Botschafter des Heils in Christo 1871

Christus im Schiff

Die Not des Menschen bietet Gott Gelegenheit zur Hilfe. Das ist eine Wahrheit, an der wir gewiss alle nicht zweifeln. Und doch sind wir oft, wenn wir in Trübsal und Not kommen, so wenig vorbereitet auf die gelegene Hilfe Gottes zu rechnen. Eine Wahrheit auszusprechen oder zu hören, ist ein ganz anderes Ding, als die Macht dieser Wahrheit zu verwirklichen. Über die Macht Gottes, uns in einem Sturm zu bewahren, bei ruhiger See zu sprechen, ist ganz etwas anderes, als den Glauben an diese Macht zu bewahren, wenn ein entfesselter Sturm um uns wütet. Und doch ist Gott immer derselbe, derselbe im Sturm und in der Windstille, in Krankheit und Gesundheit, in den Beschwerden und in der Ruhe, in Armut und in Überfluss – „derselbe gestern, heute und in Ewigkeit“ – derselbe, woran sich unter allen Umständen und zu allen Zeiten der Glaube lehnen und anklammern und worauf er sich stützen kann.

Aber ach! wir, befinden uns oft im Unglauben. Darin liegt die Quelle unserer Schwachheit und Gebrechen. Wir sind bestürzt und erregt, wenn wir ruhig und vertrauend sein sollten; wir blicken auf die Umstände, wo wir auf Gott blickt: sollen; wir winken unseren Genossen, wo wir „auf Jesus blicken“ sollten. So verlieren wir unendlich viel und verunehren den Herrn in unseren Wegen. Ohne Zweifel gibt es wenige Dinge, über welche wir uns tiefer zu demütigen haben, als über unsere Neigung, dem Herrn zu misstrauen, wenn Schwierigkeiten und Versuchungen sich uns darstellen; und sicher betrüben wir das Herz Jesu durch dieses Misstrauen gegen Ihn; denn Misstrauen muss stets ein liebendes Herz verwunden. Blicken wir zum Beispiel auf die Szene zwischen Joseph und seinen Brüdern in 1. Mose 50,15–18: „Und als die Brüder Josephs sahen, dass ihr Vater gestorben war, da sprachen sie: Wenn nun Joseph uns anfeindete! so wird er uns gewiss vergelten all das Böse, das wir ihm angetan haben. Und sie entboten dem Joseph und sprachen: Dein Vater hat vor seinem Tod befohlen und gesagt: so sollt ihr sprechen zu Joseph: O, vergib doch die Übertretung deiner Brüder und ihre Sünde! denn sie haben dir Böses angetan. Und nun vergib doch die Übertretung der Knechte des Gottes deines Vaters! Und Joseph weinte, als sie zu ihm redeten.“ – Das war eine traurige Vergeltung für all die Liebe und Gnade und zärtliche Sorge, die der beleidigte Joseph gegen sie geübt hatte. Wie konnten sie voraussetzen, dass der, der ihnen so freiwillig und völlig vergeben, und ihre Leben geschont hatte, als sie ganz in seiner Macht waren, nach so manchen Jahren der Güte sich rachsüchtig nach ihnen wenden würde? Es war in der Tat ein schmerzliches Unrecht, und es war daher kein Wunder, dass „Joseph weinte, als sie zu ihm redeten“. Welch eine Antwort auf ihre Furcht und ihren unwürdigen Verdacht! Eine Flut Tränen. So ist die Liebe. „Und Joseph sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht; bin ich denn an Gottes statt? Ihr zwar, ihr gedachtet Böses wider mich, Gott aber gedachte es zum Guten, auf dass er täte, wie es an diesem Tag ist, um ein großes Volk am Leben zu erhalten. Und nun fürchtet euch nicht, ich will euch versorgen und eure Kindlein. Und er tröstete sie und redete zu ihren Herzen“ (1. Mo 50,19–21).

So war es mit den Jüngern, wie wir zu sehen Gelegenheit haben werden.

„Und an jenem Tag, als es Abend geworden, spricht Er zu ihnen: Lasst uns an das jenseitige Ufer fahren. Und die Volksmenge entlassend, nehmen sie Ihn, wie Er war, in dem Schiff mit. Aber auch andere kleine Schiffe waren mit Ihm. Und es erhebt sich ein heftiger Sturmwind, und die Wellen schlugen in das Schiff, so dass es schon voll war. Und Er war im Hinterteil des Schiffes auf einem Kopfkissen eingeschlafen“ (Mk 4,35–38).

