Betrachtung über Lukas (Synopsis)

Kapitel 23 + 24

Betrachtung über Lukas (Synopsis)

Im Blick auf Seine Verantwortlichkeit war es mit Israel vorbei. Die himmlische Herrlichkeit des Sohnes des Menschen sowie die persönliche Herrlichkeit des Sohnes Gottes standen jetzt im Begriff, in Erscheinung zu treten; und Jesus wird den Heiden übergeben, damit alles erfüllt werde. Diese Heiden werden uns indes in unserem Evangelium nicht als vorsätzlich schuldig dargestellt. Zwar tragen sie eine Gleichgültigkeit zur Schau, die in einem Falle wie dem vorliegenden einer offenbaren Ungerechtigkeit und einer durchaus unentschuldbaren Schamlosigkeit gleichkommt; allein Pilatus tut doch sein Möglichstes, um Jesum loszugeben; und Herodes, in seinen Erwartungen getäuscht, sendet Ihn ohne Urteilsspruch zurück. Der bestimmte Wille, Ihm zu schaden, liegt ganz und gar auf Seiten der Juden. Das ist der Charakter dieses Teiles der Geschichte in Lukas. Gern hätte Pilatus es vermieden, sein Gewissen mit einem so nutzlosen Verbrechen zu belasten; und die Juden verachtete er. Diese aber waren entschlossen, auf der Kreuzigung Jesu zu bestehen, und fordern lieber die Freilassung des Barabbas, eines Aufrührers und Mörders (V. 20-25) 1.

Jesus verkündigt daher, als Er nach Golgatha geführt wird, den Weibern, die Ihn mit den natürlichen Gefühlen des Mitleids beweinen, dass es ganz und gar aus sei mit Jerusalem, und dass es nicht an der Zeit sei, Sein Schicksal zu beklagen; sie sollten ihr eigenes beweinen. Denn Tage würden über Jerusalem kommen, an denen sich diejenigen glücklich preisen würden, die niemals Mütter gewesen - Tage, an denen man vergeblich Schutz suchen würde vor den Schrecken und dem Gericht. Denn wenn dies an Ihm, dem grünen Baume, geschah, was sollte aus dem dürren Baume des von Gott entfremdeten Judentums werden? Nichtsdestoweniger legt der Herr im Augenblick Seiner Kreuzigung Fürsprache für Israel ein: sie wussten nicht, was sie taten (V. 34) - eine Fürsprache, deren bemerkenswerte Antwort wir in jenen Reden finden, die Petrus hernach (Apg 3) durch den vom Himmel herniedergekommenen Heiligen Geist an die Juden richtete. Völlig verblendet rufen die Obersten der Juden samt dem Volke Jesu höhnend zu, dass Er nicht imstande sei, Sich vom Kreuze zu erretten; ach! sie wussten nicht, dass es deshalb unmöglich geschehen konnte, weil alles von ihnen genommen war, und weil Gott eine andere Ordnung der Dinge aufrichtete, gegründet auf ein Sühnopfer, in der Macht des ewigen Lebens durch die Auferstehung. Schreckliche Blindheit, die die armen Kriegsknechte, der Bosheit der menschlichen Natur entsprechend, nur nachahmten. Aber das Urteil über Israel war in ihrem Munde und (von Seiten Gottes) auf dem Kreuze. Es war der König der Juden, der dort am Kreuze hing, allerdings in der tiefsten Erniedrigung - denn ein Ihm zur Seite hängender Räuber durfte Ihn lästern -, aber Er war an dem Platze, an den die Liebe Ihn zum ewigen und gegenwärtigen Heil der Seelen gebracht hatte. Dies trat noch in demselben Augenblick ans Licht. Die schmähenden Worte, mit denen man dem Heilande vorwarf, Sich Selbst nicht von dem Kreuze erretten zu können, fanden ihre Erwiderung in der Bekehrung des Räubers, der noch an demselben Tage mit Jesu im Paradiese wieder vereinigt werden sollte.

Diese Geschichte ist ein schlagender Beweis von der Veränderung, in die uns dieses Evangelium einführt. Nach dem eigenen Geständnis der Juden wird ihr König nicht befreit, sondern gekreuzigt. Welch ein Ende für die Hoffnungen dieses Volkes! Aber zu derselben Zeit geht ein grober Sünder, der durch die Gnade gleichsam am Galgen bekehrt wird, geradewegs in das Paradies ein: eine, Seele wird für ewig errettet. Das ist, wie man sieht, nicht mehr das Reich, sondern eine Seele außerhalb des Leibes in der Glückseligkeit mit Christo.

