Botschafter des Heils in Christo 1871

Allein auf den unruhigen Gewässern

Wie reich ist die heilige Schrift an Bildern, die uns die Fürsorge und treue Wachsamkeit des von der Welt verworfenen Herrn über sein Volk vor Augen stellen! (Siehe Mt 14,22–36; Mk 6; Joh 6) „Und sogleich nötigte Er seine Jünger in das Schiff zu steigen und vor Ihm an das jenseitige Ufer zu fahren, bis Er die Volksmenge entlassen habe.“ – das Schiff segelte hinaus in die dunkle, stürmische Nacht; und nach menschlichem Ermessen waren die Jünger inmitten tobender Wellen allein gelassen. „Das Schiff aber war schon mitten im See und litt Not von den Wellen; denn der Wind war entgegen.“ Und Jesus war nicht im Schiff bei ihnen – kein tröstender Herr, um ihre ängstlichen Gemüter zu beruhigen, oder ihre ermatteten Herzen aufzurichten. „Und es war schon finster geworden; und Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen.“ – Wäre die Nacht klar und ruhig gewesen, so würden sie auf demselben Wege seine Abwesenheit nicht so sehr verspürt haben. Der unruhige See, der stürmische Wind, die Dunkelheit der Nacht, die Schwierigkeit des Ruderns, die Abwesenheit des Herrn – alles dieses machte sie bestürzt und ängstlich. Kein Wunder, allmählich in ihren Herzen den Gedanken aufkommen zu sehen, dass nicht nur ihr Herr und Meister sie verlassen, sondern auch, dass die Wut der Elemente sich gegen sie verschworen habe.

Aber wo ist der Herr während dieser ganzen Zeit, und wohin ist Er gegangen? Hat Er aufgehört, für seine Jünger zu sorgen? Oder weiß Er nichts von ihrer Gefahr, von ihrem Jammer? Im Gegenteil. Er ist zum Platz der Macht gegangen; und diese Macht verwendet Er zu ihren Gunsten. Von jenem Berg herab, den Er sich zu seiner Gebetsstätte auserkoren, folgt ihnen sein ansehendes Auge ohne Unterlass. Keine Welle berührt das Schiff, ohne von seiner Hand gemessen zu sein, kein einziger Windhauch, den Er nicht aus seinen Kammern gesandt hat. Er sitzt – wir dürfen es kühn sagen – am Steuerruder sowohl des Schiffes, als auch der Winde und der Wellen. Seine Hand erfasst jedes Ding – Er herrscht über alles. Nimmer ist Er seinem Volk näher, nimmer sind die Seinen Ihm teurer, als wenn sie, anscheinend allein, durch Sturm und Unwetter pilgern müssen.

Die ganze Szene ist ein lebendiges Gemälde der reichhaltigsten Belehrung und des süßesten Trostes, ein Gemälde dessen, was gegenwärtig stattfindet. Persönlich waren natürlich der Herr und die Seinen getrennt; aber im Geist und in Macht war Er bei ihnen, gegenwärtig. Er erlaubte zur Prüfung ihres Glaubens dem Sturm, sich während seiner Abwesenheit zu erheben. Und wer würde das Rudern gegen einen starken Wind nicht schwierig finden? Aber also ist es mit dem Volk Gottes in der gegenwärtigen Periode. Die Welt hat den Herrn gekreuzigt, und die Jünger durchschiffen allein den unruhig wogenden See. Die Kirche ist gleich einer Witwe und Verlassenen, um die Erinnerung an den Tod ihres Herrn und ihre Gleichheit mit Ihm in dieser Beziehung nach dem Willen des Herrn aufrecht zu erhalten, bis Er kommt. Sie wird stets, solange sie hier weilt, das Bild der Verwerfung ihres Herrn an ihrer Stirn tragen.

