Botschafter des Heils in Christo 1871

Das Lager und die Wolke

„Und am Tag der Aufrichtung der Wohnung bedeckte die Wolke die Wohnung des Zeltes des Zeugnisses, und des Abends war über der Wohnung wie der Anblick des Feuers bis an den Morgen. So war es beständig: die Wolke bedeckte sie, und des Nachts war sie wie der Anblick des Feuers. Und sowie sich die Wolke erhob vom Zelt, so brachen danach die Kinder Israel auf, und an dem Ort, wo die Wolke blieb, daselbst lagerten die Kinder Israel. Nach dem Mund Jehovas brachen die Kinder Israel auf, und nach dem Mund Jehovas lagerten sie.“

Ein liebliches Gemälde von völliger Abhängigkeit und Unterwürfigkeit! In der „großen und schrecklichen Wüste“ zeigte sich keine Fußspur, kein Grenzstein. Die Pilger waren bei jedem Schritt auf dem Weg auf Gott geworfen, und befanden sich also stets in der Stellung eines steten Wartens auf Ihn. Das würde für ein nicht unterjochtes Gemüt, für einen ungebrochenen Willen unerträglich sein; aber für eine Seele, die Gott kennt und liebt, die Ihm vertraut und sich in Ihm erfreut, kann nichts gesegneter sein.

Hier liegt der wahre Grund der ganzen Sache. Ist wirkliche Erkenntnis Gottes, ist Liebe und Vertrauen in der Seele, dann erfreut sich das Herz in der unbedingtesten Abhängigkeit von Ihm; im anderen Fall ist diese Abhängigkeit durchaus unerträglich. Der nicht wiedergeborene Mensch liebt es, sich als unabhängig und frei zu betrachten und zu glauben, dass er tun und reden könne, was ihm gut dünke. Welch ein Irrtum! Der Mensch ist nicht frei. Er ist der Sklave Satans. Es sind bereits sechstausend Jahre her, dass er sich den Händen jenes großen, geistlichen Sklavenhalters verkauft und bis zu diesem Augenblick in dessen Fesseln geschmachtet hat. Ja, Satan hält den unbekehrten, unbußfertigen Menschen in seiner Gewalt. Er hat ihm Hände und Füße mit Ketten gebunden, welche weil er sie scheinbar vergoldet hat, in ihrem wahren Charakter nicht gesehen werden können. Die Lüste, die Leidenschaften und die Vergnügungen – das sind die Mittel wodurch Satan den Menschen beherrscht. Er weckt die Lüste in dem Herzen und befriedigt sie ihm durch die Dinge, die in der Welt sind; und der Mensch bildet sich ein, frei zu sein, weil er seine Wünsche befriedigen kann. Aber es ist ein schmerzlicher Betrug, wie er dieses früher oder später erkennen wird. Es gibt in der Tat keine Freiheit als die, mit welcher Christus sein Volk freimacht. Er sagt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.“ Und wiederum: „Wenn der Sohn euch freimachen wird, so werdet ihr wirklich frei sein“ (Joh 8).

Hier ist wahre Freiheit. Es ist die Freiheit, welche die neue Natur findet, indem sie im Geist wandelt und das tut, was vor Gott wohlgefällig ist. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ Ein Dienst im Geist aber schließt in allen seinen Teilen eine völlige Abhängigkeit von dem lebendigen Gott in sich. Also war es, bei Jesu, dem einzig treuen und vollkommenen Diener, der je diese Erde betrat. Er war stets abhängig. Jede Bewegung, jede Handlung, jedes Wort – alles, was Er tat, und was Er ungeschehen ließ, war eine Frucht völliger Abhängigkeit und Unterwürfigkeit unter Gott. Er bewegte sich und stand still; Er sprach und schwieg, je nachdem Gott Ihm das eine oder das andere gebot. Und wir, als die Teilhaber seiner Natur und seines Lebens und als solche, die seinen Geist wohnend in sich haben, sind berufen, in seinen Fußstapfen zu wandeln und Tag und Nacht in der Abhängigkeit Gott zu leben. Das Israel Gottes – das Lager in der Wüste, jenes wandernde Heer folgte der Bewegung der Wolke. Wegen dieser Führung mussten die Pilger ihren Blick erheben. Das ist die dem Menschen eigentümliche Aufgabe. Er ist geschaffen, um den Blick aufwärts zu richten, während das Tier mit einem nach unten gerichteten Blick gebildet ist. Die Israeliten konnten keine Pläne machen. Sie konnten nimmer sagen: „Morgen gehen wir da oder dorthin.“ Sie waren ganz von der Bewegung der Wolke abhängig.