Einige Bemerkungen über den Zustand dieser Seele sowie über die Antwort des Herrn mögen hier Platz finden. Man findet bei dem Räuber alle Zeichen der Bekehrung und eines außergewöhnlichen Glaubens, ein aufrichtiges und energisches Gewissen, eine Erkenntnis über die vollkommene, sündlose Gerechtigkeit Christi als Mensch, den dieser arme Sünder als den Herrn anerkennt, und zwar zu einer Zeit, wo Seine eigenen Jünger Ihn verlassen und verleugnet hatten, und wo kein Zeichen weder von der Herrlichkeit noch von der Erhabenheit der Person Jesu vorhanden war. Die Menschen achteten Ihn den Räubern gleich, und Sein Reich war nur ein Gegenstand des Spottes für alle. Der arme Räuber aber ist von Gott unterwiesen, und alles ist für ihn einfach. Er wird ein Trost für Jesum auf dem Kreuze und veranlasst Ihn (indem Er seinem Glauben antwortet), an das Paradies zu denken, das Seiner wartete, wenn Er das Werk, das Ihm von Seinem Vater gegeben war, vollbracht haben würde. Auch ist der Zustand der Heiligung, in dem sich der Räuber durch den Glauben befand, nicht weniger bemerkenswert. In all der Todesqual des Kreuzes und während er glaubt, dass Jesus der Herr ist, sucht er keine Linderung bei Ihm, sondern bittet, dass Er in Seinem Reiche seiner gedenken möge. Er ist nur mit einem Gedanken erfüllt - sein Teil mit Jesu zu haben. Er glaubt, dass der Herr zurückkehren werde; er glaubt an die Auferstehung; er glaubt an das Reich, obwohl der König gekreuzigt und verworfen ist, und obgleich nach menschlichem Ermessen keine Hoffnung mehr war. Die Antwort Jesu nun führt als Gegenstand der Erwartung nicht das Reich ein, sondern das ewige Leben, das Glück der Seele. Der Räuber hatte gebeten, dass Jesus seiner gedenken möge, wenn Er in Seinem Reiche komme. Jesus antwortet ihm, dass er nicht warten solle bis zu dem Tage der geoffenbarten und für die Welt sichtbaren Herrlichkeit, sondern dass er schon an demselben Tage mit Ihm im Paradies sein werde. Welch ein kostbares Zeugnis und welch eine vollkommene Gnade! Der gekreuzigte Jesus war mehr als ein König: Er war ein Heiland. Der arme Missetäter war ein Beweis davon; er war die Freude und der Trost des Herzens Jesu, die Erstlingsfrucht jener Liebe, die sie nebeneinander gestellt hatte - den Herrn der Herrlichkeit und den Übeltäter in demselben Gericht - und die die Sünden des letzteren für immer getilgt hatte. Dieselben existierten nicht mehr; dachte er an sie, so wurde er nur an die Gnade erinnert, die sie hinweg genommen und die seine Seele für immer von ihnen gereinigt hatte, indem sie ihn in jenem Augenblicke ebenso passend machte für das Paradies, wie Christus Selbst es war.

Der Herr übergibt dann, nachdem Er alles erfüllt hat und noch in voller Kraft ist, Seinen Geist Seinem Vater. Ihm vertraut Er denselben an; es ist die letzte Handlung von dem, worin Sein ganzes Leben bestanden hatte.- die vollkommene Energie des Heiligen Geistes, wirkend in einem vollkommenen Vertrauen zu Seinem Vater und in der Abhängigkeit von Ihm. Er vertraut Seinen Geist Seinem Vater an und verscheidet; denn der Tod war es, der vor Ihm stand, jedoch der Tod in einem absoluten, auf den Vater vertrauenden Glauben, der Tod mit Gott durch den Glauben, nicht aber der Tod, der von Gott trennt. Inzwischen verhüllt sich die Natur, gleichsam als wolle sie verkünden, dass Der, welcher die Welt erschaffen, sie verlassen habe (V.44-46). Alles ist Finsternis. Andererseits aber offenbart Sich Gott: der Vorhang des Tempels zerreißt von oben bis unten. Bis dahin hatte Sich Gott in tiefe Dunkelheit gehüllt, der Weg zum Heiligtum war noch nicht geoffenbart worden; jetzt aber gibt es keinen Vorhang mehr. Das, was die Sünde hinweg genommen hat, lässt die vollkommene Liebe Gottes hervorstrahlen; und die Heiligkeit der Gegenwart Gottes wird Freude für das Herz und nicht Qual. Das, was uns in die Gegenwart der vollkommenen Heiligkeit ohne Vorhang bringt, hat die Sünde weggenommen, die uns verhinderte, dort zu sein. Unsere Gemeinschaft ist mit Gott durch Christum; wir sind heilig und tadellos vor Ihm in Liebe.

Getroffen von alledem, das sich ereignete, bekennt der Hauptmann (und das ist die Wirkung des Kreuzes auf das Gewissen), dass dieser Jesus, den er gekreuzigt hatte, wahrlich der gerechte Mensch sei (V. 47). Ich sage: die Wirkung auf das Gewissen, weil ich nicht zu sagen wage, dass die Sache bei dem Hauptmann weiterging. Eine ähnliche Wirkung sieht man bei den Zuschauern: an ihre Brust schlagend, gehen sie davon. Sie erkennen, dass sich etwas Ernstes zugetragen hat, und dass sie sich Gott gegenüber in eine verhängnisvolle Lage gebracht haben (V. 48).

Aber der Gott unseres Herrn Jesu Christi, der Vater der Herrlichkeit, hat alles vorbereitet für die Grablegung Seines Sohnes der Ihn verherrlicht hatte, indem Er Sich dem Tode überlieferte. In Seinem Tode ist Er bei dem Reichen (Jes. 53, 9). Joseph, ein gerechter Mann, der nicht eingewilligt hatte in die Sünde seines Volkes, legt den Leib des Herrn in eine Gruft, die noch nie benutzt worden war. Es war der Rüsttag vor dem Sabbat; aber der Sabbat nahte heran. Die Weiber, die (so unwissend sie auch waren) der Liebe, die sie während Seines Lebens für Ihn gehegt hatten, auch zur Zeit Seines Todes treu blieben, sehen zu, wohin Sein Leib gelegt wird, und gehen hin, um das Nötige für Seine Einbalsamierung zuzubereiten. Lukas redet nur in allgemeinen Ausdrücken von diesen Weibern; wir werden deshalb bei den Einzelheiten anderswo verweilen und hier einfach der Erzählung unseres Evangeliums folgen (V. 49-56; Kap. 24, 1-11). Die Weiber kommen und finden den Stein abgewälzt, und die Gruft enthält nicht mehr den Leib Dessen, den sie geliebt hatten. Während sie noch hierher betroffen sind, bemerken sie zwei Engel in ihrer Nähe, die die Frage an sie richten: „Was suchet ihr den Lebendigen unter den Toten?“ und die sie an die deutlichen Worte erinnern, die Jesus in Galiläa zu ihnen gesprochen hatte. Sie gehen hin und erzählen diese Dinge allen Jüngern, die ihrer Mitteilung indes keinen Glauben schenken können. Petrus aber eilt zu der Gruft, sieht, dass alles in Ordnung ist, und kehrt, sich über das Geschehene verwundernd, wieder heim (Kap. 24, 12). In allem diesem zeigte sich kein Glaube, weder an die Worte Jesu, noch an das, was die Schriften gesagt hatten. Auf dem Wege nach Emmaus bringt Jesus die Schriften mit dem, was Ihm begegnet war, in Verbindung. Er erweckt bei den zwei Jüngern jene brennende Aufmerksamkeit, die das Herz fühlt, wenn es getroffen ist; dann offenbart Er Sich ihnen beim Brotbrechen, dem Zeichen Seines Todes. Es war dies nicht die Feier des Abendmahls; aber diese besondere Handlung stand mit jener Begebenheit in Verbindung. Dann werden die Augen der Jünger aufgetan, und Jesus verschwindet. Es war der wahrhaftige Jesus, aber in der Auferstehung. Er Selbst legte ihnen alles aus, was die Schriften geredet hatten, und stellte Sich ihnen lebend dar mit dem Sinnbilde Seines Todes. Die beiden Jünger aber kehrten nach Jerusalem zurück.

