in die Gegenwart Gottes gestellt ist. Wir wissen, dass wir die Hölle verdient hatten; aber wissen jetzt auch, was uns Gott in Christus gegeben hat. Und gibt es wohl etwas, das Ihm nicht gehörte – Ihm, welcher der Gegenstand der ganzen Liebe Gottes ist? So viel ich in Gott zu entdecken und aufzuzählen vermag, so viel kann ich mir zueignen; denn Christus, „der hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde, ist auch hinaufgestiegen über alle Himmel, auf dass Er alles erfüllte;“ und ich bin in Ihm und Er ist in mir. Ich habe die Erlösung gefunden und bin in den Besitz aller Dinge eingetreten; denn überall, wohin ich dringe, genieße ich Christus. Ja, der unglückliche Heide, welcher kein Anrecht auf irgendeine Verheißung hatte, besitzt, gläubig geworden, Christus selbst, den Gegenstand der ganzen Liebe Gottes. Welch ein unausforschlicher Reichtum!

Geliebte Brüder! Prüft, was die Liebe Gottes getan, anstatt bei der Betrachtung dessen stehen zu bleiben, was der Mensch zu seinem eigenen Verderben getan hat; und die Folge davon wird sein, dass Christus der Gegenstand unseres Glaubens und unserer Freude wird. Er wohnt in uns, damit wir die Liebe Gottes genießen können, wie Er sagt: „Auf dass die Liebe, womit du mich geliebt hast, sei in ihnen und ich in ihnen.“ Christus hat durch seinen Geist Wohnung in uns gemacht; und wir sind in Ihm. Er sagt: „Ihr werdet erkennen, dass ich in euch bin, und ihr in mir seid.“ Christus in mir – ist die „Hoffnung der Herrlichkeit;“ – und ich genieße von allem, was Er ist. Die Hoffnung, welche ich besitze, beschämt nicht, weil die Liebe Gottes in mein Herz ausgegossen ist, damit ich in der Schwachheit meines armen Leibes, in den Schwierigkeiten und Versuchungen, sowie im Kampf wider Satan stets die Treue, die Zärtlichkeit und Güte Jesu, und zwar in den einzelnen Umständen meines täglichen Lebens, kennen lerne. Ja, ich mache in der vertrautesten Weise Bekanntschaft mit Ihm; denn ich kenne Ihn als die „Hoffnung der Herrlichkeit.“ Er ist für mich kein fremder, unbekannter Christus, sondern ein Christus, den ich kenne in allen Bedürfnissen meines Lebens, ein Christus, in welchem Gott mir in seiner ganzen Fülle entgegen strahlt, der mich wie ein Freund begleitet und den Bedürfnissen meines Lebens den ganzen Reichtum seiner Gnade anzupassen weiß. Ja, ich kenne Ihn und fürchte mich nicht, kraft des Glaubens zum Himmel zu gehen; denn dort ist Er, der mich liebt und versteht, obwohl ich noch hienieden bin, und der, wenn ich droben bei Ihm sein werde, die Mühsal seiner Seele genießen und völlig befriedigt sein wird. Er hat die Gnade für die Seinen vollendet; später wird Er ihnen die Herrlichkeit, die Er jetzt besitzt, mitteilen und sie zur Befriedigung des Vaterherzens Gottes darstellen.

Ich habe nur einige Punkte von dem unausforschlichen Reichtum des Christus berührt. Die Engel sind die Zuschauer alles dessen, wovon wir die Gegenstände sind. Gott wirkt zu unserem Heil; und es ist gut, dass wir Ihn in den Wegen seiner Gnade kennen, um diese Gnade und unendliche Liebe zu verstehen, deren Gegenstände wir sind, und ohne welche wir verloren sein würden. Gott wolle uns durch die Macht seines Geistes demütig machen und verstehen lassen, wie abscheulich die Sünde und wie unendlich die Gnade ist, die uns in den Reichtum der Herrlichkeit einführt. Es ist nötig, dass unser armes Herz die Güte des Herrn Jesus selbst in den einzelnen Umständen des täglichen Lebens kennen lernt, sonne in seiner Gunst und Gnade die Gunst und Gnade Gottes selbst erblickt. Wir bedürfen der Erkenntnis Gottes, um Ihn zu genießen.

Möge Gott diese Gnade, deren Fülle uns in Jesu entgegen strahlt, durch seinen Geist unseren Herzen tief einprägen und uns wachsen lassen in der Erkenntnis dessen, der der Friede unserer Herzen ist, damit wir den ganzen Reichtum seiner Liebe und Gnade verstehen!

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel