Betrachtung über Lukas (Synopsis)

Kapitel 2

Betrachtung über Lukas (Synopsis)

In diesem Kapitel verändert sich die Szene. Statt der Beziehungen Gottes zu Israel gemäß der Gnade erblicken wir zunächst den heidnischen Kaiser der Welt, das Haupt des letzten Reiches Daniels, wie er seine Macht im Lande Immanuels und über das Volk Gottes in einer Weise geltend macht, als ob Gott weder das eine noch das andere kannte. Zwar befinden wir uns noch in der Gegenwart der Geburt des Sohnes Davids, des Immanuel; allein Er steht äußerlich unter der Herrschaft des Hauptes des Tieres, eines heidnischen Reiches. Welch ein ungewöhnlicher Zustand der Dinge ist durch die Sünde herbeigeführt worden! Indes beachten wir wohl, dass es Gnade ist, die uns hier begegnet: es ist die Dazwischenkunft Gottes, die alles dieses offenbar macht. Einige andere Umstände sind hiermit verbunden, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Wenn es sich um die Interessen und die Herrlichkeit Jesu handelt, so dient diese ganze Macht, die ohne Gottesfurcht regiert, und die, ihre eigene Ehre suchend, da herrscht, wo Christus herrschen sollte ja, so dient die ganze kaiserliche Herrlichkeit nur als ein Werkzeug in der Hand Gottes zur Erfüllung Seiner Ratschlüsse. Was die öffentliche Tatsache betrifft, so sehen wir den römischen Kaiser eine despotische und heidnische Autorität an dem Orte ausüben, wo der Thron Gottes hätte sein sollen, und wo er gewesen wäre, wenn nicht die Sünde des Volkes es unmöglich gemacht hätte.

Der Kaiser verordnet, dass alle Welt sich einschreiben lasse; und demgemäß begibt sich ein jeder in seine Stadt. Die Macht der Welt wird in Bewegung gesetzt, und zwar durch eine Handlung, die jener Gewalt über diejenigen beweist, welche als das Volk Gottes von allem hätten frei sein sollen, ausgenommen von der unmittelbaren Regierung ihres Gottes, die ihre Herrlichkeit ausmachte. Diese Handlung war ein Beweis von der vollständigen Erniedrigung und Knechtschaft des Volkes. Sie waren ihrer Sünden wegen mit Leib und Gut Sklaven der Heiden. Allein diese Handlung erfüllte nur den wunderbaren Ratschluss Gottes, indem der Heiland-König in jenem Dorfe geboren wurde, wo es nach dem Zeugnisse Gottes stattfinden musste. Und mehr noch, die göttliche Person, welche die Freude und die Lobeserhebungen des Himmels hervorrufen sollte, wird inmitten der Menschen geboren, wird Selbst ein Kind in dieser Welt. Die hier durch den Kaiser Augustus verordnete Einschreibung ist um so bemerkenswerter, als dieselbe, sobald die Absicht Gottes erfüllt war, nicht weiter fortgeführt, sondern erst später unter der Regierung des Kyrenius vollendet wurde 1.

Die Sachlage in Israel und in der Welt war folgende: Die Heiden hatten die Oberhoheit, und der Thron Gottes war von Jerusalem gewichen. Und nun kommt der Sohn des Menschen, der Heiland, Gott geoffenbart im Fleische, um Seinen Platz einzunehmen, einen Platz, den nur die Gnade in einer Welt, die Ihn nicht kannte, finden oder einnehmen konnte.

Der Sohn Gottes wird in dieser Welt geboren, aber Er findet keinen Platz in ihr. Die Welt ist hier zu Hause; wenigstens findet sie durch ihre Hilfsmittel einen Platz in der Herberge, während der Sohn Gottes keinen findet, es sei denn in der Krippe. Hebt der Heilige Geist diesen Umstand ohne Absicht hervor? Keineswegs. In dieser Welt findet sich kein Raum für Gott, noch für das, was von Gott ist. Umso vollkommener ist deshalb die Liebe, welche Ihn auf diese Erde herniederführte. Der Sohn Gottes erscheint in der Welt als ein Kind, das an all der Schwachheit und all den Umständen des also geoffenbarten menschlichen Lebens teilnimmt 2. Aber wenn Gott in der Natur, die Er in Gnaden angenommen hat, in diese Welt eintritt und eine Krippe Ihn aufnimmt, dann beschäftigen sich die Engel mit diesem Ereignis, von dem das Schicksal des ganzen Weltalls und die Erfüllung aller Ratschlüsse Gottes abhängen; denn Er hat das Schwache erwählt, um das Starke zuschanden zu machen. Dieses hilflose Kindlein ist der Gegenstand aller Ratschlüsse Gottes, der Erhalter und Erbe der ganzen Schöpfung, der Heiland aller derer, welche ewiges Leben und ewige Herrlichkeit ererben sollen.

Einige Hirten, arme Leute, die, fern von dem unruhigen Treiben einer ehrgeizigen und sündhaften Welt, ihrer mühevollen Arbeit treu obliegen, erhalten die erste Kunde von der Gegenwart des Herrn auf der Erde. Der Gott Israels suchte nicht die Großen Seines Volkes auf, sondern nahm Rücksicht auf die Armen der Herde. Wir finden hier zweierlei: der Engel, der zu den Hirten von Judäa kommt, verkündet ihnen die Erfüllung der Verheißungen Gottes an Israel; und der Chor der Engel feiert in seinem himmlischen Lobgesang die ganze wirkliche Tragweite dieses wunderbaren Ereignisses.

„Euch ist heute in Davids Stadt ein Erretter geboren, welcher ist Christus, der Herr“, ruft der himmlische Bote den armen Hirten zu, die er besucht. Das war in der Tat eine gute Botschaft für sie und für das ganze Volk.

Allein die Geburt des Sohnes des Menschen, Gott geoffenbart im Fleische, die Erfüllung der Menschwerdung, hatte noch eine weit tiefere Bedeutung als das. Die Tatsache, dass dieses arme Kind, verkannt von der Welt und, menschlich gesprochen, Seinem Schicksal überlassen, gegenwärtig war, hatte nach dem Verständnis der Menge der himmlischen Heerscharen, deren Lobgesänge widerhallten, als die Engel ihre Botschaft an die Hirten ausrichteten, eine Tragweite, die in den Worten ihren Ausdruck fand: „Herrlichkeit Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen“ (d. i. Gottes). Diese wenigen Worte enthalten eine solche Gedankenfülle, dass es in einer Arbeit wie der vorliegenden schwer hält, sich in angemessener Weise damit zu beschäftigen. Jedoch sind einige Bemerkungen notwendig. Zunächst ist es höchst gesegnet wahrzunehmen, dass der Gedanke an Jesum alles ausschließt, was hinsichtlich der Umstände, die Seine Gegenwart auf der Erde begleiteten, das Herz niederdrücken konnte. Leider war die Sünde da; sie trat durch die Lage, In der Sich dieses wunderbare Kind befand, erst recht ans Licht. Wenn aber die Sünde Ihm jenen Platz angewiesen hatte, so hatte auch die Gnade Ihm denselben gegeben. Die Gnade ist überströmend. Die Segnung, die Gnade, die Gedanken Gottes hinsichtlich der Sünde, das, was Gott ist, geoffenbart in der Gegenwart Christi - alles das fesselt den Geist und nimmt das Herz völlig in Besitz, wenn man an Ihn denkt. Wir erblicken allein die Gnade; und die Sünde erhöht nur die Fülle, die Unumschränktheit und die Vollkommenheit dieser Gnade. In Seinen herrlichen Wegen tilgt Gott die Sünde, hinsichtlich derer Er wirkt und die Er auf diese Weise in ihrer ganzen Hässlichkeit zeigt; doch hier finden wir das, was „viel überschwänglicher“ ist. Jesus, in Gnade gekommen, erfüllt das Herz. Dasselbe ist der Fall in allen Einzelheiten des christlichen Lebens; es ist die wahre Quelle der sittlichen Kraft, der Heiligung und der Freude.

