Botschafter des Heils in Christo 1871

Das Lager in der Wüste

Welch ein bewundernswürdiges Schauspiel war das Lager Israels in jener öden, schrecklichen Wildnis! Welch, ein Schauspiel vor den Blicken der Engel, der Menschen und der Teufel! Stets ruhte das Auge Gottes darauf; dort war seine Gegenwart. Gott wohnte in der Mitte seines kämpfenden Volkes. Dort war seine Behausung zu finden. Nicht inmitten der Pracht Ägyptens, Babylons oder Assyriens schlug Er seine Wohnstätte auf. Das war unmöglich. Ohne Zweifel boten diese Nationen gar manches dar, was das natürliche Auge anzog. Unter ihnen wurden die Künste und Wissenschaften mit großem Eifer gepflegt; und die Zivilisation hatte unter ihnen einen Höhepunkt erreicht, dem selbst die jetzige Generation ihre Bewunderung nicht versagen kann.

Aber unter diesen Völkern des Altertums wurde Jehova nicht erkannt. Sein Name war ihnen nimmer offenbart worden. Er wohnte nicht in ihrer Mitte. Freilich befanden sich dort die taufende der Zeugnisse seiner Schöpfermacht; und die allwaltende Vorsehung leitete ihre Geschicke. Er gab ihnen Regen und fruchtbare Zeiten und erfüllte ihre Herzen mit Speise und Freude. Die Segnungen und Wohltaten seiner freigebigen Hand wurden Tag für Tag und Jahr für Jahr über sie ausgeschüttet. Seine Regengüsse befruchteten ihre Felder; seine Sonnenstrahlen erfreuten ihre Herzen. Aber sie kannten Ihn nicht und kümmerten sich nicht um Ihn. Seine Wohnstätte war nicht dort. Nicht eine dieser Nationen konnte sagen: „Jehova ist meine Stärke und Lobgesang, und ward mein Heil. Das ist mein Gott, ich will Ihn preisen; meines Vaters Gott, ich will Ihn erheben“ (2. Mo 15,2).

Jehova fand seine Wohnstätte in der Mitte seines erlösten Volkes und sonst nirgendwo. Die Erlösung war die notwendige Grundlage der unter den Israeliten errichteten Wohnung Gottes. Außerhalb der Erlösung konnte die Gegenwart Gottes nur den Verfall des Menschen bestätigen; aber auf dem Grund der Erlösung stellt diese Gegenwart das höchste Vorrecht und die glänzendste Herrlichkeit des Menschen fest.

Gott wohnte in der Mitte seines Volkes Israel. Er kam vom Himmel hernieder, nicht nur, um sie aus dem Land Ägypten zu erlösen, sondern auch, um ihr Reisegefährte in der Wildnis zu sein. Welch ein Gedanke! Der höchste Gott richtet, um in der Mitte seiner erlösten Versammlung zu sein. Seine Wohnung im Sand der Wüste auf. In der ganzen weiten Welt war nichts Ähnliches zu finden. Dort in einer öden Wüste, wo kein Grashalm, kein Wassertropfen, wo sich nirgends ein sichtbares Mittel zum Unterhalt vorfand, sah man ein Heer von sechshundert tausend Mann, ohne Weiber und Kinder. In welcher Weise wurden sie ernährt? Gott war da. In welcher Weise wurde Ordnung unter ihnen gehandhabt? Gott war da. Wie konnten sie durch eine unfruchtbare Wüste pilgern, in der kein Pfad sich zeigte? Gott war da.

