Botschafter des Heils in Christo 1877

Die christliche Zucht - Teil 2/2

Für die Zucht, die der Einzelne und zwar in einem väterlichen Geist auszuüben hat, gibt es ein weites Feld. Sollte jemand gleichgültig gegen das Verhalten seines Bruders sein und sich nicht für verpflichtet halten, auf ihn Acht zu haben, der verrät die Gesinnung Kains, der dem Herrn antwortete: „Bin ich meines Bruders Hüter?“ Niemand hat ein Recht, sich auszuschließen, wenn der Apostel die Thessalonicher ermahnt: „Warnt die Unordentlichen“ (1. Thes 5,14); oder die gläubigen Hebräer: „Lasst uns auf einander Acht haben“ – freilich nicht, um das Böse zu sehen und es offenbar zu machen, sondern – „zur Anreizung der Liebe und guter Werke“ (Heb 10,24). Darf es jemand wagen, solche und ähnliche Ermahnungen von sich abzuweisen? – Doch gibt es selbstverständlich im Wort Gottes auch Anweisungen, die nur für solche sind, welche eine besondere Gabe empfangen haben. Paulus schrieb an Timotheus in Bezug auf diejenigen, in deren Mitte er sich befand: „Überführe, strafe, ermahne mit aller Langmut und Lehre“ (2. Tim 4,2); und ebenso wird Titus ermahnt, die Kreter strenge zurecht zu weisen, auf dass sie gesund sein möchten im Glauben (Tit 1,13).

Diese und viele andere Schriftstellen der Art lassen uns leicht verstehen, dass es eine Zucht gibt, womit der Einzelne sich zu beschäftigen hat. Es ist eine persönliche Handlung. Die Energie des Geistes in dem Einen übt im Dienst der Gnade und Wahrheit ihren Einfluss auf das Gewissen des Anderen aus. Wird der Zweck der Liebe erreicht, so bleibt die in Frage stehende Sache für immer vergessen. Wenn aber jemand sich gegen die bittende und warnende Stimme des Einzelnen verhärtet, so mag in einem solchen Fall auch die Zucht der Versammlung notwendig werden.

Ehe ich jedoch von dieser Zucht rede, möchte ich noch die Ermahnung des Apostels an Timotheus erwähnen, die uns die angemessene Gesinnung und das Verhalten eines Knechtes Christi inmitten derer, die Böses tun, so klar anweist: „Ein Knecht des Herrn soll nicht streiten, sondern gegen alle milde sein, lehrfähig, der Böses ertragen kann, der in Sanftmut zurechtweist die Widersacher, ob ihnen Gott nicht etwa Buße gebe zur Erkenntnis der Wahrheit usw“ (2. Tim 2,24–25). Dieser Dienst hat sich der Gnade und Wahrheit gemäß mit dem Bösen zu beschäftigen: dasselbe zu verhüten oder zu beseitigen. Wie bald aber werden wir, im Blick auf unsere eigene Schwachheit, in einem solchen Dienst ermatten, wenn wir nicht allezeit im Gebet und Flehen beharren! Das Fleisch ist nur zu gern bereit, jemand seinen Weg gehen zu lassen und sich damit zu beruhigen, dass er es nicht besser haben will; aber ist der Geist und die Liebe Christi in unseren Herzen wirksam, so sind wir nur dann beruhigt, wenn der Irrende zurückgekehrt ist. Kein Weg, keine Mühe wird gescheut, kein Mittel unversucht gelassen, bis der gesegnete Zweck erreicht ist. Weder kaltes zurückstoßen, noch lieblose Behandlung kann die Liebe Christi im Herzen aufhalten, noch verringern. Sie wird mit Bitten, Flehen und Tränen den Irrenden zurückzubringen suchen. „Gedenkt daran“, rief Paulus bei seinem Abschied den Ephesern zu, „dass ich drei Jahre Nacht und Tag nicht aufgehört habe, einen jeglichen mit Tränen zu ermahnen“ (Apg 20,31). O möchte von dieser unermüdlichen, sich selbst aufopfernden Liebe mehr unter uns gefunden werden! Sie allein macht uns wahrhaft fähig, die väterliche Zucht dem Herrn wohlgefällig und zum Segen der Seinen auszuüben.