Ferner lässt diese Gegenwart Jesu, geboren als ein Kind auf der Erde, dreierlei hervortreten, und zwar zunächst: „Herrlichkeit Gott in der Höhe.“ Die Liebe Gottes, Seine Weisheit, Seine Macht (die Er nicht darin offenbarte, dass Er aus nichts ein Weltall erschuf, sondern darin, dass Er Sich über das Böse erhob und die Wirkung der ganzen Macht des Feindes zu einem Anlass machte, um zu zeigen, dass diese Macht nur Ohnmacht und Torheit dem gegenüber ist, was „die Schwachheit Gottes“ genannt werden kann), dann die Erfüllung Seiner ewigen Ratschlüsse, die Vollkommenheit Seiner Wege da, wo das Böse eingedrungen war, die Offenbarung Seiner Selbst inmitten dieses Bösen, und zwar in einer Weise, dass Er von den Engeln verherrlicht wurde - mit einem Wort, Gott offenbarte Sich durch die Geburt Jesu in einer solchen Weise, dass die mit Seiner Macht längst vertrauten himmlischen Heerscharen den Lobgesang anstimmen konnten: „Herrlichkeit Gott in der Höhe!“ Und jede Stimme fällt freudig in diese Lobgesänge ein. Wo ist eine Liebe wie diese Liebe? und Gott ist Liebe. Welch ein rein göttlicher Gedanke, dass Gott Mensch geworden ist! Welch eine überwiegende Macht des Guten über das Böse! Welch eine Weisheit, indem Gott Sich dem Herzen des Menschen naht und das Herz des Menschen zu Sich zurückführt! Wie passend ist die Art und Weise, wie Er Sich an den Menschen wendet! Welch eine Aufrechthaltung der Heiligkeit Gottes! Wie nahe kommt Er dem Herzen des Menschen, wie nimmt Er teil an seinen Bedürfnissen! Welch eine Kenntnis seines Zustandes! Doch was mehr als alles ist - Gott, in Gnade erhaben über dem Bösen, besucht in dieser Gnade eine verunreinigte Welt, um Sich erkennen zu lassen, wie Er nie vorher erkannt worden war!

Die zweite Wirkung der Gegenwart Dessen, der Gott auf Erden offenbarte, ist die, dass „Friede“ daselbst herrschen sollte. Ist Er verworfen, so wird Sein Name ein Anlass zum Streit; aber der himmlische Chor - beschäftigt mit der Tatsache Seiner Gegenwart und den aus derselben entspringenden Folgen, wenn diese einmal völlig hervorgebracht sein werden, obwohl sie jetzt noch verborgen waren in der Person Dessen, der da erschien - preist diese gesegneten und glückseligen Folgen. Das Böse sollte verschwinden und die Einführung der vollkommenen Liebe jede Feindschaft verbannen. Jesus, mächtig in Liebe, sollte herrschen und der ganzen Szene, die Ihn in der Welt, in welcher Er erschien, umgeben sollte, den Charakter verleihen, in dem Er gekommen war, damit dieselbe Seinem Herzen, das Seine Wonne darin fand (Spr 8, 31), entsprechend wäre. Siehe auch Ps 85, 10. 11, welche Stelle indes nicht so weitgehend ist.

