Der Segen Jakobs

Dan

2.6. Dan, eine Schlange

„Dan wird sein Volk richten wie einer der Stämme Israels. Dan wird eine Schlange sein am Weg, eine Hornotter am Pfad, die da beißt in die Fersen des Rosses, und rücklings fällt sein Reiter. Auf deine Rettung harre ich, HERR!“ (1. Mo 49,16-18).

2.6.1. Dan wird sein Volk richten

Jakob beginnt diesen Spruch mit einem Wortspiel anlässlich des Namens Dan (wie er das auch bei Juda in V. 8 tut). Dan (d.h. Richter) wird sein Volk richten, wie einer der Stämme Israels (V. 16). Er war der erste Sohn Bilhas, der Magd Rahels, und seine Geburt war für Rahel der Beweis, dass Gott ihr endlich Recht verschafft hatte im Konflikt mit Lea. „Da sprach Rahel: Gott hat mir Recht verschafft und auch auf meine Stimme gehört und mir einen Sohn gegeben! Darum gab sie ihm den Namen Dan“ (1. Mo 30,6). Die Bedeutung dieses Namens würde nach den letzten Worten Jakobs also auch das Verhalten Dans widerspiegeln. Er würde seinem Volk Recht verschaffen, wie einer der anderen Stämme.

Im Allgemeinen fasst man diese Worte so auf, dass Dan den übrigen Söhnen Jakobs in nichts nachstehen würde, obwohl er lediglich von einer Magd geboren war. Ebenso wie die anderen Stämme würde auch Dan eine gewisse Selbständigkeit für sein Volk, für sein Geschlecht, zu erwerben wissen. Aus Josua und Richter wissen wir jedoch, dass dies lange gedauert hat und dass Dan seinem Volk auch nicht immer mit ganz makellosen Mitteln Recht verschafft hat. Auf Letzteres spielt Jakob wahrscheinlich in Vers 17 an, wenn er Dan mit einer gefährlichen Schlange vergleicht, die ihre Widersacher durch einen unerwarteten Angriff zu besiegen weiß. Das Erbteil, das ursprünglich dem Stamm Dan im Süden zugewiesen war, schien auch durch den Widerstand der Amoriter zu klein zu sein. Darum zogen die Daniter zum äußersten Norden und überfielen dort arglosen, harmlosen Bewohner der Stadt Lais oder Leschem, der sie dann den Namen Dan gaben (Jos 19,40-48; Ri 1,34; 18,1-34). Diese Stadt wurde die nördliche Grenzstadt Israels, sodass man fortan über ganz Israel von „Dan bis Beerseba“ (im Süden) sprach.

Viele Ausleger denken bei den Worten der Verse 16 und 17 auch an das Auftreten des bekannten Richters Simson aus dem Stamm Dan, der als Einzelner die übermächtigen Philister zu schlagen wusste - so wie eine giftige Otter sogar einen Reiter zu Fall bringen kann. Die hier erwähnte Schlange oder Hornotter ist eine kleine sandfarbene Schlange, die ihren Namen zwei kleinen Schuppen oberhalb der Augen verdankt. Wegen seiner Farbe fällt das Tier nicht auf und kann deshalb völlig unerwartet eine tödliche Wunde verursachen.