Mit einem Wort, die Gegenwart Gottes brachte alles in Ordnung. Die Natur mochte die Achseln zucken und zweifelnd und argwöhnisch das Haupt schütteln. Der Unglaube mochte sagen: „Wie, leben drei Millionen Menschen von der Luft? Wer hat das Amt der Verwaltung? Wo sind die Kriegsvorräte? Wo ist das Reisegepäck? Wer hat über die Bekleidung zu wachen?“ – Nur der Glaube vermochte zu antworten; und seine Antwort ist einfach, kurz und bestimmt: Gott war da. Und das war völlig genügend. Was waren sechshundert taufend Pilger für den allmächtigen Gott? Vermochte Er etwa die Bedürfnisse ihrer Weiber und Kinder nicht zu stillen? Nach menschlicher Berechnung mochten diese Vorgänge überwältigend sein. Man denke sich die Kosten und die Arbeit, die für den Unterhalt der kürzlich nach Frankreich gesandten Krieger zu ihrem Unterhalt erforderlich waren. Wie viele Eisenbahnzüge waren nötig, um die Truppen mit allem zu versehen, was sie tagtäglich bedurften! Und hier sehen wir sechshundert tausend Pilger mit Weibern und Kindern auf einem vierzigjährigen Marsch durch „eine schreckliche und große Wüste“, in welcher weder Korn, noch Gras, noch eine Wasserquelle war. Wie konnten sie versorgt werden? Da gab es keine Lieferungen; keine Anordnungen waren in Betreff der Verproviantierung mit befreundeten Völkern getroffen worden; keine Transporte wurden befördert, um den Pilgern auf verschiedenen Punkten ihres Marsches entgegen zu kommen, – kurz, nicht eine einzige sichtbare Spur von Unterstützung, nichts von allem, was die Natur als nützlich betrachten würde, war zu entdecken.

Alles dieses ist der Betrachtung wert. Aber wir müssen es in der Gegenwart Gottes betrachten. Es ist für die menschliche Vernunft nutzlos, sich niederzusetzen, um diese gewaltige Aufgabe durch allerlei Schlüsse lösen zu wollen. Nein, mein Leser, es ist nur der Glaube, der sie zu lösen vermag, und zwar im Hinschauen auf den lebendigen Gott. Hier liegt die kostbare Auflösung. Gott allein gibt die Antwort. Gott war in der Mitte seines Volkes. Er war dort in der ganzen Fülle seiner Gnade und Barmherzigkeit, in der vollkommensten Erkenntnis der Bedürfnisse seines Volkes und der Schwierigkeiten des Pfades; Er war dort in seiner allvermögenden Macht und mit seinen unversiegbaren Hilfsquellen, um diese Bedürfnisse zu stillen und diesen Schwierigkeiten zu begegnen. Und Er trat so völlig in diese Umstände ein, dass Er am Schluss der vierzigjährigen Wanderung sich an ihre Herzen mit den rührenden Worten wenden konnte: „Denn, der Herr, dein Gott, hat dich gesegnet in allen Werken deiner Hände; Er hat dein Wandern durch diese große Wüste zu Herzen genommen; diese vierzig Jahrs ist der Herr, dein Gott, bei dir gewesen, dass dir nichts gemangelt hat.“ Und wiederum: „Deine Kleider sind nicht veraltet, und deine Füße sind nicht geschwollen diese vierzig Jahre“ (5. Mo 2,7; 8,4).

In all diesen Dingen aber war das Lager Israels ein treffendes Vorbild der durch diese Welt wandernden Kirche Gottes. Das Zeugnis der Schrift ist in diesem Punkt so bestimmt, dass für die Tätigkeit der Einbildungskraft kein Raum und keine Frage mehr übrigbleibt. „Alle diese Dinge aber widerfuhren jenen als Vorbilder; aber sie sind geschrieben zu unserer Ermahnung, auf welche die Vollendung der Zeitalter gekommen ist“ (1. Kor 10,11). Wir dürfen, dass er nähertreten und mit dem vollsten Interesse auf dieses bewundernswerte Schauspiel blicken und die kostbaren Lehren sammeln, die zu unserer Unterweisung so augenscheinlich berechnet sind. Und wer vermag die Lehren gebührend zu schätzen? Schauen wir hin auf dieses geheimnisvolle Lager, zusammengesetzt aus Kriegsleuten, Arbeitern und Anbetern! Welch eine völlige Trennung von allen anderen Völkern der Welt. Welch äußerste Hilflosigkeit! Welch eine gefahrvolle Lage! Welch gänzliche Abhängigkeit von Gott! Sie besaßen nichts, sie konnten nichts tun, sie konnten nichts wissen. Sie hatten weder ein Stück Brot, noch einen Trunk Wasser; aber Tag für Tag empfingen sie beides gleichsam aus der Hand Gottes. Wenn sie des Abends ihr Lager suchten, dann war nicht ein Atom von Vorrat für den morgigen Tag vorhanden. Da war weder ein Magazin noch eine Speisekammer, noch irgendeine andere sichtbare Hilfsquelle; nichts war da, worauf die Natur hätte rechnen können.