Hier haben wir eine höchst interessante Szene. Die armen Jünger sind in die äußerste Not gebracht. Ihr Verstand weiß nicht mehr zu raten. Ein heftiger Sturm – das Schiff voll Wasser – der Herr eingeschlafen. Das war in der Tat ein versuchungsreicher Augenblick; und sicher brauchen wir uns, im Blick auf uns selbst, nicht zu wundern über die Furcht und Unruhe der Jünger. Es ist nicht zu vermuten, dass wir es an ihrer Stelle besser gemacht haben würden. Dennoch können mir sehen, wo es bei ihnen mangelte. Die Erzählung ist niedergeschrieben worden zu unserer Belehrung; und wir müssen sie studieren, um das zu finden, was für uns darin enthalten ist.

In Ruhe betrachtet, ist nichts ungereimter und unvernünftiger, als Unglauben. In der Szene, die wir hier betrachten, ist diese Ungereimtheit augenscheinlich; denn was war unvernünftiger, als zu glauben, das Schiff könne möglicherweise sinken mit dem Sohn Gottes an Bord? Und doch war es das, was sie fürchteten. Es mag sein, sie dachten in diesem Augenblick nicht an den Sohn Gottes. Sie dachten an den Sturm, an die Wogen, an das gefüllte Schiff, und nach menschlichem Ermessen schienen sie hoffnungslos verloren. So ist das ungläubige Herz, das immer nach Vernunftschlüssen sucht. Es blickt immer auf die Umstände und schließt Gott aus. Der Glaube dagegen sieht nur auf Gott und schließt die Umstände aus.

Welch ein Unterschied! Der Glaube ist glücklich in der größten Not, einfach daher, weil er weiß, dass Gott eine solche Gelegenheit benutzt, um zu trösten und zu helfen. Es ist seine Wonne, „stille zu sein“ in Gott, und er freut sich, dass Gott Gelegenheit findet. Seine Herrlichkeit entfalten zu können. So ist der Glaube. Er würde, wir können es dreist sagen, die Jünger fähig gemacht haben, inmitten des Sturmes sich neben den Herrn zu legen und zu schlafen. Der Unglaube machte sie dagegen unruhig; sie konnten nicht ruhen, und sie weckten sogar wegen ihrer ungläubigen Befürchtungen den gesegneten Herrn aus seinem Schlaf auf! Er, ermüdet von unaufhörlicher Arbeit, benutzte die wenigen Augenblicke, während das Schiff den See kreuzte, um auszuruhen. Er wusste, was Müdigkeit war; Er war herabgekommen in alle unsere Umstände. Er machte sich bekannt mit unseren Gefühlen und all unseren Schwachheiten. Er, der „in allem gleich wie wir versucht worden ist, ausgenommen die Sünde“, war in jeder Hinsicht als ein Mensch erfunden, und als solcher schlief er auf einem Kopfkissen und wurde geschüttelt von den Wogen des Sees. Der Sturm peitschte das Schiff und die Wogen rollten darüber hin, obgleich der Schöpfer an Bord war, in der Person jenes müden und schlafenden Menschen.

Tiefes Geheimnis! Der, welcher den See gemacht und die Winde in seiner allmächtigen Hand halten konnte, lag schlafend im Hinterteil des Schiffes und erlaubte dem See und dem Wind Ihn so unzart zu behandeln, als wenn Er nur ein gewöhnlicher Mensch gewesen wäre. Das war die Verwirklichung der menschlichen Natur unseres gesegneten Herrn. Er war müde – Er schlief – und Er wurde hin– und hergeworfen auf den Wellen des Sees, den seine Hände gemacht hatten. O teurer Leser, bleib stehen und denke über diese wunderbare Sache nach! Keine Sprache, keine Feder kann eine solche Szene richtig wiedergeben. Wir können sie nicht genügend erklären; wir können nur staunen und anbeten.

