Botschafter des Heils in Christo 1877

Völlige Hingabe

Man muss die Erfahrungen in Jona 4 kennen gelernt haben, um die Erfahrungen in Philipper 1 machen zu können. In Jona finden wir, dass es ein zweifacher Tod ist, durch welchen die Seele gehen muss, für die „das Leben Christus“ ist. Zunächst ist es der Tod in Bezug auf uns selbst, und dann der Tod bezüglich alles dessen, was um uns her ist. Marta und Maria liefern uns in dieser Beziehung ein klares Beispiel.

Jesus unterhält sich mit der Einen und wandelt mit der Anderen dieser beiden Schwestern. Er redet mit Marta; Er weint mit Maria. Er wird mit allen Gläubigen reden; aber es gibt nur wenige, mit denen Er wandelt. Beides finden wir in Hebräer 4. Dass Er zu uns redet, sagen uns die Worte: „Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer denn jegliches zweischneidige Schwert, und durchdringend bis zur Zerteilung der Seele und des Geistes, sowohl der Gelenke als des Markes, und ein Richter der Gedanken und Gesinnungen des Herzens.“ Und sein Wandeln und Weinen mit uns zeigen uns die Worte: „Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht Mitleiden haben kann mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise, ausgenommen die Sünde. Lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe.“ Wir müssen Ihn kennen gelernt haben auf dem Weg des Todes, bevor Er zu uns sagen kann: „Ich will mit euch gehen.“ Auf diesem Weg lernte Maria Ihn kennen: und also wurde sie fähig gemacht für seine Gemeinschaft. Es war zuerst Mitgefühl, dann Gemeinschaft; und also muss es immer sein.

Hier haben wir den Unterschied zwischen dem, was Sympathie oder Mitgefühl, und dem, was Gemeinschaft ist. Es ist Sympathie, wenn Er sich mir in meinen Umständen zur Seite stellt; es ist Gemeinschaft, wenn ich an die Seite des Herrn trete. Wir müssen sein Mitgefühl kennen, bevor wir seine Gemeinschaft genießen können. Habe ich jemanden, der mich auf meinem Weg begleitet und wird mein Herz durch ihn gebildet, so dass seine Gedanken mich erfüllen, so ist das Gemeinschaft.

Es ist wunderbar zu sehen, dass der Tod, der als eine schreckliche Schmach auf uns lastete, von Gott zu einer Tür umgewandelt ist, durch welche uns so mannigfache Segnungen zugeführt werden. Es ist für die Seele oft sehr schwierig, den Tod von dieser Seite zu betrachten; und dennoch muss ich Christus in dem Tod alles dessen, was mir lieb ist, kennen lernen, bevor ich fähig bin, mich Ihm ganz zu widmen.

In dem Alten Testament finden wir mehrere Beispiele dieser Art. Jonatan erblickt den David, der ein schönes Bild von Christus ist. Es gibt für die Seele drei Stufen, um zur wahren Freiheit zu gelangen. David geht dem Feind entgegen, und Jonatan ist in ängstlicher Spannung zu erfahren, wie der Kampf ablaufen wird. Dann sieht er den Goliat am Boden liegen, und ist voll Hoffnung. Endlich erblickt er das Haupt Goliats in der Hand Davids, und ist in völliger Ruhe. Jetzt folgt die Anwendung. Jonatan denkt weder an sich selbst, noch an Goliat, sondern ist mit David beschäftigt. David war der einzige Gegenstand vor seinen Augen. „Jonatan liebte ihn wie seine Seele. Und er zog das Oberkleid aus, das er anhatte, und gab es David, und seinen Rock bis auf sein Schwert und seinen Bogen und seinen Gürtel“ (1. Sam 18,4). – Er tat dieses vor den Augen des ganzen Heeres; denn seine Gedanken waren nur auf David gerichtet, und darum widmete er sich ihm ganz und gar.

In Rut finden wir ein zweites Beispiel. Sie ist eine Witwe, und Noomi, ihre einzige Freundin, ist ebenfalls eine Witwe. Diese besteht darauf, dass ihre Schwiegertöchter sie verlassen; aber Rut sagt: „Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, hinter dir weg umzukehren: denn wohin du gehst, will ich gehen, und wo du weilst, will ich weilen: dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott; wo du stirbst, will ich sterben und daselbst will ich begraben werden. So soll mir Jehova tun und so fortfahren; nur der Tod soll scheiden zwischen mir und dir“ (Rt 1,16–17). Das war wahre Widmung; sie folgt ihrer Schwiegermutter Noomi überall.