3. Bevor wir auf die dritte Art, auf die von der Versammlung auszuübende Zucht, näher eingehen, wird es nötig sein, uns zuerst den Begriff „Versammlung“ klar zu machen. Im weiteren Sinne betrachtet Gott die ganze bekennende Christenheit, ihrer Verantwortlichkeit nach, als die Versammlung oder Kirche auf der Erde (vgl. Off 3,14 usw.). Sie bildet nach 2. Timotheus 2,20 „das große Haus“, worin es „Gefäße zur Ehre und Gefäße zur Unehre“ gibt. Das Vorhandensein der letzteren beweist, dass die Kirche ihrer Verantwortlichkeit nicht entsprochen, dass sie die Ermahnung des Apostels: „Tut den Bösen von euch selbst hinaus“, völlig vergessen und bei Seite gesetzt hat. Sie ist von den Gedanken Gottes bezüglich seiner Versammlung, d. h. von der Wahrheit immer mehr abgewichen und wird damit fortfahren bis zu ihrem endlichen Gericht.

Was haben nun diejenigen zu tun, die bereit sind, sich dem Wort Gottes zu unterwerfen? Sie können das Haus selbst, die verantwortliche Kirche, nicht verlassen, aber sie haben sich abzusondern von dem Bösen, das darin vorgeht, von den Gefäßen der Unehre, ihrem Dichten und Trachten, ihrem Tun und Lassen, auf dass sie „Gefäße zur Ehre, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu allem guten Werk bereitet“ seien (V 21).

Im engeren Sinne werden im Wort Gottes die wahren Gläubigen als das Haus oder die Versammlung Gottes bezeichnet. Sie sind „der Tempel Gottes“ und „die Wohnung des Heiligen Geistes“ (1. Kor 3,16–17; 2. Kor 6,16); sie bilden alle zusammen einen Leib – den Leib Christi (1. Kor 10,17; 12,20.27; Eph 1,23; 4,4–16; 5,30); sie sind „ein heiliger Tempel im Herrn, eine Behausung Gottes im Geist“ (Eph 2,19–22), „die Hausgenossen – die Kinder Gottes“, also die Familie Gottes auf der Erde (Eph 2,19; Röm 8,14; Phil 2,15; 1. Joh 3,1); sie sind die „lebendigen Steine, aufgebaut auf den lebendigen Stein (Christus), ein geistliches Haus, ein heiliges Priestertum, um darzubringen geistliche Schlachtopfer, Gott wohlannehmlich durch Jesus Christus“ (1, Pet 2,4–5).

Alle wahren Gläubigen zusammen bilden also das Haus oder die Versammlung Gottes, sie sind durch einen Geist zu einem Leib getauft (1. Kor 12,13). Durch die jetzt herrschende allgemeine Verwirrung aber sehen wir auf traurige Weise die Verwirklichung der Zusammengehörigkeit oder vielmehr der Einheit der Gläubigen gehindert. Die Mehrzahl derselben befolgt noch nicht einmal die Aufforderung Gottes, sich von den Ungläubigen abzusondern: von denjenigen aber, welche diesen Schritt getan haben, sind viele wieder in Parteien gespalten. Die gläubigen Korinther, die schon den Anfang damit machten, dem Parteigeist in ihrer Mitte Raum zu geben und sich Parteibenennungen beizulegen, wurden deswegen von dem Apostel Paulus strenge getadelt und als fleischlich bezeichnet. Dieses Urteil trifft also auch die Gläubigen unserer Tage, die sich zu einer Partei oder zu einer besonderen, abgeschlossenen Gemeinschaft konstituieren, wodurch sie die übrigen Gläubigen als außerhalb der von ihnen ausgerichteten Umzäunung stehend bezeichnen, und wodurch sie trennen, was so innig zusammengehört, wie die Glieder eines und desselben Leibes. Die Gläubigen können nur dadurch ihrem Charakter als Versammlung Gottes entsprechen und der Wahrheit, dass sie alle zusammen einen Leib bilden, Ausdruck geben, dass sie einerseits getrennt von der ungläubigen Welt und andererseits außerhalb aller Parteien sich einfach als Gläubige im Namen Jesu um den Tisch des Herrn versammeln. Dieser Tisch ist in jedem Ort der Sammelpunkt und der Ausdruck der Einheit aller Gläubigen, da allein ist der Gott wohlgefällige Platz aller wahren Christen. Diejenigen, die dieses gesegnete Vorrecht ausüben, halten den Platz für die übrigen Gläubigen, die von ihrem Vorrecht keinen Gebrauch machen, offen, indem sie sich mit allen zu einem Leib verbunden wissen. Sie repräsentieren dadurch die Versammlung Gottes und haben als solche die von dem Wort vorgeschriebene Zucht auszuüben. Freilich entziehen sich viele Gläubige diesem gesegneten Dienst brüderlicher Gemeinschaft, indem sie, wie schon gesagt, sich in eine Partei einschließen oder dem außerhalb der Parteien aufgerichteten Tische des Herrn fernbleiben. Die Versammlung kann dann eben ihrer Verantwortlichkeit nur soweit entsprechen, als ihr Bereich geht, d. h. als die Gläubigen sich von ihrer Pflege erreichen lassen.