Aber, wie gesagt, der Unglaube weckte den gesegneten Herrn aus seinem Schlaf auf. „Und sie wecken ihn auf und sagen zu Ihm: Lehrer, liegt dir nichts daran, dass wir umkommen?“ Welch eine Frage! „Liegt dir nichts daran?“ Wie muss das das gefühlvolle Herz des Herrn Jesus verwundet haben! Wie konnten sie nur immer denken, dass Er gleichgültig bliebe bei ihrer Unruhe und Gefahr? Wie völlig hatten sie seine Liebe – nicht zu reden von seiner Macht – aus dem Auge verloren, wenn sie sagen konnten: „Liegt dir nichts daran?“

Und doch, teurer Leser, ist dies alles nicht ein Spiegel, aus welchem wir selbst zurückstrahlen? Gewiss. Wie oft seufzen unsere Herzen in Augenblicken der Bedrückung und der Trübsal, wenn es unsere Lippen auch nicht aussprechen: „Liegt dir nichts daran?“ Es mag sein, dass wir durch Krankheit und Schmerzen ans Bett gefesselt, und wir wissen, dass ein Wort von dem Gott der Macht uns vollständig gesundmachen kann; und doch wird dieses Wort nicht ausgesprochen. Oder, vielleicht sind wir in Not wegen der täglichen Nahrung, und wir wissen, dass Silber und Gold und alles Vieh aus der Erde Gott gehört – ja, dass die Schatz des Weltalls in seiner Hand sind, und doch ein Tag nach dem anderen geht dahin, und unsere Not wird nicht gehoben. Mit einem Wort, wir fahren hier über tiefe Wasser – der Sturm wütet, Woge auf Woge rollt über unser winziges Schiff, wir sind in die äußerste Not gebracht, unser Wissen reicht nicht aus zu helfen und unsere Herzen sind oft bereit, die schreckliche Frage auszuwerfen: „Liegt dir nichts daran?“ Dieser Gedanke ist sehr demütigend. Der Gedanke, dass wir so oft das liebende Herz Jesu durch unseren Unglauben und unseren Argwohn kränken, sollte uns mit der tiefsten Zerknirschung erfüllen.

Und dann das Unvernünftige des Unglaubens! Wie kann der, der sein Leben für uns gab, – der seine Herrlichkeit verließ und herabkam in diese Welt voll Mühsale und Elend, und der den schimpflichen Tod am Kreuz starb, um uns von dem ewigen Zorn zu befreien – wie kann ein solcher einmal unterlassen, für uns zu sorgen? Und doch sind wir so geneigt zu zweifeln, und wir werden so leicht ungeduldig bei einer kleinen Trübsal, vergessend dass die wahre Trübsal, vor welcher wir so sehr schaudern, und unter welcher wir so sehr seufzen, weit kostbarer ist, denn Gold. Je mehr der wahre Glaube versucht wird, je heller leuchtet er, und folglich ist die Versuchung, obgleich hart, ganz und gar geeignet, ihn in Lob und Preis hervorbrechen zu lassen gegen den, der nicht allein den Glauben einpflanzt, sondern ihn auch durchbringt durch den Schmelzofen der Trübsal, in welchem Er ihn unaufhörlich und unverdrossen bewachte.

Aber die armen Jünger fehlten in diesem Augenblick der Versuchung. Ihr Vertrauen war fort, und sie weckten ihren Herrn mit jener unwürdigen Frage: „Liegt dir nichts daran, dass wir umkommen?“ Ach, was für Geschöpfe sind wir Menschen! Wir sind geneigt, bei einer einzigen Schwierigkeit, die sich uns darbietet, zehntausend Liebesbezeugungen zu vergessen. David konnte sagen: „Ich werde eines Tages umkommen durch die Hand Sauls“, und doch wie ganz anders stellte es sich heraus! Saul fiel auf dem Berg Gilboa, und David wurde auf den Thron Israels erhoben. – Elia floh vor den Anschlägen Isebels; und was folgte? Isebel wurde auf dem Steinpflaster in Stücke zerschmettert, und Elia wurde in einem seinigen Wagen gen Himmel aufgenommen. So auch hier; die Jünger glaubten verloren zu sein, mit dem Sohn Gottes am Bord; und was war das Resultat? Der Sturm verstummte, und der See wurde ruhig durch die Stimme, die im Anfang Wellen hervorgerufen hatte. „Und Er stand auf, bedrohte den Wind und sprach zu dem See: Schweig! verstumme! Und der Wind legte sich und es entstand eine große Stille.“

Welch eine Fülle von Gnade und Majestät! Anstatt die zu bedrohen, welche ihn in seiner Ruhe gestört hatten, bedrohte Er den Wind und den See, welche sie erschreckt hatten. Auf eine solche Weise beantwortete Er ihre Frage: „Liegt dir nichts daran?“ Gesegneter Herr! Wer wollte dir nicht trauen? Wer wollte dich nicht anbeten für deine langmütige Gnade und deine nimmertadelnde Liebe?