Aber lasst uns auf einen Augenblick zu der vor uns liegenden, vortrefflichen Szene zurückkehren. Am Ende jenes denkwürdigen Tages, den der Herr in der Wüste zugebracht, hatte die alte Prophezeiung: „Seine Speise will ich reichlich segnen, seine Arme sättigen mit Brot“, (Ps 132,15) ihre Erfüllung gefunden. Tausende vom Volk waren auf eine wunderbare Weise gespeist worden; und, wie wir in Johannes 6 lesen, man will Ihn mit Gewalt nehmen und zum König machen. Aber Jesus, dieses bemerkend, „entwich wiederum auf den Berg, Er selbst allein.“ Die Stunde war noch nicht gekommen, wo die Krone Davids das Haupt seines Sohnes und Herrn schmücken sollte. Das Volk befand sich im Unglauben; und Er wollte nicht zum König gemacht werden, um ihre weltlichen Wünsche zu befriedigen. Er entwich aus ihrer Mitte und ging auf einen Berg allein, um zu beten. Er verweigert es, die Krone aus der Hand des Menschen anzunehmen; aber Er nimmt den Platz als Priester vor Gott ein. Gesegnete Frucht seiner Verwerfung!

Aber hier, meine Seele, beachte und schaue die Hand des Herrn, die uns dieses kostbare Gemälde vor Augen stellt! Ehe er die Höhe besteigt, entlässt Er die Volksmenge oder die ungläubige Nation. Dann sammelt Er seine Jünger oder den gläubigen Überrest in einem Schiff und lässt dann dasselbe, während ein heftiger Orkan den See aufzuwühlen beginnt, vom Stapel laufen, ohne selbst persönlich mit einzusteigen. Er selbst aber klimmt die Höhe hinan, warum? – Um Fürbitte für sie einzulegen. Wir lesen: „Und als Er sie verabschiedet hatte, ging Er auf den Berg, um zu beten. Und als es Abend geworden, war das Schiff mitten im See, und Er allein auf dem Land.“ – Während der langen, dunklen Nacht seiner Abwesenheit folgt sein nimmer geschlossenes Auge voll Liebe und Güte den geliebten Jüngern durch alle Wege der Tiefe, wie sehr sie auch hin und her geschleudert werden und den äußersten Gefahren Preis gegeben sind. O teurer Herr! welch eine Nacht war diese für dich! Gewiss hat dein witschendes Auge den ganzen Raum der folgenden achtzehn Jahrhunderte durchschaut und all die Gefahren und Versuchungen gesehen, die das Teil der Deinen sein mussten. Wie viele Stürme haben deine Geliebten während der langen, finsteren Nacht deiner Abwesenheit zu bestehen gehabt; wie vielen Gegenströmungen mussten sie in diesem bösen Zeitalter begegnen, wie viele Kämpfe und Leiden durchmachen! Doch die angebrochene Morgendämmerung bringt Erleichterung. Diese traurige, finstere Nacht mit ihren Mühen und Plagen wird bald vorüber sein. „Siehe, ich komme bald!“ Das ist das Wort unseres geliebten Herrn; und der Geist spricht, als ob wir zwischen uns und dem Kommen des Herrn nur noch auf Augenblicke zu zählen hätten.

„Aber in der vierten Nachtwache kam Er zu ihnen, wandelnd auf dem See. Und als die Jünger Ihn auf dem See wandeln sahen, wurden sie bestürzt und sagten: Es ist ein Gespenst! Und sie schrien vor Furcht. Alsbald aber redete Jesus zu ihnen und sagte: Seid gutes Muts! Ich bin es; fürchtet euch nicht! – Petrus aber antwortete Ihm und sprach: Herr, wenn du es bist, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Gewässer. – Er aber sprach: Komm! – Und Petrus stieg aus dem Schiff und wandelte auf dem Gewässer, um zu Jesu zu kommen. Als er aber den starken Wind sah, fürchtete er sich; und als er anfing zu sinken, schrie er und sagte: Herr rette mich! Alsbald aber streckte Jesus die Hand aus, griff ihn und sprach zu ihm: Kleingläubiger! Warum zweifeltest du? – Und als sie in das Schiff gestiegen, legte sich der Wind. Die aber im Schiff waren, kamen und huldigten Ihm und sagten: Wahrlich, du bist Gottes Sohn!“ –

Petrus mag hier die Kirche vorstellen. Er verlässt den Platz des jüdischen Überrestes und geht im Glauben aus dem Herrn entgegen, und zwar ohne Hilfe der Natur. Aber er fällt, wie die Kirche gefallen ist; er fällt wie sie es getan, weil er nicht festhält an Christus und seinem Wort. Er blickt auf die Wogen, auf die Umstände, statt auf den Herrn zu blicken. Solange sein Auge auf Christus gerichtet blieb, ahmte er Ihm nach und wandelte gleich Ihm auf dem See. Aber sobald sich sein Auge von Christus ab und zu den Wogen hinwandte, begann er zu sinken. – Der Glaube kann ruhig und sicher über wildtosende Wasser gehen, wenn nur das Auge auf Jesus gerichtet bleibt. Der Herr hatte zu Petrus gesagt: Komm! – und das war genug. Er, der die Elemente geschaffen, konnte den See zum Weg für seine Diener machen. Wenn wir Christus und sein Wort vor unseren Seelen festhalten, so können wir auf dem stürmischen, wildbrausenden See des Lebens so sicher wandeln, wie auf stillen Wassern, ja sogar wie auf ebenen Pfaden.