Kehren wir jetzt zu dem Gegenstand unserer Betrachtung zurück. Die von der Versammlung auszuübende Zucht hat es mit der Reinhaltung des Hauses Gottes oder der Versammlung zu tun. Alle sind verantwortlich, die Reinheit dieses Hauses unter allen Umständen aufrecht zu halten. Der Zustand derer, die in diesem Haus sind, soll mit der Natur desselben in Übereinstimmung sein. Je treuer und wirksamer nun der im vorigen Abschnitt behandelte Hirtendienst oder die Zucht im Geist eines Vaters ausgeübt wird, umso weniger wird das Einschreiten der Versammlung nötig werden, weil das Haus aus jenen Gläubigen besteht, womit der Hirtendienst sich beschäftigt. Der Vater selbst, dem der Sohn die Seinen übergeben hat (Joh 17), übt Zucht aus; Er reinigt die Neben, auf dass sie mehr Frucht bringen. Doch ist diese Sorge des Vaters nicht mit der Zucht „des Sohnes über sein Haus“ zu verwechseln. Jene Sorge hat es mit einzelnen Personen zu tun: aber der hauptsächliche Zweck der Zucht von Seiten der Versammlung ist, die Reinheit des Hauses aufrecht zu erhalten. Wenn auch die Wiederherstellung einer Seele, die in einem schlechten Zustand ist oder gesündigt hat, immer eine große Gnade ist, so nimmt doch die Ehre des Herrn, die mit der Reinheit des Hauses verknüpft ist, stets den ersten Platz ein, und darum muss alles Unreine sorgfältig aus demselben entfernt werden. Es mag dieses, und sollte es immer tun, großen Schmerz und Kummer bei allen hervorrufen, weil aller Gewissen dabei beteiligt ist: aber es gibt keinen Grund, die Ehre des Herrn in irgendeiner Weise bei Seite zu setzen. Sicher leben wir in einer Zeit, wo der Verfall und die Verwirrung in der Kirche einen sehr hohen Grad erreicht hat, und nur ein kleiner, schwacher Überrest, der sich im Namen Jesu versammelt, ist vorhanden; aber dieser ist deshalb nicht weniger für die Reinheit des Hauses verantwortlich. Der Herr gebe, dass wir diese Verantwortlichkeit tief fühlen und mit göttlichem Eifer über seine Ehre wachen!