Ebenso kann ich auf zwei Beispiele im Neuen Testament hinweisen, nämlich auf die beiden Älabasterfläschchen. In Lukas 7 ist es eine Sünderin, die zerknirschten Herzens in das Haus eines Pharisäers kommt und dort ihren Heiland findet. Sie steht weinend hinten zu seinen Füßen; und das ist das Persönliche, welches allein zwischen Ihm und ihr vorgeht. Dann beginnt sie, „Seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit ihren Haaren abzutrocknen, und sie mit der Salbe zu salben;“ das ist es, was allgemein und offenbar ist. Sie opfert Ihm das, was sie für sich selbst hätte behalten können. So handelt die Liebe stets; sie denkt nicht an sich, sondern beschäftigt sich mit ihrem Gegenstand.

Die zweite Alabasterflasche finden wir in Johannes 12. Lazarus war gestorben und wieder auferweckt; er sitzt nun mit dem Herrn beim Abendessen, während Marta dient. „Da nahm Maria ein Pfund Salbe von unverfälschter, sehr kostbarer Narde und salbte die Füße Jesu und trocknete seine Füße mit ihren Haaren. Das Haus aber ward von dem Geruch der Salbe erfüllt.“ Warum tat sie dieses? Warum nahm sie das Kostbarste, was sie besah, um es über Ihn auszuschütten? Es geschah, weil Er ihr Herz in jener Stunde erquickt hatte, als der Tod ihr das entrissen, was ihrem Herzen am teuersten auf dieser Erde gewesen war. Und jetzt, nachdem die finstere Wolke vorübergezogen und ihr geliebter Bruder wieder auferweckt worden war, tritt sie mit ihrer kostbaren Salbe vor Ihn hin, und zwar umgeben von Gläubigen, und nicht, wie jene Sünderin, von der Welt. Diese hatte vor den Augen des Pharisäers ihren Gefühlen Ausdruck gegeben; denn die Welt kann es sehen, wenn eine Seele bekehrt wird und ihren Erretter und Heiland hochschätzt. Aber Maria befindet sich in der Umgebung von Gläubigen – denn die Welt wird es nimmer wertschätzen und ihr Auge darauf richten, wenn ein Gläubiger nichts aus sich selber macht und alles, was für die Natur einen Wert hat, gleichsam auf dem Grab Jesu ausschüttet.

Wie sträubt sich die Natur, wenn der Tod seine kalte Hand auf etwas legt, womit sie sich verbunden fühlt, und dennoch kann niemand wissen, was Christus persönlich ist, bis er mit Ihm durch den Tod gegangen ist, bis er gelernt hat zu sagen: „Ich habe nichts als Christus.“ Wir alle haben irgendwelche Bande auf Erden, irgendwelche Genüsse hienieden. Keiner von uns wird es gleichgültig ansehen, wenn er alles dessen, was er liebt, beraubt wird; wir sind nicht fähig, ohne einen Wunderbaum zu sein. Selbst für den Apostel Paulus war Jerusalem ein solcher Wunderbaum.

Ich erinnere mich einer Frau, die mir von einer Zeit erzählte, in welcher sie nicht das Geringste besessen habe, um die Bedürfnisse der Ihrigen stillen zu können; und sie sagte: „Das war der glücklichste Augenblick meines Lebens.“ – „Nie war das möglich?“ fragte ich. „Nun“, antwortete sie, „war es denn nicht eine Ehre für mich, dass der Herr mein Vertrauen zu seiner Güte stärkte?“

Der Wunderbaum war für Jona in der Tat ein Gegenstand, der ihm angenehm war und zu seinem Trost diente; und da Gott einen Wurm bestellte und den Wunderbaum verdorren ließ, so hören wir ihn murrend sagen: „Es ist mir besser zu sterben, denn zu leben.“ Die Schrift verblümt die Dinge nicht; sie teilt uns unverhohlen die einfache Wahrheit mit. Dein Mund kann vielleicht die herrlichsten Dinge hersagen, und dabei Zugleich dein Herz so unmutig als nur möglich sein. Jona sagt: „Billig zürne ich bis zum Tod.“ Aber wie Gott das Herz dieses Propheten zubereiten wollte, so sagt Er auch zu dir: „Ich führe dich durch alle diese Umstände in der Absicht, damit du meine eigenen Gefühle kennen und verstehen lernst.“

Der Tod ist in der Tat für die Gläubigen von den reichsten Segnungen begleitet, nicht allein für diejenigen, welche durch denselben aus dieser argen Welt hinweggenommen werden, sondern auch für uns, die wir zurückbleiben und uns dessen beraubt sehen, woran unser Herz hängt. Ich muss nun anstatt dessen, was Gott mir genommen hat, Christus zu finden lernen. Gott führt uns in seine eigenen Gefühle. Er sagt: „Du sprichst über deinen Wunderbaum; warum gehst du nicht in meine Gefühle ein?“ Er nahm den Wunderbaum hinweg, um Jona in seinen eigenen Gedankengang zu leiten. Er wollte ihm zeigen, mit welchen Gedanken sein Herz in Bezug auf Ninive erfüllt war. Der Prophet sollte diese Gedanken mit Ihm teilen. Das ist wahre Gemeinschaft mit Gott.