Der Herr war bereits dem Simon erschienen; doch wird uns nichts Näheres über diese Erscheinung mitgeteilt. Paulus erwähnt sie in 1.Kor 15 als die erste im Blick auf die Apostel. Während nun die beiden Jünger den Übrigen berichteten, was geschehen war, stand Jesus plötzlich Selbst in ihrer Mitte; allein ihre Gemüter waren noch nicht mit dieser Wahrheit vertraut, und Seine Gegenwart versetzte sie in Furcht. Sie vermögen den Gedanken der Auferstehung des Leibes nicht zu fassen. Der Herr benutzt ihre (menschlich gesprochen sehr natürliche) Bestürzung zu unserer Segnung, indem Er ihnen die augenscheinlichsten Beweise davon gibt, dass Er Selbst es ist, zwar auferstanden, aber nach Leib und Seele derselbe wie vor Seinem Tode. Er fordert sie auf, Ihn zu betasten, und Er isst vor ihren Augen. Er war es wirklich Selbst 2. Eine wichtige Sache, die Grundlage des wahren Glaubens, blieb noch zu erörtern. die Worte Christi und das Zeugnis der Heiligen Schrift. Dies stellt der Herr den Jüngern vor. Indes waren noch zwei Dinge erforderlich: zunächst bedurften sie der Fähigkeit, das Wort zu verstehen. Er öffnet ihnen daher das Verständnis, um die Schriften verstehen zu können; und Er macht sie zu Zeugen, die nicht nur fähig waren, zu sagen: „So ist es, denn wir haben es gesehen“, sondern auch: „So musste es sein, denn Gott hat es in Seinem Worte gesagt; und das Zeugnis Christi Selbst ist in Seiner Auferstehung erfüllt worden.“

Jetzt aber sollte die Gnade verkündigt werden - d. h. ein Jesus, der von den Juden verworfen, aber für das Heil der Seelen gestorben und wieder auferweckt ist, der Frieden gemacht hat und nach der Macht Seiner Auferstehung das Leben gibt, indem die Reinigung unserer Sünden geschehen und die Vergebung in der Gabe des Lebens schon gewährt ist. Die Gnade, die den Sündern Buße und Vergebung predigt, sollte unter allen Nationen verkündigt werden, und zwar sollte die Verkündigung an dem Orte beginnen, wo die geduldige Gnade Gottes infolge der Fürsprache Jesu noch ein Band anerkannte - an dem Orte, der nur durch eine unumschränkte Gnade erreicht werden konnte und an dem die strafwürdigste Sünde die Vergebung am notwendigsten machte. Buße und Vergebung der Sünden sollte allen Nationen gepredigt werden, anfangend von Jerusalem. Der Jude, ein Kind des Zornes wie die übrigen, musste auf demselben Grunde eingehen. Das Zeugnis hatte eine höhere Quelle, obwohl gesagt wurde: „den Juden zuerst“.

Allein es bedurfte zweitens noch etwas mehr zur Erfüllung dieser Mission: es bedurfte der Kraft. Die Jünger sollten in Jerusalem verweilen, bis sie mit Kraft aus der Höhe angetan würden. Jesus wollte ihnen den Heiligen Geist senden, den Er verheißen und von dem auch die Propheten geredet hatten. Indem Er sie segnet und die himmlische Gnade Sein Verhältnis zu ihnen charakterisiert, scheidet Er von ihnen und fährt auf gen Himmel. Die Jünger aber kehren mit Freuden nach Jerusalem zurück (V. 48-53).