Die Zucht der Versammlung findet nur bei solchen Sünden ihre Anwendung, die offenbar sind, denn vorher wird das Gewissen der Versammlung nicht dadurch berührt. Ist aber eine Sünde offenbar geworden, so bleibt sie solange auf dem Gewissen der ganzen Versammlung, bis sie hinweggetan ist. Bei Ausübung aller Zucht soll der erste und nächste Zweck die Wiederherstellung der Seele sein, und gewiss werden nur sehr wenige Fälle vorkommen, wo dieser gesegnete Zweck, wenn anders die Zucht mit göttlicher Weisheit und Liebe geschieht, nicht erreicht wird. Sind aber alle Bemühungen der Liebe fruchtlos, bringen die brüderlichen Ermahnungen das Herz nicht zu einer Gott gemäßen Betrübnis und dadurch zu einer „Buße zum Heil“, so bleibt nichts anderes übrig, als dass die Versammlung diesen Unbußfertigen von der Gemeinschaft der Gläubigen ausschließt und die Einzelnen alle brüderlichen Beziehungen zu ihm brechen. Dass es überhaupt zu so offenbaren Sünden kommen konnte, beweist, dass vorher das Herz schon gegen die Stimme des Geistes und die brüderlichen Ermahnungen verhärtet, dass die Wurzel, welche so böse Früchte hervorbrachte, nicht erkannt und gerichtet war. Sobald aber eine förmliche Trennung nötig geworden und vollzogen ist, so kann die Versammlung nichts mehr für einen solchen tun, als fortfahren, das Erbarmen des Herrn über ihn herabzuflehen. Vielleicht bringt die Trennung von aller christlichen Gemeinschaft, die Entfernung aus dem Haus Gottes ihn zum Bewusstsein seiner Entfernung von Gott und zur wahren Zerknirschung seines Herzens. Paulus überlieferte im Namen Jesu Christi und in Gemeinschaft mit der Versammlung den Hurer zu Korinth dem Satan zum Verderben des Fleisches, auf dass der Geist am Tag des Herrn Jesus gerettet würde; und wir wissen, dass er auf diesem Weg später wiederhergestellt wurde (vgl. 1. Kor 5,4–5 mit 2. Kor 2).

Der Fall in 1. Korinther 5 gibt uns ernste und beherzigenswerte Unterweisungen. Der Apostel sucht zunächst das Bewusstsein in der Versammlung wachzurufen, dass das in ihrer Mitte ausgeübte und offenbar gewordene Böse ihr Böses sei. „Es ist Hurerei unter euch ... und ihr habt nicht Leid getragen, auf dass der, welcher diese Tat begangen, aus eurer Mitte hinweggetan würde“ (V 1–2). „Wisst ihr nicht, dass ein wenig Sauerteig die ganze Masse durchsäuert?“ (V 6) Das in der Mitte der Versammlung zu Korinth ausgeübte Böse gab Zeugnis, dass der ganze Zustand derselben ein krankhafter war, so wie das Geschwür an einem Glied des Leibes auf den krankhaften Zustand des ganzen Leibes schließen lässt. Dieser Grundsatz ist in Bezug auf die Versammlung sehr zu beherzigen.

Die Versammlung zu Korinth war durch das in ihrer Mitte verübte Böse mitschuldig geworden und bedurfte der Reinigung. Es war ihr Böses, und sie trug kein Leid darum, sondern war vielmehr aufgeblasen (V 2). Das charakterisierte ihren ganzen Zustand. Wir sehen, welchen Ernst und Eifer der Apostel anwendet, um das Bewusstsein der Mitschuld in dem Gewissen der Versammlung hervorzubringen. Sie hatte zunächst nötig, ihre Schuld zu erkennen und sich zu demütigen und dann den Bösen aus ihrer Mitte zu entfernen. Nie kann sich die Versammlung ihrer Verantwortlichkeit bezüglich der Reinheit des Hauses entziehen und hat sich in jedem Fall mit der in ihrer Mitte begangenen Sünde in enge Verbindung zu setzen: entweder im Geist der Gnade vor Gott, wenn ihr Zustand ein guter und geistlicher ist, obwohl sie in der Wachsamkeit gefehlt haben mag, oder indem sie die Sünde als ihre eigene anerkennt und Leid trägt, falls ihr moralischer Zustand nicht besser ist, als der Zustand dessen, der das Böse begangen hat. Geschieht dies nicht, so ist sie unfähig, die Zucht auf eine dem Geist Christi angemessene Weise auszuüben. Sie mag es der Form nach tun und in einem richterlichen Geist verfahren, aber nie wird der Herr die Art und Weise ihres Verfahrens gutheißen, und sie selbst wird nach wie vor in einem krankhaften und unreinen Zustand bleiben; denn der krankhafte Zustand des ganzen Körpers wird nicht gebessert durch die Beseitigung eines örtlichen Übels. Die Versammlung hat vor allem sich selbst zu demütigen, ihre Schuld an dem in ihrer Mitte ausgeübten Bösen vor Gott zu bekennen und sich durch Selbstgericht davon zu befreien. Hieran erinnert der Apostel die Korinther, wenn er ihnen zuruft: „Und ihr seid aufgeblasen und habt nicht vielmehr Leid getragen.“ Wären sie geistlich gewesen, so würde der Gedanke an das Böse, das in ihrer Mitte einen solch hohen Grad erreicht hatte, ihre Herzen mit tiefem Kummer und Schmerz erfüllt haben, und der Böse wäre hinausgetan worden; allem ihr Zustand entsprach so wenig ihrer gesegneten Stellung in Christus, dass das Gefühl für seine Ehre und für die Reinheit seines Hauses fast ganz erloschen war.