Also war es bei Israel, und also sollte es bei uns sein. Wir durchschreiten moralisch eine pfadlose Wüste. Dort findet sich nirgends eine Straße. Wohin sollten wir unsere Schritte richten, wenn nicht der geliebte Herr gesagt hätte: „Ich bin der Weg.“ Hier ist göttliche, unfehlbare Führung. Wir haben Ihm zu folgen. „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht in Finsternis wandeln, sondern das Licht des Lebens haben“ (Joh 8). Wir haben nicht nach gewissen Regeln und Vorschriften zu wandeln, sondern einem lebendigen Christus zu folgen; wir haben zu wandeln, wie Er gewandelt, zu tun, wie Er getan, und sein Beispiel in allen Dingen nachzuahmen. Natürlich kann dieses nur mit Aufopferung unseres eigenen Willens geschehen. Wir müssen der Wolke folgen, d. h. stets warten auf Gott. Auch wir können nicht sagen: „Wir wollen da oder dorthin gehen; wir wollen morgen oder in nächster Woche dieses oder jenes Werk verrichten.“ Alle unsere Bewegungen müssen unter die ordnende Macht jenes, leider oft leichtsinnig gebrauchten Wortes gestellt werden: „So der Herr will!“

O möchten wir dieses besser verstehen! Denn nur in diesem Fall erkennen wir die Bedeutung der göttlichen Leitung. Wie oft bilden wir uns ein, die Wolke nach dieser oder jener Richtung hin ziehen zu sehen, weil das gerade zu unseren Neigungen passt! Wir wünschen einen gewissen Plan auszuführen oder einen gewissen Weg einzuschlagen; und mit Hast überreden wir uns, dass unser Wille der Wille Gottes sei. Anstatt uns dann leiten zu lassen, sind wir selbst die Leiter. Unser Wille ist ungebrochen, und darum können wir nicht richtig geleitet werden; denn ein gänzlich gebrochener Wille ist die erste Bedingung einer richtigen Leitung von Seiten Gottes. „Der Demütige wird geleitet in Gerechtigkeit, und der Demütige wird erreichen den Weg.“ Und wiederum: „Mit meinen Augen will ich dir raten.“ –

Doch lasst uns die Warnung wohlbeachten: „Seid nicht wie ein Ross, wie ein Maultier, das keinen Verstand hat, dessen Zierde Zaum und Gebiss ist zur Bändigung, wenn sie nicht wollen zu dir kommen“ (Ps 32). Wenn unser Blick aufwärts gerichtet ist, um dem Wink des göttlichen „Auges“ zu begegnen, dann bedürfen wir keines „Zaumes und Gebisses“. Aber gerade hier ist der Punkt, wo wir leider so oft straucheln. Wir befinden uns nicht nahe genug bei Gott, um den Wink seiner Augen zu unterscheiden, und der eigene Wille ist in Tätigkeit. Wir wünschen unsere eigenen Wege zu gehen, und darum werden wir preisgegeben, um die bittere Frucht davon zu ernten. Also verhielt es sich mit Jona. Er hatte den Auftrag nach Ninive zu gehen; aber er versuchte, nach Tarsis zu entfliehen und die Umstände schienen dieses zu begünstigen. Aber Jona hatte seinen Platz im Bauch eines großen Fisches, ja im „Bauch der Hölle“ selbst zu finden, wo „die Fluten ihn umgaben“. Hier in der Tiefe des Meeres lernte er die bittere Frucht der eigenen Wege kennen und die Bedeutung des „Zaumes und Gebisses“ verstehen, weil er der gelinderen Führung der Augen nicht folgen wollte.