Aber Gott war da; und das war nach dem Urteil des Glaubens genug. Die Kinder Israel waren auf Gott geworfen. Welch eine große Wahrheit! Außer dem wahrhaftigen, lebendigen und ewigen Gott gibt es für den Glauben nichts Wesentliches, nichts Wahres, nichts Bleibendes. Die Natur mochte verlangende Blicke nach den Speichern Ägyptens werfen und nach Dingen schauen, die mit den äußeren Sinnen wahrzunehmen sind; der Glaube aber schaut empor zum Himmel und findet dort alle seine Quellen.

Also verhielt es sich mit dem Lager in der Wüste; und also verhält es sich mit der Kirche in der Welt. Dort gab es kein einziges Vorkommnis, kein einziges Ereignis, kurz, durchaus gar nichts, wofür die göttliche Gegenwart nicht stets die allgenügende Antwort gewesen wäre. Die unbeschnittenen Völkerschaften ringsum mochten staunend ihre Blicke erheben; sie mochten in der Blindheit ihres Unglaubens die Frage erheben, wie es möglich sei, ein solches Heer zu nähren, zu kleiden und im Zaum zu halten. Sicher, sie hatten keine Augen zu sehen, wie dieses möglich war. Sie kannten Jehova nicht, den Herrn, den Gott der Hebräer; und darum musste ihnen alles, was Er für jene große Versammlung zu tun verheißen hatte, wie ein Märchen erscheinen.

Und in demselben Fall befindet sich jetzt das geistliche Lager – die Versammlung Gottes in dieser moralischen Wüste. Von dem Gesichtspunkt Gottes aus beschaut ist diese Versammlung nicht von dieser Welt, sondern vollständig von derselben abgesondert. Sie ist ebenso vollständig von der Welt getrennt, wie Israel von Ägypten getrennt war. Die Wasser des roten Meeres rollten zwischen dem Lager und Ägypten; und die tieferen und finsteren Wasser des Todes Christi rollen zwischen der Kirche Gottes und der gegenwärtigen bösen Welt. Es ist unmöglich, vollständiger getrennt zu sein. Der Herr Jesus selbst sagt: „Sie sind nicht von dieser Welt, wie ich nicht von dieser Welt bin“ (Joh 17).

Und was könnte in Betreff der Hilflosigkeit mehr ohne Hilfsquellen sein, als die Kirche Gottes in dieser Welt? Sie besitzt nichts in und von sich selbst. Sie hat ihren Platz in einer moralischen Wüste, in einer furchtbar öden und höchst gefahrvollen Wildnis, in welcher es buchstäblich nichts gibt, wovon sie sich nähren kann. Nein, in dem ganzen Umfange dieser Welt findet sich kein Tropfen Wasser und keine der Kirche Gottes angemessene Speise. – Und wie vielen Arten feindseliger Einflüsse ist die Kirche bloßgestellt! Alles ist ihr entgegen. Sie ist in dieser Welt gleich einem ausländischen Gewächs, gleich einer Pflanze, die einem fremden Klima angehört und in eine Gegend gebracht ist, wo weder die Atmosphäre, noch der Boden ihr angemessen ist. Wahrlich, die Kirche Gottes in dieser Welt ist ein getrenntes, hilfloses, den Gefahren bloßgestelltes, wehrloses Ding und gänzlich abhängig von dem lebendigen Gott. Unsere Gedanken über die Kirche werden an Klarheit und Kraft gewinnen, wenn wir in ihr das Gegenbild des Lagers in der Wüste erblicken. In 1. Korinther 10 sehen wir, dass eine solche Anschauung keineswegs seltsam oder weit hergeholt ist. Wir sind völlig berechtigt zu sagen, dass das, was das Lager Israels in buchstäblichem Sinn war, die Kirche in moralischer und geistlicher Beziehung ist, und dass das, was die Wüste für Israel in buchstäblichem Sinn war, die Welt für die Kirche Gottes in moralischer und geistlicher Hinsicht ist. Die Wüste war für Israel die Stätte der Mühsal und der Gefahr, nicht aber die Stätte der Erquickung und des Genusses; und in demselben Verhältnis steht die Welt zur Kirche.