Wir sehen ferner in 1. Korinther 5, wie sehr der Apostel bemüht war, sich bei Ausübung der Zucht aufs innigste mit der Versammlung zu verbinden (V 3–5). Dasselbe finden wir in seinem zweiten Brief bei der Niederaufrichtung des Gefallenen, als er aufrichtige Beweise von seiner Buße gab (Kap 2). In beiden Fällen handelte er in völliger Gemeinschaft mit der Versammlung. War er auch dem Leib nach abwesend, so war er doch dem Geist nach in ihrer Mitte; und auf diese Weise gegenwärtig, überliefert er, in Gemeinschaft mit ihnen, im Namen Jesu Christi den Bösen dem Satan, und vergibt später dem Reumütigen (V 10) „in der Person Christi“ und in Gemeinschaft mit der Versammlung. Satan war bemüht, zwischen Paulus und der Versammlung eine Trennung hervorzurufen: zuerst dadurch, dass er die Korinther gegen die Ehre Christi und die Reinheit seines Hauses gleichgültig machte, während Paulus für diese Ehre eiferte und die Reinheit des Hauses aufrecht zu halten trachtete, und später, als die Sünde zur Beschämung der Korinther vorhanden war, dadurch, dass er sie zu bewegen suchte, den Geist des Gerichts walten zu lassen, während Paulus nach der Gnade handeln wollte. Der Apostel erkannte die Absicht des Feindes, und, geleitet durch den Geist Christi, gelang es seinen Bemühungen, die Anstrengungen Satans zu nichts zu machen. Das Böse wurde entfernt, die Versammlung zum Bewusstsein ihrer Schuld und zur Demütigung gebracht und also das Haus gereinigt (2. Kor 7,8–11), der Geist der Gnade aufrecht gehalten und das Band der Einheit in Liebe bewahrt.

Durch sein Verhalten in diesen Umständen hat der Apostel uns eine höchst wichtige Unterweisung für alle Zeiten gegeben. Ist es nötig, dass jemand ausgeschlossen, oder, nachdem er gedemütigt ist, wieder ermuntert und aufgerichtet wird, so haben wir danach zu trachten, dass wir in Einmütigkeit handeln. Doch ist es selbstredend, dass diese Einmütigkeit nicht unter allen Umständen vorhanden sein muss; denn es könnte jemand aus irgendwelchem Grund eine offenbare Sünde unterstützen. In einem solchen Fall dürfte sich eine Versammlung nicht aufhalten lassen, die Zucht auszuüben; ja, es kann sogar nötig gefunden werden, sich auch von einem solchen zu trennen, da er sich durch sein Verhalten der Mitschuld teilhaftig macht. Doch kann es vorkommen, dass ein aufrichtiger Bruder ernste Bedenken hat, sich dem Urteil der Übrigen anzuschließen, und in einem solchen Fall ist es gewiss besser, mit dem Ausschluss zu zögern und den Willen Gottes in dieser Sache noch tiefer zu erforschen. In ähnlicher Weise haben wir zu verfahren, wenn es sich um die Wiederaufrichtung eines Gefallenen oder um Zulassung zur Gemeinschaft handelt. In keinem Fall dürfen persönliche Rücksichten uns leiten. Wir haben bei Ausübung der Zucht uns immer zu erinnern, dass es die Zucht „des Sohnes über sein Haus“ ist. Ebenso verwerflich ist der Eigenwille, der sich darin offenbart, dass jemand, wie es wohl vorkommt, sich selbst vom Tisch des Herrn zurückzieht, weil ihm diese oder jene Person nicht gefällt, an deren Bekehrung oder Aufrichtigkeit er vielleicht zweifelt. Ein solcher bedenkt nicht, welch eine Tragweite sein Verhalten hat: er schließt sich entweder selbst oder die ganze Versammlung aus. Solange aber eine Versammlung in ihrer Mitte das Böse nicht duldet, sondern Zucht ausübt, ist jede Absonderung von derselben ganz verwerflich und dem Geist Christi völlig zuwider: denn „ein Brot, ein Leib sind wir, die vielen, denn wir alle sind des einen Brotes teilhaftig“ (1. Kor 10,17).