Es ist etwas vollkommen Schönes auf dem Weg, auf dem unser Herr wandelt, wie Er ohne eine Anstrengung aus der Ruhe der vollkommenen Menschheit in die Tätigkeit der wesentlichen Gottheit eintritt. Als Mensch schlief Er, ermüdet von der Arbeit, auf einem Kopfkissen ein; und als Gott erhebt Er sich und stillt mit seiner allmächtigen Stimme den Sturm und beruhigt den See.

So war Jesus wahrhaftig Gott und wahrhaftig Mensch; und so ist Er noch jetzt, immer bereit die Not seines Volkes zu lindern, die Niedergeschlagenen aufzurichten und die Furchtsamen zu trösten. Möchten wir Ihm nur immer einfach und kindlich vertrauen. Wir haben kaum eine Idee davon, wie viel mir verlieren, wenn wir uns nicht tagtäglich auf den Arm Jesu stützen, und nicht bei Ihm Rat und Hilfe holen. – Wir sind so leicht erschreckt. Jeder Windstoß, jede Woge, jede Wolke beunruhigt und beängstigt uns. Anstatt uns ruhig niederzulegen und neben unserem Herrn zu ruhen, sind wir voll Schrecken und Bestürzung. Anstatt den Sturm als eine Gelegenheit zu benutzen, unser Vertrauen gegen Ihn zu zeigen, machen – wir ihn zur Gelegenheit, Ihn durch unsere Zweifel zu betrüben. Sobald irgendeine unbedeutende Schwierigkeit sich zeigt, fürchten wir umzukommen, obgleich Er uns versichert hat, dass ohne seinen Willen kein Haar auf unserem Haupt gekrümmt werden solle. Und auch zu uns kann Er sagen, wie Er zu den Jüngern gesagt hat: „Warum seid ihr so furchtsam? Wie, habt ihr keinen Glauben?“ In der Tat scheint es zu Zeiten, als ob wir keinen Glauben hätten. Aber trotzdem ist Er immer bereit uns zu bewahren und zu helfen, während wir so leicht zweifeln. Welch eine zärtliche Liebe? Er verfährt nicht mit uns nach unseren geringen Gedanken über Ihn, sondern gemäß seiner eigenen vollkommenen Liebe gegen uns. Das ist der Trost und die Stütze unserer Seele auf dem Weg durch den stürmischen Ozean zur ewigen Ruhe. Christus ist im Schiff. Lasst uns das genug sein! Lasst uns ruhig auf Ihn vertrauen. Möge in unseren Herzen immer jene tiefe Ruhe sein, welche entspringt aus dem wahren Glauben an Jesu; dann werden wir, wenn auch der Sturm wütet, und die Wasser des Sees sich Berge hoch auftürmen, nicht versucht sein, zu fragen: „Liegt dir nichts daran, dass wir umkommen?“ Wir können unmöglich umkommen mit Christus am Bord, noch können wir so denken mit Christus in unserem Herzen. Möge der Heilige Geist uns lehren, einen völligen und freien Gebrauch von Christus zu machen. Christus selbst muss durch den Glauben ergriffen und in dem Herzen genossen werden. Möchte es doch so sein zu seinem Preis und zum bleibenden Frieden und Genuss für uns!

Wir möchten noch zum Schluss hinzufügen, dass die Jünger, anstatt die Ruhe und Macht desjenigen zu verherrlichen, dessen Glaube den Sturm und den See beschwichtigt hatte, die größte Bestürzung und Furcht zeigten. „Und sie fürchteten sich mit großer Furcht und sprachen unter einander: Wer ist denn dieser, dass sowohl der Wind, als auch der See Ihm gehorchen?“ Gewiss, sie hätten Ihn besser kennen sollen. Und das, teurer Leser, sollten auch wir – Ihn, der uns, nachdem Er sein Leben für uns gelassen, als wir noch Feinde und Gottlose waren, tausendfache Beweise seiner Güte, Liebe und Macht gegeben hat – Ihn, der uns nie vergessen noch versäumen kann, indem wir seinem Herzen unendlich teuer und wert sind.

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