Ich sage nicht, dass du dieses stets auf dem Weg der Trübsal, durch Verluste lernen musst; denn ich glaube, dass der Tisch des Herrn der Platz ist, um dergleichen zu lernen. Hier führt mein Weg durch den großen Tod, der ja über mich gekommen ist – durch den Tod Christi. Ich durchschreite diese Welt wie jemand, an welchem der Tod das schlimmste vollbracht, aber welchem der Tod zu gleicher Zeit die wunderbarste Person offenbart hat. Ich habe Gemeinschaft mit dem Blut und mit dem Leib Christi.

Geistliches Wachstum geht stets Hand in Hand mit natürlicher Erniedrigung, während natürliches Wachstum stets mit äußerer Erhebung gepaart geht. Als z. B. der Herr mit Jakob rang, und dieser einen großen Segen empfing, wurde dieser ein Krüppel, während Lot, bei welchem man eine natürliche Zunahme gewahrte, nach außen sich erhob. Wenn der Herr mir ein Kind durch den Tod hinwegnimmt, so hat Er mein geistliches Wachsen im Auge; aber ich werde gedemütigt.

Ich kann in Wahrheit den Herrn nicht in dem, was Er ist, kennen lernen, bevor ich ganz allein auf Ihn geworfen bin. Das ist in der Tat die Kraft der Worte in Psalm 73: „Wen habe ich im Himmel? und neben dir habe ich an nichts Lust auf der Erde.“

Müssen wir denn alles verlieren? O nein; denn Gott weiß, was für mich das Beste ist, um es zu besitzen; Er lässt mir das, was ich haben muss. Wenn Er mir aber das wegnimmt, was ich liebe, so geschieht es nur, damit ich in Christus etwas entdecken soll, das mir bisher verborgen war.

Wenn man an Rut die Frage gerichtet haben würde: „Warum folgst du der armen, alten Witwe?“ – so würde sie sicher geantwortet haben: „Ich habe in den Stunden der Trübsal in ihr etwas gefunden, was ich sonst nirgendwo gefunden habe. In einer Zeit, wo niemand für mich sorgte, stand sie mir zur Seite. Sie ist meine Stütze, meine Hilfe, mein Trost, die Freundin meiner Seele gewesen; darum fühlt sich mein Herz auch mit ihr verbunden; ich werde sie nimmer verlassen.“

Als Maria die Füße des Herrn salbte, befand Er sich auf dem Weg, in den Tod zu gehen. Darum war für sie nichts zu kostbar, um es in sein Grab zu werfen. Es ist eine Tatsache, dass wir nie in die Nähe Jesu kommen, ohne seinen Tod zu sehen. Wenn Johannes seinen Blick zur Herrlichkeit richtet, so erblickt er „inmitten des Thrones ein Lamm wie geschlachtet.“ Er, der sich inmitten des Thrones befindet, ist derselbe, der alles zwischen uns und Gott in Ordnung gebracht hat; und das ist es, was die Schrift uns vorstellt.

Es gibt eine natürliche Furcht vor dem Tod; und doch stellt Gott alles, was groß und wahr ist, durch denselben ins Licht. Wenn ich auf den Tod des Herrn sehe, dann muss ich sagen: „Dieser Tod fand statt, damit Gott sagen konnte: Nun führe ich einen Menschen ein nach meinen eigenen Gedanken und nach meinem eigenen Herzen.“

Wir müssen Jona als einen bekehrten Menschen betrachten. Gott gibt ihm einen Auftrag; aber er führt ihn nicht aus. Was anders blieb daher dem Herrn übrig, als den Willen seines Knechtes zu brechen? Jona beharrt in seinen eigenen Wegen, und anstatt sich in günstige Umstände zu bringen, findet er seinen Platz auf dem Grund des Meeres. Hier findet die Wiederherstellung seiner Seele statt; und aus Befehl Gottes geht er aus, um der gottlosen Stadt Ninive ihren Untergang anzukündigen. Da aber die Einwohner der Stadt Buße taten und es Gott „reute des Übels, das er geredet, ihnen zu tun“, da wurde Jona zornig und rief: „Ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und von großer Güte, und der sich des Übels reuen lässt.“ Und er setzte sich nieder, um zu sehen, was aus der Stadt werden würde. Doch jetzt musste er lernen, dass er nichts habe, außer dem Herrn, worauf er sein Vertrauen setzen könne. Der Wunderbaum schwand, und das war der Weg, um ein völlig abhängiger Arbeiter des Herrn zu werden und Gemeinschaft machen zu können mit Ihm, der „gnädig und barmherzig und von großer Langmut“ ist. In dieser Stellung ist eine wahre Widmung des Herzens möglich.

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