Es ist nun zwar schon im Allgemeinen von dem Geist, in welchem die Zucht ausgeübt werden soll, die Rede gewesen, doch möchte ich hier, weil es von so unermesslicher Nichtigkeit ist, noch etwas spezieller darauf eingehen. Nichts ist unpassender und in dieser Zeit der Gnade und des Heils dem Geist Christi mehr zuwider, als wenn die Versammlung bei Ausübung der Zucht gleichsam einen Gerichtshof darstellt, vor dem der Schuldige zu erscheinen und sein Urteil anzuhören hat. Nichts sollte uns mehr widerstreben, als die Angelegenheiten im Haus Gottes auf eine richterliche Weise zu behandeln, wobei die Gnade und Liebe, die Quelle unseres Lebens, mehr oder weniger bei Seite gesetzt werden. Wenn die Ausübung der Zucht in diesem Haus nötig ist, so sollte es nie anders als im tiefsten Mitgefühl und in der innigsten Verbindung mit dem geschehen, der gesündigt hat. Die Versammlung sollte mit Beschämung anerkennen, dass das Böse in ihrer Mitte ausgeübt worden; alle sollten tief fühlen, dass einer von ihnen diese schlechte Tat begangen hat. Zudem ist das in ihrer Mitte offenbar gewordene Böse nicht selten, wie in Korinth, ein sprechender Zeuge von dem traurigen Zustand der ganzen Versammlung. Vielleicht hat die Wachsamkeit und die Nüchternheit im Gebet sehr nachgelassen, vielleicht ist der Eifer für den Herrn und für die Reinheit seines Hauses erschlafft und die Liebe erkaltet, und Gleichgültigkeit und Weltlichkeit haben die Lücke im Herzen ausgefüllt. Und ach, in einem solchen Zustand sind wir nur zu geneigt, andere zu richten und uns selbst zu vergessen. Aber ein solches Gericht wird nur zu unserem eignen Schaden ausschlagen; es gilt uns das Wort: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet; denn mit welchem Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden usw“ (Mt 7,1–2). In einem solchen Zustand gibt es nur einen Ausweg für die Versammlung: aufrichtiges Selbstgericht. Das in ihrer Mitte offenbar gewordene Böse wird zu ihrem Heil ausschlagen, wenn sie darin ihren traurigen Zustand erkennt, sich über das Böse, als das ihrige, vor Gott anklagt und demütigt. Geschieht diese Demütigung mit Aufrichtigkeit des Herzens, so bringt sie einerseits immer ein tiefes Mitgefühl mit dem Sünder hervor, aber andererseits Abscheu wider die Sünde, Kummer und Trauer über ihr Vorhandensein, Scham und Reue vor dem Herrn, und ein inniges Verlangen nach der Reinheit seines Hauses. Nur unter solchen Gefühlen kann die Zucht dem Geist Christi gemäß ausgeübt und der Böse, wenn es nötig ist, aus der Mitte der Versammlung hinweggetan werden, aber dann hat ein solcher Akt, so betrübend er auch immerhin ist, nichts von dem Charakter eines Gerichtshofs, obwohl die Gerechtigkeit gehandhabt wird. Die Liebe eifert stets für das Gute; „sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit.“ Wenn sie um des Guten willen gezwungen ist, mit einem heiligen Ernst gegen den zu handeln, der sich zum Bösen wendet, so tut sie es immer mit dem zärtlichsten, innigsten Mitgefühl; nichts liegt ihr ferner als ein kalter richtender Geist, der nur an sich selbst denkt und seine eigene Ehre sucht.