Es ist notwendig, diese Tatsache in ihrer ganzen moralischen Kraft zu ergreifen. Die Versammlung Gottes in der Welt ist, gleich „der Versammlung in der Wüste“, ganz auf den lebendigen Gott geworfen. Natürlich betrachten wir hier die Kirche von göttlichem Gesichtspunkt aus, wir betrachten sie, wie sie in den Augen Gottes ist. Beschauen wir sie von einem menschlichen Standpunkt aus, beschauen wir sie in ihrem wirklichen, praktischen Zustand, ach! dann erblicken wir etwas ganz anderes. Es handelt sich hier um den normalen, wahren und göttlichen Begriff der Versammlung Gottes in dieser Welt. Verlieren wir es daher nicht für einen Augenblick aus dem Auge, dass, so gewiss sich damals ein Lager in der Wüste – eine Versammlung in der Wildnis befand, ebenso gewiss sich jetzt die Kirche Gottes, der Leib Christi, in der Welt befindet. Ohne Zweifel kannten die Nationen der Welt die Versammlung des Altertums wenig und kümmerten sich noch weniger um sie; aber das berührte die große Tatsache nicht im Geringsten. Ebenso kennen die Menschen der Welt die Versammlung Gottes, den Leib Christi, wenig und kümmern sich noch weniger darum; aber das berührt keineswegs die Tatsache, dass wirklich ein solcher Gegenstand in dieser Welt besteht und seit der Ausgießung des Heiligen Geistes am Tag der Pfingsten bestanden hat. Sicher hatte die Versammlung des Altertums ihre Prüfungen, ihre Kämpfe, ihre Trübsale, ihre Versuchungen, ihre Widersprüche, ihre Streitfragen, ihre inneren Bewegungen, ihre zahllosen und namenlosen Schwierigkeiten und andere Erscheinungen, die nach den verschiedenen Hilfsquellen begehrten, die in Gott waren. Aber trotz all dieser Dinge, die wir aufgezählt haben, trotz der Schwachheiten, Mängel, Sünden, Empörungen und Kämpfe steht die Tatsache fest, dass von dieser großen, (nach der gewöhnlichen Art der Berechnung) drei Millionen Menschen zählenden Versammlung, Engel, Menschen und Teufel Kenntnis nahmen, denn, gestützt auf einen unsichtbaren Arm, wurde sie geleitet und versorgt durch den ewigen Gott, dessen Augen nicht während eines einzigen Augenblicks von diesem geheimnisvollen, vorbildlichen Heer abgewandt waren, und der sogar in ihrer Mitte wohnte und sie bei all ihrem Unglauben, ihrer Vergessenheit, ihrer Undankbarkeit und ihrer Widersetzlichkeit nimmer versäumte. Gott war da, um sie Tag und Nacht zu stützen und zu leiten, zu bewachen und zu erhalten. Er speiste sie mit dem Brot, das vom Himmel kam, und öffnete den Felsen zu einer fluchenden Quelle. Er hatte eine Versammlung in der Wüste, die, getrennt von allen Völkern ringsum, ganz auf Ihn geworfen war. Sicher bot die Wüste nichts für ihren Unterhalt und ihre Erquickung. Dort waren Schlangen und Skorpionen, Fallstricke und Gefahren; überall herrschte Dürre, Unfruchtbarkeit und Einöde. Aber dennoch befand sich hier jene wunderbare Versammlung, welche in einer Weise erhalten wurde, die den menschlichen Verstand verwirrt und zu Schanden macht.

Welch ein Glück, nun sagen zu dürfen, dass das Lager in der Wüste ein Vorbild von der Kirche Gottes in dieser Welt ist, jener Kirche, die bereits über achtzehn Jahrhunderte bestanden hat, und die ihren Platz bis zu dem Augenblick behaupten wird, wo der Herr Jesus seine gegenwärtige Stellung verlassen und zu ihrem Empfang in die Luft herniedersteigen wird. Wie wichtig ist es, diese Tatsache zu erkennen, eine Tatsache, die solange aus dem Gesicht verloren ist! Wie wenig wird sie auch jetzt noch erkannt! Es sollte das feierliche Bekenntnis jedes Christen sein, dass jetzt in diesem Augenblick sich etwas auf der Erde befindet, was dem Lager in der Wüste entspricht. Ja wahrlich, die Kirche ist in der Wüste. Die Versammlung durchschreitet eine Welt, wie Israel einst eine Wüste durchschritt. Was für Israel die Wüste buchstäblich und praktisch war, das ist die Welt für die Kirche moralisch und geistlich. Wie Israel keine Quellen in der Wüste fand, so wird auch die Kirche Gottes keine Quellen in der Welt finden. Wenn sie es tut, so nimmt sie nicht ihre wahre Stellung vor dem Herrn ein. Wie Israel nicht der Wüste angehörte, sondern sie nur durchschritt, so ist auch die Kirche Gottes nicht von der Welt, sondern durchschreitet sie nur.