Der Leser wird bemerkt haben, dass die Erzählung des Lukas eine sehr allgemeine ist und die Hauptgrundsätze enthält, auf die die Lehre und die Beweise der Auferstehung gegründet sind. Der Unglaube des natürlichen Herzens wird auf eine treffende Weise in höchst einfachen und ergreifenden Mitteilungen gezeichnet; ebenso das zähe Festhalten der Jünger an ihren Hoffnungen bezüglich des Reiches; ferner die Schwierigkeit, mit der die Lehre des Wortes von ihren Herzen Besitz nimmt, wiewohl sich dieselben mit Freuden dieser Lehre in dem Maße öffnen, wie sie diese verwirklichen; dann die Person des auferstandenen Jesus; die Lehre des Wortes; die Mitteilung des Verständnisses über das Wort; die Mitteilung der Macht des Geistes - kurz, alles, was mit der Wahrheit und mit der ewigen Ordnung der Dinge in Verbindung steht, wird geoffenbart. Dessen ungeachtet wird Jerusalem, nach den Verheißungen Gottes gegen dasselbe, noch anerkannt als der erste Gegenstand der Gnade auf Erden. Jedoch war die Stadt, selbst als Örtlichkeit betrachtet, nicht mehr der Berührungs- und Verbindungspunkt Jesu mit Seinen Jüngern. Er segnet sie nicht von Jerusalem aus, obwohl sie dort, den Wegen Gottes mit der Erde gemäß, den Heiligen Geist erwarten sollten; allein hinsichtlich der Jünger selbst und ihrer Beziehung zu Ihm führt der Herr sie nach Bethanien, von wo Er ausgegangen war, um Sich Jerusalem als König darzustellen. Dort war die Auferweckung des Lazarus geschehen; dort wurde Er von jener Familie aufgenommen, die auf eine höchst treffende Weise den Charakter des Überrestes, der sich mit Seiner Person verband, darstellte; dorthin zog Er Sich, als Sein Zeugnis an die Juden beendigt war, zurück, damit Sein Herz für einige Augenblicke unter denen ruhen möchte, die Er liebte, und die durch die Gnade Ihn liebten; und dort war es endlich, wo Er (in Ansehung der äußeren Umstände) das Band zwischen dem Überreste, der sich mit Seiner Person verband, und dem Himmel gründete, und von wo Er hinaufgetragen wurde in den Himmel.

Jerusalem ist nur der öffentliche Ausgangspunkt des Dienstes der Apostel, so wie es der letzte Schauplatz Seines eigenen Zeugnisses gewesen war. Was die Apostel selbst betrifft, so knüpft sich ihre Erinnerung an die Person Jesu, an Bethanien und an den Himmel; von dort her sollte auch das Zeugnis für Jerusalem selbst kommen. Dies ist umso bezeichnender, wenn wir es mit Matthäus vergleichen. Dort geht der Herr nach Galiläa, an den Ort der Vereinigung mit dem jüdischen Überrest; auch finden wir dort keine Himmelfahrt.

Anmerkung: Ich bin im Texte stets genau der betreffenden Stelle gefolgt; jedoch möchte ich dem Gesagten noch einige Erörterungen hinzufügen, indem ich dieses Evangelium mit den anderen verbinde.

Es gibt zwei verschiedene Seiten in den Leiden Christi: 1. das, was Er durch die Anstrengungen Satans - als Mensch im Kampfe mit dem Feinde, der die Herrschaft des Todes besitzt - gelitten hat, und dies in Gemeinschaft mit dem Vater, indem Er Sein Flehen vor Ihn brachte; und 2. das, was Er gelitten hat, um das Sühnungswerk für die Sünde zu vollbringen, indem Er den Zorn Gottes trug und den Kelch trank, den Ihm der Wille Seines Vaters zu trinken gegeben hatte.

Bei der Betrachtung des Evangeliums nach Johannes werde ich mich mehr bei dem Charakter der Versuchungen des Heilandes aufhalten. Hier möchte ich nur darauf aufmerksam machen, dass im Anfang des öffentlichen Lebens Jesu der Versucher Ihn vom Gehorsam abwendig zu machen suchte, indem er Ihm die Reize der Vorrechte, die Ihm als Messias angehörten, sowie alles das vor Augen stellte was Ihm als Mensch angenehm sein konnte. Dann verließ Ihn Satan „für eine Zeit“; aber in Gethsemane kehrte er zurück und wandte die Furcht des Todes an, um Angst in das Herz des Herrn zu werfen. Und Jesus musste notwendig durch den Tod gehen, sollte anders der Mensch hiervon befreit werden; denn er war das Teil des Menschen; und Jesus allein konnte durch das Hinabsteigen in den Tod die Ketten desselben brechen.