Die Mittel zur Erfüllung dieser Segnung, nämlich die Erlösung, die Zerstörung der Macht Satans, die Versöhnung des Menschen mit Gott durch den Glauben sowie die Versöhnung aller Dinge in den Himmeln und auf der Erde, werden hier nicht näher bezeichnet. Alles hing von der Person und der Gegenwart Dessen ab, der geboren war; alles war in Ihm eingeschlossen. Der Zustand der Segnung trat mit der Geburt dieses Kindes ins Leben. Indem sie der Verantwortlichkeit des Menschen dargeboten wird, zeigt sich der Mensch unfähig, Nutzen daraus zu ziehen, und alles ist umsonst. Seine Lage wird dadurch nur umso schlimmer. Da jedoch Gnade und Segnung an die Person Jesu geknüpft sind, so strömen deren Folgen notwendigerweise in ihrer ganzen Kraft aus. Nach allem war es die Dazwischenkunft Gottes, welche die Ratschlüsse Seiner Liebe, den festen Vorsatz Seines Wohlgefallens, erfüllte; und da Jesus einmal erschienen war, so konnten die Folgen nicht ausbleiben. Welche Unterbrechung ihre Erfüllung auch erleiden mochte, so blieb Jesus doch die sichere Bürgschaft für diese Erfüllung. Er war in die Welt gekommen; Er war in Seiner Person der Inbegriff und der Ausdruck aller dieser gesegneten Folgen. Die Gegenwart des Sohnes Gottes inmitten der Sünder rief jedem geistlichen Verständnis zu: „Friede auf Erden!“ Die dritte Wirkung der Gegenwart Jesu auf der Erde war „das Wohlgefallen 3 - die liebende Zuneigung Gottes - an den Menschen“. Nichts ist einfacher als das, seitdem Jesus ein Mensch geworden ist. Er hat Sich nicht der Engel angenommen. Welch ein herrliches Zeugnis, dass nunmehr die Liebe, das Wohlgefallen Gottes, völlig auf diesem armen Geschlecht ruhen sollte, indem Er, obwohl es so weit von Ihm entfernt war, alle Seine herrlichen Ratschlüsse erfüllen wollte! Mit einem Wort, es war die Macht Gottes, in Gnade gegenwärtig in der Person des Sohnes Gottes, welche teilnahm an der Natur und sich interessierte an dem Schicksal eines Wesens, das von Ihm getrennt war, und die dasselbe zu dem Bereich der Erfüllung aller Seiner Ratschlüsse und der Offenbarung Seiner Gnade und Seiner Natur an alle Seine Geschöpfe machte. Welch eine Stellung für den Menschen! Und tatsächlich wird in dem Menschen alles dieses erfüllt. Das ganze Weltall sollte in dem Menschen und in dem, was Gott für ihn ist, erkennen, was Gott in Sich Selbst und was die Frucht aller Seiner herrlichen Ratschlüsse ist, ja, es sollte seine vollkommene Ruhe finden in Seiner Gegenwart gemäß Seiner Natur der Liebe. Alles das schloss die Geburt dieses Kindes, welches von der Welt nicht beachtet wurde, in sich. Wahrlich, ein naturgemäßer und bewundernswürdiger Gegenstand der Lobgesänge der heiligen Bewohner des Himmels, denen Gott Kenntnis von diesen Dingen gegeben hatte!

In jenen einfachen Israeliten, zu denen der Engel des Herrn gesandt wurde, war der Glaube wirksam. Sie erfreuten sich der Segnung, die sich vor ihren Augen erfüllte, und die der Gnade, die ihnen Gott durch die Verkündigung dieser Segnung erzeigt hatte, eine lebendige Wirklichkeit verlieh. Das Wort: „Was zu ihnen über dieses Kindlein geredet worden war“ fügt das in ihm liegende Zeugnis der Gnade alledem hinzu, was wir durch die Güte Gottes genießen.