Aber wie gnadenreich und langmütig ist unser Gott! Er will seine armen, schwachen, irrenden Kinder belehren und leiten. Ohne zu ermüden, beschäftigt Er sich stets mit uns, um uns von unseren eigenen dornenvollen Pfaden fern zu halten und uns in seinen Wegen der Glückseligkeit und des Friedens wandeln zu lassen. Sicher nichts ist gesegneter, als in der Abhängigkeit Gottes zu wandeln, an Ihm zu hängen, auf Ihn zu warten und alle Quellen in Ihm zu haben. Kann die Seele sagen: „Alle meine Quellen sind in dir“, so hat sie sich erhoben über alle menschlichen Hoffnungen und irdische Erwartungen. Wohl bedient sich Gott der äußeren Dinge zu unserem Nutzen; aber wir sollen uns nicht auf dieselben stützen; denn sonst werden wir bald eine Dürre in unseren Seelen verspüren. Bedient Gott sich ihrer zu unserem Nutzen, so sind wir gesegnet und Er ist verherrlicht; machen wir sie aber zu unserer Stütze, so betrügen wir uns und verunehren Ihn. Ach, wie oft täuschen wir uns in dieser Beziehung! Wir glauben oft, uns auf Gott zu stützen; aber eine Prüfung im Licht der Gegenwart Gottes würde zeigen, dass wir in den meisten Fällen unser Vertrauen auf die Kreatur gesetzt haben. Wir reden oft von einem Leben aus Glauben, von Zuversicht und Gottvertrauen; und doch würde uns ein einziger Blick in die Tiefe unserer Herzen nicht selten überzeugen, dass wir uns in erster Linie von den Umständen leiten lassen.

Darum, teure Brüder, lasst uns unsere Blicke unverrückt und allein auf den lebendigen Gott und nicht auf den Menschen richten! Lasst uns mit Geduld und Ausharren auf seine Güte hoffen! Wenn wir nicht wissen, welche Wege wir einschlagen sollen, dann lasst uns einfach Ihm folgen, der gesagt hat: „Ich bin der Weg.“ Er wird alles klar und sicher machen. Bei Ihm ist keine Finsternis, keine Verlegenheit, keine Ungewissheit; und Er sagt: „Wer mir nachfolgt, wird nicht in Finsternis wandeln.“ Wenn wir uns daher in Finsternis befinden, so hat das einfach seinen Grund darin, dass wir Ihm nicht nachfolgen. Folgen mir der Wolke, dann ist der Weg so hell und klar, wie Gott ihn machen kann. Hierin liegt die Wurzel der ganzen Sache. Unruhe oder Ungewissheit ist nicht selten die Frucht der Tätigkeit des eigenen Willens. Wir sind geneigt, etwas auszuführen, was Gott nicht will, dass wir es ausführen sollen. Wir beten deshalb, aber empfangen keine Antwort. Warum? Weil Gott will, dass wir ruhig sein und nicht handeln sollen. O möchten wir doch, anstatt uns den Kopf zu Zerbrechen und die Seele zu beunruhigen, mehr auf Gott warten und ruhig und stille sein!

Das ist das wahre Geheimnis des Friedens. Wenn ein Israelit in der Wüste, unabhängig von Gott, das Lenken der Wolke in seine Hand genommen hätte, wenn er die stehende Wolke hätte bewegen oder die sich bewegende Wolke hätte aufhalten wollen, welch seltsame Resultate würden erzielt worden sein! Und ebenso wird es bei uns sein. Wenn wir gehen, während wir ruhen, oder ruhen, während wir gehen sollten, wie könnte dann die Gegenwart Gottes mit uns sein. „Nach dem Mund Jehovas brachen die Kinder Israel auf, und nach dem Mund Jehovas lagerten sie.“ Sie waren gehalten, beständig auf Gott zu warten. Das ist die gesegnetste Stellung, die jemand einnehmen kann; aber sie muss eingenommen werden, bevor man der Segnung teilhaftig werden kann. Gebe der Herr uns die Gnade, stets auf Ihn zu harren und uns durch seine Augen raten zu lassen!

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