2.6.2. Dan wird eine Schlange sein

Die prophetische Erklärung dieser Verse ergibt sich daraus. Bei den vorigen Sprüchen sahen wir, dass Israel unter die Nationen zerstreut werden würde (Sebulon), und völlig von ihnen abhängig sein würde (Issaschar). In der Zukunft wird jedoch ein Führer auftreten, der das Volk wieder zu Ansehen und zu einem gewissen Maß an Selbständigkeit führen wird. Er wird sich dabei einer sehr verräterischen Taktik bedienen. Dieser zukünftige König der Juden wird nämlich von Satan selbst, der alten Schlange, „die den ganzen Erdkreis verführt“ (Off 12,9), inspiriert werden. Für ihn gilt völlig: „Schlangengift ist unter ihren Lippen“ (Röm 3,13). Er wird sich als der Messias ausgeben, doch er ist ein falscher Christus. Er ähnelt zwar dem Lamm (das Tier aus der Erde hat zwei Hörner gleich einem Lamm), spricht aber wie der Drache und wird die große Masse des jüdischen Volkes zum Götzendienst verführen. Das wird zur Hälfte der letzten Jahrwoche Daniels geschehen. Der Antichrist wird im wiedererbauten Tempel in Jerusalem einen Götzenkult einführen und sich selbst und auch das Bild des Hauptes des wiederhergestellten Römischen Reiches anbeten lassen. Er ist der törichte Hirte, über den Sacharja prophezeit, der er sein Volk ins Verderben stürzen wird, weil er es mit Hilfe der bösen Mächte, mit denen er sich verbunden hat, regieren („richten“) wird (Jes 28,15; Dan 9,27; 11,36-39; Sach 11,15-17; Mt 24,15; 2. Thes 2,3.4; Off 13,11-18).

Deshalb ist das Ross und sein Reiter, worüber Jakob in Vers 17 spricht, in dieser prophetischen Auslegung kein Bild von den Feinden Israels, sondern von Israel selbst. In 2. Mose 15,1.21 symbolisieren das Pferd und sein Reiter die Macht Pharaos. In Jesaja 63,13 wird das Bild eines Pferdes jedoch für Israel gebraucht: „(...) der sie durch die Tiefen ziehen ließ wie ein Pferd in der Wüste, ohne dass sie strauchelten.“ Es spricht daher nichts dagegen, in den Worten Jakobs einen prophetischen Hinweis auf das verräterische Verhalten des Antichrists zu sehen, der sein eigenes Volk zu Fall bringen und völlig machtlos machen wird.

Es ist auch nicht richtig, die Prophezeiung Jakobs als einen Wunsch aufzufassen, wie einige Übersetzungen das tun: „Möge Dan eine Schlange sein am Weg.“ Es ist lediglich eine Beschreibung dessen, was Dan tut, geschichtlich hinsichtlich seiner Feinde und prophetisch hinsichtlich seines eigenen Volkes. Ja, wo bleibt der Zusammenhang mit Vers 18 zu sehen, wenn Vers 17 als ein Wunsch übersetzt und daher ausschließlich als etwas Günstiges betrachtet wird? Dann gibt es keinen Grund mehr, für die Offenbarung der Rettung Gottes zu bitten! Doch kann es etwas Ungünstigeres und Heilloseres geben als das Auftreten des Antichrists? Die Wirksamkeit des Bösen und die völlige Kraftlosigkeit Israels in den letzten Tagen vor dem Wiederkommen Christi ist unleugbar Anlass, Gott um Rettung zu bitten. Israels Hilfe muss von oben kommen, und Jakob spricht hier die Gedanken und Empfindungen des gläubigen Überrestes jener Tage aus.

Es gibt auch eine sehr alte Tradition, die in diesen Versen einen Hinweis auf das Auftreten des Antichrists sieht und daraus die Schlussfolgerung zieht, dass der Antichrist aus Dan hervorkommen wird. In diesem Zusammenhang verweist man darauf hin, dass der Stamm Dan in der Aufzählung der Versiegelten aus Israel in Offenbarung 7 fehlt. Außerdem finden wir Dan in der Schrift oft in Verbindung mit Abfall und Götzendienst. In 3. Mose 24 spricht ein Daniter die erste Gotteslästerung aus. In Richter 18 führen die Daniter an ihrem neuen Wohnort im Norden den Götzendienst ein. In 1. Könige 12 errichtet Jerobeam dort in Dan und auch in Bethel den Götzendienst der Kälber, die er gemacht hatte.