Nach den jüdischen Gebräuchen (vgl. Lk 1, 59) erhält das Kind am Tage Seiner Beschneidung den Namen Jesus, zugleich aber auch in Übereinstimmung mit den durch den Engel Seiner Macht mitgeteilten Ratschlüssen und Offenbarungen Gottes (V 20). Übrigens wird alles nach dem Gesetz ausgeführt; denn geschichtlich befinden wir uns noch in Verbindung mit Israel. Er, „der vom Weibe geboren, ist geboren unter Gesetz“ (Gal 4, 4). Die dürftigen Umstände, in denen Jesus geboren wurde, zeigen sich auch in dem für die Reinigung Seiner Mutter dargebrachten Opfer (V. 22-24).

Ein anderer wichtiger Punkt wird hier durch den Heiligen Geist hervorgehoben, so unbedeutend auch dem Anscheine nach Der sein mag, der die Gelegenheit dazu darbietet. Jesus wird von dem göttlichen Überrest Israels, insoweit der Heilige Geist in demselben wirkt, anerkannt. Er wird ein Prüfstein für jede Seele in Israel. Der Zustand des durch den Heiligen Geist unterwiesenen Überrestes, d. h. derer, welche die Stellung des Überrestes einnahmen, war dieser: sie erkannten und empfanden das Elend und den Verfall Israels; aber sie harrten auf den Gott Israels, indem sie auf Seine unwandelbare Treue hinsichtlich der Tröstung Seines Volkes vertrauten. Und Gott war mit diesem Überrest. Er hatte denen, die also auf Seine Barmherzigkeit vertrauten, die Ankunft des Verheißenen kundgetan, der die Erfüllung dieser Barmherzigkeit für Israel sein sollte (V. 25 u. f.).

Der auf Gott vertrauende Überrest verliert daher (angesichts der Unterdrückung seitens der Heiden und Ungerechtigkeit eines Volkes, das im Bösen immer mehr heranreifte) das nicht, was, wie wir im vorhergehenden Kapitel gesehen haben, Israel angehörte. Mitten in dem Elend des Volkes besitzt er zu seinem Troste das, was Verheißung und Weissagung hinsichtlich der Herrlichkeit Israels angekündigt hatten. Der Heilige Geist hatte dem Simeon geoffenbart, dass er nicht sterben werde, bevor er den Christ des Herrn gesehen habe. Das war der Trost, und er war groß. In der Person Jesu war der Heiland gegenwärtig, und darin erfreute er sich, ohne auf die Einzelheiten der Art und Weise oder der Zeit der Befreiung Israels näher einzugehen.

Simeon liebte Israel; er konnte jetzt im Frieden heimgehen, da Gott ihn nach den Wünschen seines Glaubens gesegnet hatte. Die Freude des Glaubens ist immer auf den Herrn und Sein Volk gerichtet; aber sie erblickt in dem Verhältnis, das zwischen beiden besteht, den ganzen Umfang dessen, was zu dieser Freude Anlass gibt. Das Heil, die Befreiung von Seiten Gottes, war in Christo erschienen. Seine Gegenwart diente sowohl zur Offenbarung der Heiden, die bisher ohne eine Offenbarung in der Finsternis der Unwissenheit verborgen gewesen waren, als auch zur Herrlichkeit Israels, des Volkes Gottes. Das, was der Heilige Geist hier durch den Mund Simeons sagt, ist die Frucht der Regierung Gottes in Christo, d. h. des Tausendjährigen Reiches. Wenn indes der Heilige Geist diesem frommen und treuen Diener des Gottes Israels die Zukunft offenbarte, die von der Gegenwart des Sohnes Gottes abhängig war, so offenbarte Er ihm zugleich auch, dass er den Heiland Selbst in seinen Armen hielt, und schenkte ihm auf diese Weise einen gegenwärtigen Frieden und ein solches Gefühl der Gunst Gottes, dass der Tod dadurch seine Schrecken verlor. Es war nicht die Erkenntnis des Werkes Jesu, die auf ein erleuchtetes und überzeugtes Gewissen wirkte, sondern die Erfüllung der dem Volke Israel gegebenen Verheißungen, der Besitz des Heilandes und der Beweis der Gunst Gottes, so dass der hieraus hervorströmende Friede die Seele Simeons erfüllte. Wir finden hier drei Dinge: zunächst die Weissagung, die die Ankunft Christi verkündete, dann den Besitz Christi und schließlich die Wirkung Seiner Gegenwart in der ganzen Welt. Wir sind hier in Verbindung mit dem Überrest Israels und finden infolgedessen nichts von der Kirche und von rein himmlischen Dingen. Die Verwerfung kommt später. Was uns in diesem Teile des Evangeliums vorgestellt wird, ist alles das, was durch die Gegenwart Jesu im Wege der Segnung dem Überrest angehört. Sein Werk ist nicht der vorliegende Gegenstand.