Wenn der Leser in diese Gedanken eingegangen ist, so werden sie ihm die abgesonderte Stellung sowohl der Kirche insgesamt, als auch ihrer einzelnen Glieder insbesondere zeigen. Gott bezeichnet sie von dieser Welt als ebenso getrennt, wie Er das Lager Israels als getrennt von der sie umgebenden Wüste bezeichnete. Es besteht ebenso wenig Gemeinschaft zwischen der Kirche und der Welt, wie zwischen dem Lager und dem Sand der Wüste. Die glänzendsten Schönheiten, die größten Reize der Welt sind für die Kirche Gottes das, was die Schlangen, die Skorpionen und die tausenderlei Gefahren für Israel waren. Natürlich betrachten wir die Kirche, wie Gott sie betrachtet, und nicht wie die Menschen sie verunstaltet haben. Es ist durchaus nötig, dass wir uns auf den Standpunkt Gottes durch Glauben stellen, um von hier her die Kirche zu beschauen. Nur in diesem Fall können wir eine richtige Idee von dem haben, was die Kirche ist, sowie von unserer eigenen persönlichen Verantwortlichkeit als Glieder dieser Kirche. Gott hat in dieser Welt eine Kirche, welche durch den Heiligen Geist bewohnt und mit Christus, dem Haupt, vereinigt ist. Diese Kirche – dieser Leib – ist zusammengesetzt aus allen, die in Wahrheit an den Sohn Gottes glauben, und welche durch die große Tatsache der Gegenwart des Heiligen Geistes vereinigt sind.

Es ist dieses nicht nur eine bloße Meinung, oder eine Lieblingsidee, die wir unseren Lesern vorführen. Nein, es ist eine göttliche Tatsache. Die Kirche ist eine wirklich existierende Sache, und wir, wenn anders wahrhaft gläubig, sind leibhaftig Glieder derselben, und zwar durch den Heiligen Geist dazu berufen. Es ist dieses eine ebenso bestimmte und wirkliche Sache, wie die Geburt eines Kindes in einer Familie. Die Geburt hat stattgefunden, das Verhältnis ist gebildet, und wir haben es nur anzuerkennen und demgemäß von Tage zu Tage zu wandeln. Von demselben Augenblicke an, wo eine Seele wiedergeboren und mit dem Heiligen Geist versiegelt ist, ist sie auch dem Leib Christi einverleibt. Eine solche Seele kann sich nicht länger als ein einzelnes Individuum, als eine unabhängige Person, als ein isoliertes Wesen betrachten; sie ist das Glied eines Leibes, wie die Hand und der Fuß Glieder des menschlichen Leibes sind. Sie ist ein Glied des Leibes Christi, und kann daher selbstredend nicht ein Glied von einem anderen Gegenstand sein. Wie könnte mein Arm das Glied eines anderen Leibes sein? Und ebenso kann das Glied des Leibes Christi nicht Zugleich das Glied eines anderen Leibes sein.

Wie herrlich ist diese Wahrheit bezüglich der Kirche Gottes als des Gegenbildes des Lagers in der Wüste! Und diese Kirche ist wirklich vorhanden inmitten des Verderbens und des Abfalls, inmitten des Widerspruchs und des Zwiespalts, inmitten der Verwirrung und der Uneinigkeit, inmitten der Sekten und Parteien. Das ist in der Tat eine kostbare Wahrheit! Wir sind ebenso verpflichtet durch Glauben diese Kirche in der Welt anzuerkennen, wie die Israeliten Verpflichtet waren, durch Schauen das Lager in der Wüste anzuerkennen. Der Israelit dachte nicht im Entferntesten an ein anderes Lager, an eine andere Versammlung; und die Christen sollten durchaus nicht an eine andere Kirche, an einen anderen Leib denken. Dort war ein Lager, eine Versammlung, und der Israelit gehörte dazu; hier ist eine Kirche, ein Leib, und der wahre Christ gehört dazu.