Schließlich kann man auch noch eine gewisse Übereinstimmung feststellen in der Handlungsweise der Schlange in Vers 17 und des Samens der Schlange in 1. Mose 3,15, der die Ferse des Samens der Frau zermalmen würde. Das Handeln Satans richtet sich immer gegen den Messias und sein Volk. So war es in der Vergangenheit und so wird es auch in der Zukunft wieder sein. Im Auftreten des Antichrists wird seine Macht völlig ans Licht treten.

2.6.3. Die Rettung des HERRN

Doch wenn wir an diesem Tiefpunkt der Geschichte Israels angelangt sind, ist die Zeit für die Offenbarung der Rettung des HERRN reif (V. 18). Wenn die Verdorbenheit des gefallenen Menschen und die Macht des Bösen im Antichrist, dem Mensch der Sünde, völlig offenbar werden, wird allein Gott noch eine Lösung geben können. Und Er wird das tun, indem Er seine Rettung ans Licht bringt, die Rettung, deren Ursprung Er ist und die für alle bereitet ist, die Ihn erwarten. Das ist übrigens immer die herrliche Antwort auf unsere Not. Wenn wir nur noch sagen können, dass wir völlig hilflos sind, kommt Gott mit seiner Rettung. Jakob hat auf diese Rettung gewartet und deshalb gebetet: „Auf deine Rettung harre ich, HERR!“ (V. 18).

In diesem Vers kommt zum ersten Mal (von über achtzig Malen) das Wort Rettung oder Heil (jeschua) im Grundtext vor. Dieses Wort kommt besonders häufig in den Psalmen und im Buch Jesaja vor (Jes 12,2.3; 49,6; 62,11). An manchen Stellen wird es gleichbedeutend mit dem Messias, der die Rettung in Person ist und dessen Name Jeschua ist (d.h. der HERR ist Rettung, Mt 1,21), gebraucht. Jakob betete für mehr als nur die zeitliche Befreiung; er drückte sein Verlangen nach einem persönlichen Erretter aus, den lang erwarteten Erlöser.

Dies sind prophetische Worte, die der Überrest bald auch in der notvollen Situation der großen Drangsal in den Mund nehmen wird (Ps 3,9; 38,16; 39,8; 119,166). Am Ufer des Roten Meeres hatte Israel bereits in der Vergangenheit mit der Rettung des HERRN Bekanntschaft gemacht (2. Mo 14,13). Und so wird es auch in der Zukunft von all seinen Feinden errettet werden und in den Besitz seines Erbteils gelangen. Der HERR wird erneut für sie streiten, und sie werden still sein. So wie Jona werden sie festen Boden unter die Füße bekommen, sobald sie erkennen, dass allein beim HERRN Rettung ist (Jona 2,10). Mit dem Wiederkommen des Erretters wird ihnen diese Rettung zuteil werden und auch die innere Rettung der Vergebung der Sünden (Jes 53,5-12; Sach 12,10 - 13,1). Die Macht des Antichrists und des Hauptes des wiederhergestellten Römischen Reiches wird vernichtet, und der Satan wird gebunden werden (2. Thes 2,8; Off 19,20; 20,2). Dann wird auch die Schöpfung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit erlöst werden und Christus seine herrliche Regierung beginnen.

Zweifellos ist es daher gut, dass man „still warte auf die Rettung des HERRN“ (Klgl 3,26). Das gilt auch für uns. Wir haben diese Rettung bereits als Folge des ersten Kommens Christi kennen gelernt, und wir sehen sie in seinem Kreuz und in seiner Auferstehung. Christus starb für unsere Sünden, und seine Auferstehung macht unsere Errettung nun sicher. Doch das volle Heil, die endgültige Errettung empfangen wir erst bei seinem Wiederkommen. Obwohl wir durch den Glauben bereits errettet sind, erwarten wir Ihn doch als Heiland aus dem Himmel, damit Er auch unseren Leib errettet und uns dorthin bringt, wo uns weder Sünde noch Schwachheit anhaften werden (Eph 2,8; Phil 3,20.21).