Welch ein schönes Gemälde! Und welch ein Zeugnis wird diesem Kinde durch die Art und Weise gegeben, in der dasselbe durch die Macht des Heiligen Geistes das Herz dieses heiligen Mannes am Ende seiner irdischen Laufbahn erfüllte! Und beachten wir auch, welche Mitteilungen der Geist Gottes diesem schwachen Überreste machte, der unbekannt war inmitten der Finsternis, die das Volk bedeckte. Wie lieblich ist zugleich der Gedanke, dass so viele dieser Seelen, reich an Gnade und an Gemeinschaft mit dem Herrn, im Verborgenen geglüht haben, von den Menschen ungekannt, aber von Gott wohlgekannt und geliebt - Seelen, welche, wenn sie nach dem Willen Gottes zum Zeugnis für Christum aus ihrer Verborgenheit hervortreten, ein solch gesegnetes Zeugnis ablegen von einem Werke Gottes, das trotz allem, was der Mensch treibt, und hinter der schmerzlichen und bitteren Szene, die sich auf der Erde darstellt, ausgeführt wird! Indes war das Zeugnis Simeons, dieses heiligen Mannes Gottes, noch etwas mehr als der Ausdruck der höchst anziehenden Gedanken, die in der Gemeinschaft zwischen ihm und Gott sein Herz erfüllt hatten. Diese Erkenntnis Christi und der Gedanken Gottes über Ihn, die sich im Verborgenen zwischen Gott und der Seele entwickelt, gibt Verständnis über die Wirkung, die durch die der Welt gemachte Offenbarung Dessen hervorgebracht wird, der ihr Gegenstand ist. Hiervon redet der Heilige Geist durch den Mund Simeons. In seinen ersten Worten (V. 29-32) empfingen wir die Erklärung der sicheren Erfüllung der Ratschlüsse Gottes in dem Messias und sahen zugleich die Freude seines eigenen Herzens. Jetzt (V. 34. 35) wird die Wirkung der Darstellung Jesu, als des Messias, vor Israel auf Erden geschildert. Wie groß auch die Macht Gottes in Christo zur Segnung sein mochte, so stellte Er doch das Herz des Menschen auf die Probe. Er sollte durch die Offenbarung der Gedanken vieler Herzen (denn Er war Licht) ein Anlass zum Fall für viele werden, sowie das Mittel, um viele aus ihrem Zustande der Erniedrigung und Entwürdigung zu erheben. Die Gedanken der Herzen mussten umso mehr enthüllt werden, als Christus in einer Welt voll Hochmut erniedrigt wurde. Selbst die Seele der Maria, wiewohl sie die Mutter des Messias war, sollte ein Schwert durchdringen; denn ihr Kind sollte verworfen, die natürlichen Bande des Messias mit dem Volke sollten gelöst und nicht länger anerkannt werden. Dieser Widerspruch der Sünder wider den Herrn würde alle Herzen in ihren Wünschen, ihren Hoffnungen und ihrem Ehrgeiz aufdecken, mit welchen Formen der Gottseligkeit sie sich auch bekleiden mochten.