Es ist wahr, der gnadenreiche Herr ist ebenso bereit, auf den Schrei des Kleinglaubens, als auf die Stimme des Glaubens zu antworten. Aber im erstem Fall ist die ehrenvolle Anerkennung, die den Pfad des Glaubens krönt, verloren. „Alsbald aber streckte Jesus die Hand aus, griff ihn und sprach zu ihm: Kleingläubiger! warum zweifeltest du? Und als sie in das Schiff stiegen, legte sich der Wind.“ Der Herr, in der Gesellschaft mit Petrus, vereinigte sich mit den Jüngern im Schiff; und augenblicklich legten sich die brausenden Wogen des Wassers. Wenn der Herr und seine himmlische Braut – die Kirche – zu Israel zurückkehren wird, dann werden alle Widerwärtigkeiten und alle Versuchungen dieses Volkes ein Ende nehmen. Er wird dann anerkannt und angebetet werden als der wahre Messias, der König Israels, der Sohn Gottes. „Die aber im Schiff waren, kamen und huldigten Ihm und sagten: Wahrlich, du bist Gottes Sohn!“

Doch der Segen ergießt sich dann über die ganze Erde. „Und als sie hinübergefahren waren, kamen sie in das Land Genezareth. Und als Ihn die Männer jenes Ortes erkannten, schickten sie in jene ganze Umgegend und brachten zu Ihm alle Siechen und baten Ihn, dass sie nur den Zipfel seines Kleides anrühren dürften; und so viele Ihn anrührten, wurden geheilt.“ – Hier haben wir eine glänzende Szene des tausendjährigen Reiches. Der Herr wird freudig empfangen. Die Stätte seiner früheren Erniedrigung und Verwerfung ist jetzt der Schauplatz seiner Macht und seines Ruhmes. Er ist dann herabgestiegen von dem Platz, seiner Fürbitte. Sein altes Volk, welches in tiefen Wassern war, bringt Er an die friedliche Küste. In der Welt, welche mit den Werken Satans erfüllt ist, übt Er seine Macht in Heilung und Segnung. Er kommt einer elenden, seufzenden Schöpfung zu Hilfe. Die Verführung der Schlange schwindet, und Freude und Glückseligkeit, Gesundheit und Schönheit füllt alle Lande. – Beschleunige, o Herr, beschleunige in deiner Zeit diesen verheißenen, kommenden, glückseligen Tag! –

Mittlerweile aber mögen alle, welche jetzt noch durch tiefe Wasser und wogende, sturmgepeitschte Wellen ihr Schifflein lenken, ihre Seelen in Geduld und Ausharren bewahren. Sicher, wir kennen den Herrn besser, als seine alten Jünger Ihn kannten. Seine Liebe ist völlig offenbart worden. Wir kennen seine unaufhörliche Fürbitte, die Er für uns zur Rechten Gottes im Himmel erhebt. Mag die Nacht auch finster und stürmisch sein, mögen die Winde wehen und die Wogen hochgehen, mögen die Wolken der Umstände auch einen düsteren Schatten auf die Gegenwart werfen, so ruft uns die heilige Schrift doch stets das Trostwort zu: „Die Nacht ist weit vorgerückt; der Tag aber ist nahe;“ – und wiederum: „Die Ankunft des Herrn ist nahegekommen“, – und wiederum: „Denn noch über ein kleines, und der Kommende wird kommen und nicht verziehen.“ – Das sturmumtobte Schiff wird bald den Hafen ewiger Ruhe erreichen und mit Jubel empfangen werden von allen, welche früher dort sicher gelandet sind. –

Bis dahin, o gnadenreicher Herr, mögen unsere Hände kräftig die Ruder umklammern und unsere Herzen auf dich vertrauen, während wir mit Wachsamkeit harren auf den ersten Strahl des Morgensternes.

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