Dies können wir sicher auch auf die Christenheit in ihrer Gesamtheit anwenden. Sie hat ernstlich in ihrem Zeugnis auf der Erde versagt. Denken wir nur an die prophetische Geschichte der Kirche in Offenbarung 2 und 3. So wie in der Geschichte Israels der Stamm Dan mit der Einführung des Götzendienstes verbunden war, so ist das in der Geschichte der Christenheit auch der Fall mit Pergamus und Thyatira (Off 2,14.20). Der Tiefpunkt, den wir nun in 1. Mose 49 mit Dan erreicht haben, findet daher sein Gegenstück in der abgefallenen Kirche im letzten Bibelbuch, die dort in ihrer endgültigen Form als das große Babylon beschrieben wird (Off 17 und 18). Und Babel ist nach der Schrift die Wiege des Götzendienstes (1. Mo 11,1-9; Jos 24,2; Sach 5,5-11).

Während die Namenchristenheit ihrem Gericht entgegengeht, gibt es jedoch einen Überrest, der an allem festhält, was der Versammlung ursprünglich anvertraut wurde, und die das entsprechende Zeugnis bis zum Kommen Christi bewahrt. Wir sehen diesen Überrest in Offenbarung 2 und 3 in denen, die am allgemeinen Verderben nicht teilhaben und deshalb als Überwinder angesprochen werden. So wie Jakob warten sie auf die Rettung des Herrn. Christus wird bei seinem Wiederkommen Rettung bringen und die wahre Versammlung in seine Herrlichkeit einführen.

Schließlich gibt es noch eine praktische Anwendung in Verbindung mit unserem persönlichen Glaubensleben. Inmitten des Verfalls dürfen wir mit Gottes Hilfe und seiner Rettung rechnen, sodass wir unseren Weg als Überwinder gehen und das Wort Gottes bewahren und den Namen Christi nicht verleugnen. So erfahren wir bereits jetzt seine rettende Hand, die mit uns sein will, während wir nach der vollen Rettung ausschauen, die uns erwartet.

Außerdem können wir auch eine Parallele zwischen dem Gebet Jakobs um die Offenbarung der Rettung Gottes und dem Gebet in Römer 7,24 um die Erlösung aus der Macht der Sünde und des Todes ziehen. So wie die Worte Jakobs in V. 18 den Wendepunkt in 1. Mose 49 bilden, so ist dieses kurze Gebet am Ende von Römer 7 die Umkehr im Kampf des Christen mit der Macht der Sünde, die in ihm wohnt. Und so wie wir in den nun folgenden Söhnen Jakobs (Gad, Aser und Naphtali) den Segen sehen, der das Teil der Überwinder ist, so zeichnet Römer 8 das Überwinderleben des Christen in der Kraft des Geistes Gottes. Da sehen wir die praktische Auswirkung der Rettung Gottes und der Erlösung, die wir durch Jesus Christus, unseren Herrn, haben.

Wir wollen mit einigen positiven Bemerkungen über den Stamm Dan enden. Im Segen Moses lesen wir Folgendes über Dan: „Und von Dan sprach er: Dan ist ein junger Löwe, der hervorspringt aus Basan“ (5. Mo 33,22). Wenn es um den endgültigen Besitz des Erbteils im verheißenen Land entsprechend den Plänen Gottes geht, so bleibt auch für Dan ein Segen übrig. Hier wird nichts Ungünstiges von ihm erwähnt. Im Gegenteil, er nimmt sein Erbteil wie ein starker junger Löwe in Besitz. So finden wir in Hesekiel 48 bei der Verteilung des Landes am Anfang des Friedensreiches, dass Dan nicht fehlt und sogar als erster der Stämme sein Erbteil im Norden Israels zugeteilt bekommt. Gottes Gnade wird über die Bosheit des Menschen und die Macht Satans triumphieren, die in der Geschichte dieses Stammes in besonderer Weise Gestalt bekommen hat und die in prophetischer Hinsicht nach der Entrückung der Versammlung noch zu ihrer vollen Entfaltung kommen wird.

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