Das also war das Zeugnis, welches für den Messias in Israel abgelegt wurde, nach der Wirkung des Geistes Gottes auf den Überrest, inmitten des Elends und der Knechtschaft dieses Volkes: die gänzliche Erfüllung der Ratschlüsse Gottes betreffs Israels und betreffs der Welt durch Israel, zur Herzensfreude für den Gläubigen, der auf diese Verheißungen vertraut hatte, aber in jenem Augenblick zu einem Prüfstein für jedes Herz vermittelst eines Messias, der zu einem widersprochenen Zeichen wurde. In Ihm offenbarten sich die Ratschlüsse Gottes und das Herz des Menschen.

Der Prophet Maleachi (Mal 3, 15. 16) hatte gesagt, dass diejenigen, welche in der bösen Zeit, wenn man die Hochmütigen glücklich priese, den Herrn fürchteten, sich oft miteinander unterhalten würden. Diese Zeit war in Israel angebrochen. Von Maleachi bis zur Zeit der Geburt Jesu war Israel nur vom Elend zum Hochmut übergegangen - zu einem Hochmut, der freilich schon zur Zeit des Propheten zu keimen begann. Allein auch das ging in Erfüllung, was Maleachi von dem Überrest gesagt hatte: „sie redeten miteinander.“ Wir sehen, dass sie sich untereinander kannten; denn es heißt von der Prophetin Anna: „Sie redete von ihm zu allen, die auf Erlösung warteten in Jerusalem“ (V. 38). Sie war eine heilige Witwe, die nicht vom Tempel wich, und die, tiefbewegt von dem Elend Israels, den Thron Gottes mit einem Witwen-Herzen für eine Nation belagerte, die nicht mehr Gott zum Manne hatte, und die, gleich ihr, wirklich eine Witwe war. Und jetzt verkündigt sie allen, die gemeinschaftlich über diese Dinge nachsannen, dass der Herr Seinen Tempel besucht habe. Sie hatten auf Erlösung gewartet in Jerusalem; und nun war der Erlöser da, obwohl den Menschen unbekannt. Welch ein Gegenstand der Freude für diesen armen Überrest! Welch eine Antwort auf seinen Glauben!

Dennoch war Jerusalem nicht der Ort, wo Gott den Überrest Seines Volkes besuchte, sondern vielmehr der Sitz des Hochmuts derer die sagten: „Der Tempel Jehovas! der Tempel Jehovas!“... (Jer 7, 4). Und nachdem Joseph und Maria den Forderungen des Gesetzes genügt hatten, kehrten sie mit dem Kinde Jesu zurück, um mit Ihm ihren Platz in dem verachteten Orte einzunehmen, dessen Namen Er tragen sollte, und in jenen Gegenden, wo der verachtete Überrest mehr seinen Aufenthaltsort hatte, und wo das Licht nach dem Zeugnis Gottes erscheinen sollte. Dort brachte Er Seine Kinderjahre zu, in der körperlichen und geistigen Entwicklung der wahren Menschheit, die Er angenommen hatte. Wie einfach und kostbar ist dieses Zeugnis! Sobald jedoch die Zeit gekommen war, um zu den Menschen über Sein Verhältnis zu Seinem Vater zu reden, war Er Sich dessen nicht weniger bewusst. Diese beiden Dinge, Sein Wachstum und Sein Verhältnis zum Vater, finden sich in dem vereinigt, was am Ende des Kapitels gesagt wird. In der Entwicklung Seiner Menschheit offenbart Sich der Sohn Gottes auf der Erde. Joseph und Maria, welche - obwohl sie sich über alles das verwunderten, was Ihm begegnete - Seine Herrlichkeit nicht völlig durch den Glauben erkannten, tadeln das Kind nach der Stellung, in der Es sich der Form nach ihnen gegenüber befand. Indessen gibt dies Anlass zur Offenbarung eines anderen Charakters der Vollkommenheit in Jesu. Wenn Er der Sohn Gottes war und das volle Bewusstsein von diesem Verhältnis hatte, so war Er doch auch der gehorsame Mensch dem Wesen nach und stets vollkommen und ohne Sünde: Er war ein gehorsames Kind, welch ein Bewusstsein Er auch von jenem anderen Verhältnis haben mochte, das an und für sich zu der Unterwerfung unter menschliche Eltern in keinerlei Beziehung stand. Das Bewusstsein von dem einen Verhältnis tat Seiner Vollkommenheit in dem anderen keinen Abbruch. Dass Jesus Gottes Sohn war, bürgte für Seine Vollkommenheit als Mensch und als Kind auf Erden.