Aber wie ist dieser Leib gebildet? Durch den Heiligen Geist, wie geschrieben steht: „Durch einen Geist sind wir alle zu einem Leib getauft“ (1. Kor 12,13). Wie wird er unterhalten? Durch sein lebendiges Haupt mittelst des Heiligen Geistes, und durch das Wort, wie geschrieben steht: „Niemand hat jemals sein eigenes Fleisch gehasst, sondern er nährt und pflegt es, gleich wie auch Christus die Versammlung“ (Eph 5,29). Ist das nicht hinreichend? Ist der Herr Jesus nicht genügend? Und genügt der Heilige Geist nicht völlig? Begehren wir mehr als die verschiedenen Kräfte, welche in dem Namen Jesu verborgen sind? Sind die Gnadengaben des ewigen Geistes nicht völlig hinreichend für das Wachstum und die Erhaltung der Kirche Gottes? Sichert uns die göttliche Gegenwart in der Kirche nicht alles, was die Kirche bedarf? Der Glaube bejaht es mit Bestimmtheit und Nachdruck, der Unglaube – die menschliche Vernunft – sagt: „Nein, wir bedürfen noch vieler anderer Dinge.“ Unsere Antwort aber sollte dann stets sein: „Wenn Gott nicht genügend ist, so wissen wir nicht, wohin wir uns wenden sollen. Wenn der Name Jesu nicht genügt, so wissen wir nicht, was wir beginnen sollen. Wenn der Heilige Geist in der Gemeinschaft, im Dienst und in der Anbetung nicht all unseren Bedürfnissen begegnen kann, so wissen wir nicht, was wir sagen sollen.“

Man könnte indes einwenden: „Die Dinge sind aber nicht mehr in dem Zustand, in welchem sie zurzeit der Apostel waren; die Kirche hat gefehlt, die Pfingstgaben sind nicht mehr zu entdecken, die blühenden Tage der ersten Liebe der Kirche sind verschwunden, und darum müssen wir die besten Mittel, die in unserer Macht sind, anwenden, um unsere Kirchen einzurichten und zu unterhalten.“ – Auf alles dieses aber antworten wir: „Gott hat nicht gefehlt, Christus das Haupt der Kirche, hat nicht gefehlt, der Heilige Geist hat nicht gefehlt.“ Das ist der unerschütterliche Grund des Glaubens. „Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in die Zeitalter.“ Er hat gesagt: „Siehe, ich bin bei euch.“ – Wie lange? Etwa nur während der Tage der ersten Liebe? Oder während der Zeit der Apostel? Oder solange, als die Kirche treu bleiben wird? – Nein. „Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende“ (Mt 28). selbst damals, als zum ersten Male in der Schrift die Versammlung erwähnt ist, lesen wir die denkwürdigen Worte: „Auf diesen Felsen (den Sohn des lebendigen Gottes) will ich bauen meine Versammlung; und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen“ (Mt 16).

Jetzt handelt es sich um die Frage: „Ist diese Kirche oder Versammlung im gegenwärtigen Augenblicke auf der Erde?“ Ganz gewiss. Es ist ebenso wahr, dass es jetzt eine Kirche auf Erden gibt, wie es einst ein Lager in der Wüste gab; und ebenso wie Gott sich im Lager befand, um jedem Bedürfnis zu begegnen, ist Er auch jetzt in der Kirche, um alles zu ordnen und zu leiten, wie geschrieben steht: „Ihr werdet mitauferbaut zu einer Behausung Gottes in dem Geist“ (Eph 2). das ist völlig genügend. Unsere Sache ist es jetzt, durch einfachen Glauben diese große Wahrheit zu ergreifen. Der Name Jesu ist ebenso genügend für alle Erfordernisse der Kirche Gottes, wie für die Errettung der Seele. Das eine ist so wahr, wie das andere. „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 18). Hat dieses aufgehört, wahr zu sein? Keineswegs. Nun, dann ist die Gegenwart Christi auch für seine Kirche völlig hinreichend; und wir haben nicht nötig, über kirchliche Angelegenheiten Pläne zu machen und sie ins Werk zu setzen. Sicher vermögen wir dabei, ebenso wenig zu tun, wie bei der Errettung einer Seele. Was sagen wir dem Sünder? Vertraue auf Christus. Was sagen wir dem Gläubigen? Vertraue auf Christus. Was sagen wir einer Versammlung von wenigen oder vielen Gläubigen? Vertraue auf Christus. Gibt es irgendetwas, das Er nicht besorgen kann? Gibt es etwas, dass für Ihn zu schwierig ist? Ist die Schatzkammer seiner Gabe und Gnade je erschöpft worden? Ist Er nicht fähig, Gaben zum Dienst zu verleihen? Kann Er nicht Evangelisten, Hirten und Lehrer berufen? Kann Er nicht den mannigfaltigsten Bedürfnissen seiner Kirche in der Wüste begegnen? Wenn nicht – ach! wo befinden wir uns denn? Was sollen wir tun? Wohin sollen wir uns wenden? Was hatte das Lager, die Versammlung des Altertums zu tun? Nichts anders als auf Jehova zu schauen. Er allein vermochte für Brot, für Wasser, für Kleidung, für Leitung, für Beschützung, kurz für alles zu sorgen. Alle ihre Quellen waren in Ihm. Müssen wir nun uns anders wohin wenden? Gewiss nicht; unser Herr Jesus ist völlig genügend trotz all unserer Mängel und Gebrechen, trotz unserer Sünde und unserer Untreue. Darum lasst uns auf Ihn vertrauen, lasst uns Ihm Raum geben, um zu handeln. Werfen wir alle unsere kirchlichen Sorgen auf Ihn, wie wir es taten, als es sich um die Errettung unserer Seele handelte.