Es ist ebenso verwerflich, die Ausübung der Zucht als ein der Versammlung eingeräumtes Recht zu betrachten. Dass sie notwendig ist, ist ein klares Zeugnis unserer Schwachheit, aber nie wird ein wahrhaft geistlicher Christ ihre Ausübung als ein ihm verliehenes Recht beanspruchen: er wird sie nur als eine Pflicht erkennen, als eine ernste Pflicht, der er sich, so schwer es ihm auch fallen mag, um der Ehre des Herrn und seines Hauses, sowie um der Heiligen selbst willen, nicht entziehen darf. Die Zucht hat, wie wir gesehen haben, den Zweck, die Heiligen vor dem Bösen zu bewahren, die Reben zu reinigen, dass sie mehr Frucht bringen, dann aber auch, das Haus selbst rein zu erhalten und das vorhandene Böse hinweg zu tun, damit dieses Haus dem Charakter dessen entspreche, der es besitzt. Doch nie darf die Zucht als eine Sache des Rechts, nie als ein Akt betrachtet werden, worin Sünder Sünder richten, sondern als ein Dienst, der durch die Wirksamkeit des Geistes Christi im Haus Gottes ausgeübt wird, für dessen Reinheit ein jeder in seinem Maß verantwortlich ist. Dieser Dienst wird aber stets mit Kummer und Schmerz begleitet sein, besonders wenn es nötig wird, die ergreifendste aller Pflichten im Haus Gottes zu erfüllen, nämlich irgendein Glied desselben der Sünde wegen hinaus tun zu müssen. Wir wissen, dass es unsere Pflicht ist, dass der Herr es will, und dass wir im Namen Jesu versammelt sind und handeln, aber dies Bewusstsein, obwohl es unsere Herzen im Blick auf unsere Handlung völlig beruhigt, kann nicht die Betrübnis bezüglich der Sache selbst wegnehmen. Würden nicht, falls ein Familienglied eine böse, das ganze Haus entehrende Handlung begangen hätte, alle die übrigen Glieder der Familie ganz traurig und niedergeschlagen sein? Würde irgendeiner unter ihnen gleichgültig und teilnahmslos bleiben können? Oder wenn etwa ein böser, ungeratener Sohn, bei dem alle angewandten Mittel zur Besserung wirkungslos geblieben waren, aus Liebe zu den Übrigen, die in Gefahr ständen, durch das Böse beeinflusst zu werden, aus dem Familienkreis ausgeschlossen und entfernt werden mühte – würden dann nicht alle Herzen der Übrigen mit dem größten Schmerz erfüllt sein? Würde es nicht ein Gegenstand der Tränen und des Kummers, der tiefsten Zerknirschung und Scham der ganzen Familie sein? Gewiss, man würde nicht anders daran denken und davon reden können als mit beschwertem und tiefbetrübtem Herzen, wenn anders das Band der Liebe vorhanden wäre. Sollte es nun im Haus Gottes, wo die Liebe Christi die Herzen verbindet, anders gefunden werden? Sollte unser Schmerz ein geringerer sein, wenn irgendein Glied, zum Wohl der Übrigen, aus dem Haus Gottes ausgeschlossen werden muss? Ach, leider ist dies nur zu oft der Fall, und gerade dieses sollte die tiefste Demütigung in uns wachrufen. Die Ausübung der Zucht als eine Rechtssache oder als ein uns zustehendes Recht zu betrachten und zu behandeln, ist eine Unehre für den Herrn, der in unserer Mitte ist, wenn wir in seinem Namen versammelt sind, ein Betrüben des Geistes, der in uns wohnt und uns leitet, und eine Verletzung der Gnade und Liebe, der wahren Quelle eines jeden Dienstes in der Versammlung. Möge der Herr uns vor einer solchen Gesinnung bewahren und, wenn sie in irgendeiner Weise vorhanden sein sollte, uns völlig davon befreien!