Es ist hier noch eine andere wichtige Sache zu bemerken, nämlich, dass diese Stellung nichts mit Seiner Salbung mit dem Heiligen Geiste zu tun hatte. Ohne Zweifel erfüllte Er den öffentlichen Dienst, in dem Er hernach auftrat, entsprechend der Kraft und Vollkommenheit dieser Salbung; allein Sein Verhältnis zu Seinem Vater gehörte Seiner Person Selbst an. Das Band bestand zwischen Ihm und Seinem Vater, und Er war Sich dessen völlig bewusst, welches auch das Mittel oder die Form Seines öffentlichen Auftretens und der Kraft Seines Dienstes sein mochte. Er war alles das, was ein Kind sein soll; aber es war der Sohn Gottes, der dies war. Sein Verhältnis zu Seinem Vater war Ihm ebenso gut bekannt wie Sein Gehorsam gegen Joseph und Seine Mutter schön, schicklich und vollkommen war.

Hiermit schließen wir diese rührende und göttliche Geschichte der Geburt und der ersten Tage des göttlichen Heilandes, des Sohnes des Menschen. Es ist unmöglich, etwas zu finden, was von tieferem Interesse wäre. Von nun an werden wir Ihn in Seinem Dienste, in Seinem öffentlichen Leben finden, von den Menschen verworfen, aber mit der Erfüllung der Ratschlüsse und des Werkes Gottes beschäftigt; abgesondert von allen, um dies in der Macht des Heiligen Geistes zu tun, der ohne Maß auf Ihm war - um jene Laufbahn zu vollenden, die mit nichts verglichen werden kann und betreffs welcher, wollte man sie interessant nennen, man die Wahrheit erniedrigen würde. Sie ist der Mittelpunkt und das Mittel (und zwar das einzig mögliche Mittel) jeder Verbindung unserer Seelen mit Gott; sie ist die Vollkommenheit der Offenbarung Seiner Gnade und die Grundlage jeder Verbindung zwischen einem Geschöpf und Ihm.

Fußnoten

  • 1 Ich zweifle nicht daran, dass die allein richtige Übersetzung dieser Stelle also lautet: „Die Einschreibung selbst geschah erst, als Kyrenius Landpfleger von Syrien war.“ Der Heilige Geist teilt diesen Umstand mit, um zu zeigen, dass, nachdem die Absicht Gottes erfüllt war, die Verordnung des Kaisers erst später tatsächlich vollzogen wurde.
  • 2 d. h. als ein Säugling. Er erschien nicht wie der erste Adam, der als ein Erwachsener aus den Händen Gottes hervorging. Er wurde als der Sohn des Menschen von einem Weibe geboren, was bei Adam nicht der Fall war.
  • 3 Es ist hier im Griechischen dasselbe Wort gebraucht, wie wenn von Christo gesagt wird: „An welchem ich Wohlgefallen gefunden habe.“ Es ist schön zu sehen, wie eifersuchtslos die Engel, diese heiligen Wesen, die Beförderung eines anderen Geschlechts zu diesem erhabenen Platze durch die Fleischwerdung des Wortes preisen. Gott verherrlichte Sich darin; das war genug für sie. Dies ist in der Tat überaus schön.
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