Jesus war Mensch geworden, damit der Mensch nicht nur befreit, sondern auch verherrlicht werden könnte. Die Angst Seiner Seele war vollständig: „Meine Seele ist sehr betrübt bis zum Tode!“ Seine Seele befand sich somit in derselben Lage wie diejenige eines Menschen angesichts des Todes, wenn Satan in demselben seine ganze Macht entfaltet. Nur war Er dort in Vollkommenheit; es war ein Teil Seiner Vollkommenheit, in allem auf die Probe gestellt zu werden, worin der Mensch auf die Probe gestellt werden kann. Jedoch wendet Sich Jesus mit Tränen, Bitten und Flehen zu Dem, der Ihn aus dem Tode zu erretten vermochte. Für den Augenblick vermehrt sich Sein Kampf; denn die Quelle des Leidens Gott vorstellen, macht das Leiden nur noch fühlbarer. Dies ist ja auch in unseren eignen kleinen Kämpfen der Fall. Allein in dieser Weise wird die Frage der Unterwerfung und des Gehorsams, die Frage des Zustandes unserer Seelen nach der Vollkommenheit vor Gott gelöst. Seine Seele tritt mit Gott in den Kampf ein - Er betet heftiger. Es ist jetzt offenbar, dass der Kelch, den Er vor das Auge Seines Vaters bringt, wenn Satan ihm diesen als die Macht des Todes in Seiner Seele vorstellt, getrunken werden muss. Aber aus Gehorsam gegen Seinen Vater nimmt Er ihn in Frieden. Ihn zu trinken ist, anstatt die Macht des Feindes zu sein, nur der vollkommene Gehorsam. Doch musste er in Wirklichkeit getrunken werden.

Auf dem Kreuze tritt Jesus, der Heiland unserer Seelen, in den zweiten Abschnitt Seiner Leiden ein. Er geht in den Tod als das Gericht Gottes, die Trennung Seele von der Klarheit des Angesichts Gottes. Alles das, was eine Seele, die außer der Gemeinschaft mit Gott durch nichts erfreut werden kann, zu leiden vermag, wenn sie dieser Gemeinschaft beraubt ist, hat der Herr gelitten, und zwar nach dem vollkommenen Maße der Gemeinschaft, die jetzt unterbrochen war. Dennoch gab Er Gott die Ehre: „Doch du bist heilig, der du wohnst unter den Lobgesängen Israels“ (Ps 22, 3). Der Kelch des Zornes - denn ich übergehe den Hohn und die Beschimpfungen der Menschen - wurde getrunken. Wer vermag die Schrecken dieses Leidens zu schildern. Es waren die wirklichen Wehen des Todes, der verstanden wurde, wie Gott ihn versteht, und der nach dem Werte Seiner Gegenwart auf eine göttliche Weise gefühlt wurde, und zwar durch einen Menschen, der als solcher von dieser Gegenwart abhängig war. Doch alles ist vollbracht; dem, was Gott in Betreff der Sünde forderte, ist völlig entsprochen, und Er Selbst ist im Blick auf die Sünde verherrlicht worden, so dass Er jetzt nur Segen für einen jeden hat, der irgend zu Ihm kommt durch einen Christus, der da lebt, „und Er war tot“, der da lebt und Mensch ist für immer - für immer vor Gott.

Die Leiden Christi an Seinem Leibe, die Beschimpfungen und Drohungen der Menschen können (so wesentlich sie auch waren) nur als die Einleitung zu dem bitteren Kelch, den Er trinken musste, betrachtet werden. Sie beraubten Ihn als Mensch jedes Trostes und überließen Ihn völlig Seinen Leiden in Verbindung mit dem Gericht über die Sünde, und dies zu einer Zeit, als Gott Selbst (der Sein völliger Trost gewesen wäre), indem Er Ihn verließ, die Quelle Seines Schmerzes wurde - eines Schmerzes, der Ihn alles andere vergessen und gleichsam nicht fühlen ließ.

Fußnoten

  • 1 Diese vorsätzliche Schuld, d. h. die nationale Schuld Israels, wird auch in dem Evangelium Johannes stark hervorgehoben. Pilatus behandelt die Juden mit Verachtung; und bei dieser Gelegenheit rufen sie aus: „Wir haben keinen König, als nur den Kaiser“ (Joh 19,15)
  • 2 Nichts kann rührender sein als die Art und Weise, in der Er das Vertrauen der Jünger zu wecken sucht als Der, den sie gekannt hatten, der Mensch Jesus, ja, der noch immer, wenn auch mit einem geistigen Leibe, ein wahrhaftiger Mensch war wie zuvor. Gott sei gepriesen! Er ist für immer ein Mensch, derselbe, der einst in lebendiger Liebe inmitten unserer Schwachheit gekannt gewesen ist.
« Vorheriges Kapitel