Wenn wir uns mit Ausübung der Zucht beschäftigen, so haben wir es stets in einem priesterlichen Geist zu tun. Das Verhalten der Priester beim Darbringen der Sündopfer für die Gemeinde liefert uns hierin ein bemerkenswertes Vorbild. Es wurde ihnen geboten, die Sündopfer zu essen (3. Mo 10,17–18), d. h. sich völlig eins zu machen mit dem für die Sünde dargebrachten Opfer, d. i. mit der Sünde selbst. Und das ist es gerade, was wir als Priester vor Gott zu tun haben. Wenn ein Einzelner oder die Versammlung, ihrer Pflicht gemäß, an einem Bruder, der gesündigt hat, Zucht ausüben will, so ist es zunächst nötig, sich durch den priesterlichen Dienst zu dieser Handlung vorzubereiten, sich in Gnade vor Gott mit der Sünde eins zu machen. Dies ist aber etwas ganz anderes, als wenn die Versammlung selbst in einem schlechten Zustand ist und die in ihrer Mitte offenbar gewordene Sünde als ihre eigene Schuld anzuerkennen und sich vor Gott zu demütigen hat, um selbst gereinigt zu werden. Ich kann mich nur dann in einem priesterlichen Geist mit der Zucht beschäftigen, wenn mein eigenes Gewissen vor Gott rein ist. Nur in diesem Fall kann ich mich im Geist der Gnade in der Gegenwart Gottes mit der Sünde meines Bruders eins machen und sie bekennen und richten, als hätte ich sie selbst begangen. Ich flehe Zugleich für den, der vielleicht in großer Gleichgültigkeit dahingeht, um Erbarmen und Gnade. In diesem Geist handelte Daniel (Kap 9), als er seine Sünde und die seines Volkes Israel vor Jehova bekannte. Persönlich völlig schuldlos an der Gefangenschaft seines Volkes und beharrlich treu in seinem ganzen Wandel, machte er sich in seinem Gebet und Flehen, in seinem Bekenntnis vor Jehova doch völlig eins mit der Sünde seines Volkes. „Wir haben gesündigt und Unrecht getan und gesetzlos gehandelt und uns empört und sind abgewichen von deinen Geboten und deinen Rechten. Und wir haben nicht gehört auf deine Knechte, die Propheten ... die Beschämung des Angesichts ist unser ... denn wir haben uns empört wider dich usw“ (V 5–6.8–9). Dieses Gebet zeigt uns den wahren priesterlichen Geist, der uns befähigt, die Zucht auf eine Gott wohlgefällige Weise auszuüben und der den Einzelnen wie die Versammlung davor bewahrt, im Haus Gottes in richterlicher Weise zu verfahren. Aber ach, wie wenig offenbart sich dieser Geist unter uns in diesen Tagen der Schwachheit und des Verfalls, wo er doch in ganz besonderer Weise Not tut!

Es gab aber noch eine andere Sache, die mit dem priesterlichen Dienst in Verbindung stand. Wir lesen in 3. Mose 10,9–10: „Und Jehova redete zu Aaron und sprach: Wein und starkes Getränk sollst du nicht trinken, du und deine Söhne mit dir, wenn ihr ins Zelt der Zusammenkunft eingeht, auf dass ihr nicht sterbt – eine ewige Satzung bei euren Geschlechtern – und um zu unterscheiden zwischen dem Heiligen und Unheiligen und zwischen dem Reinen und Unreinen usw.“ Die Priester sollten alles vermeiden, was die Sinne erregte, um stets mit wahrer Nüchternheit und Besonnenheit unter dem Reinen und Unreinen unterscheiden zu können; ihr ganzer Zustand musste dem Heiligtum, worin sie ihren Dienst verrichteten, entsprechen. Ebenso haben auch wir uns von allem in dieser Welt zu enthalten, was irgendwie unser geistliches Urteil beeinflussen könnte. Nur in wahrer Absonderung von der Welt und ihrem Wesen und in Gemeinschaft mit Gott, in Gemeinschaft mit seinen Gedanken und Absichten sind wir praktisch fähig, jeden uns anvertrauten Dienst im Haus Gottes auszuüben, fähig, zwischen dem Reinen und Unreinen zu unterscheiden. Möchten wir dies doch stets beherzigen! Der Herr aber möge alle die Seinen immer mehr zubereiten, die Zucht in seinem Haus zu seiner Ehre und zum Besten der Seinen auszuüben. Er lasse in seiner Gnade auch dieses Schriftchen dazu gesegnet sein!

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