Hierin liegt – davon sind wir völlig überzeugt – das ganze Geheimnis der Kraft und der Segnung. Leugnen wir den Verfall der Kirche? Wie könnten wir es? Ach! das Verderben steht als eine zu tastbare und zu ersichtliche Tatsache vor uns; unmöglich kann man es leugnen. Suchen wir unseren Anteil an dem Verfall unsere Torheit und Sünde zu leugnen? Wollte Gott, wir fühlten unsere Mitschuld tiefer! Aber wollen wir unsere Sünde noch dadurch vergrößern, dass wir die Gnade und Macht unseres Herrn, uns in unserer Torheit zu begegnen, leugnen? Wollen wir die Quelle lebendiger Wasser verlassen und uns löchrige Zisternen aushauen, welche kein Wasser halten? Wollen wir uns abwenden von dem Felsen der Zeitalter und uns stützen auf die gebrechlichen Rohre unserer Pläne? Der Herr verhüte es. Der Name Jesu ist der einzige wahre Stützpunkt unseres Herzens. Jesus–Name! Rettungsquelle,

Ruh' in Mühsal, Trost im Schmerz;

Bist ein Fels in Sturm und Welle,

Heilung für ein wundes Herz. Jedoch möge der Leser keineswegs dem Gedanken Raum geben, als wollten wir mit Anmaßung über den kirchlichen Verfall reden. Nein, wir fühlen, dass wir mitschuldig sind. Wir können sicher einen nicht zu niedrigen Platz einnehmen. Im Blick auf unsere gemeinschaftliche Sünde und Schande gebührt uns ein niedriger Platz und eine demütige Gesinnung. Aber mit allem Nachdruck möchten wir hervorheben, dass der Name Jesu für die Bedürfnisse der Kirche Gottes zu allen Zeiten und unter allen Umständen völlig genügt. Zur Zeit der Apostel lag in diesem Namen alle Macht verborgen, warum nicht in unserer Zeit? Hat dieser glorreiche Name irgendeine Wandelung erfahren? Nein – Gott sei dafür gepriesen! Nur dann ist er auch in diesem Augenblick völlig genügend für uns; und wir wünschen daher, diesem unvergleichlich kostbaren Namen, mit Ausschluss jedes anderen Grundes, völlig zu vertrauen und mit kühnem Mut unsere ganze Hoffnung darauf zu setzen. Der Herr besucht jede Versammlung, wie klein ihre Gliederzahl auch sein mag. „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte.“ Hat diese Zusage ihre Kraft verloren? Hat Er sie widerrufen?

Nun, mein teurer Leser, wir schließen diese Zeilen mit dem dringenden Wunsch, dein Herz für die köstliche Wahrheit weit zu öffnen, dass der Name Jesu für die Versammlung Gottes zu allen Zeiten, in allen Umständen, in welchen sie sich befinden mag, völlig genügend ist. Wir bitten dich dieses nicht nur theoretisch für eine Wahrheit zu halten, sondern auch praktisch hinein zu gehen; denn nur in diesem Fall wirst du die reiche Segnung der Gegenwart Jesu erfahren und genießen.

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