Botschafter des Heils in Christo 1877

Die beiden Schwestern von Bethanien

Marta

Wie lieblich ist der Eindruck, den die Familie zu Bethanien auf uns macht! Mit welcher Liebe wird der Herr dort empfangen, und wie gern verweilt Er dort! Nähere Bekanntschaft mit den Gliedern dieser Familie zu machen, wird sicher für uns von Nutzen sein. Denn wiewohl alle den Herrn Jesus herzlich liebten, und alle vollkommen von Ihm geliebt wurden, so finden wir hier doch in Bezug auf den Charakter und das geistliche Leben einen großen Unterschied. Der Heilige Geist zeigt uns diesen Unterschied in einzelnen treffenden Zügen. In einer Weise, wie nur Gott dieses vermag, wird uns der Charakter und der geistliche Zustand einer jeden Seele vor Augen gestellt. Hier gibt es viel für uns zu lernen. Manches beschämende Wort wird hier unser Ohr berühren. Manche herrliche Tröstung wird uns hier zu Teil werden.

Marta scheint die Hauptperson in diesem Haus gewesen zu sein. Auf ihr ruhte die Sorge und die Verwaltung der Hauswirtschaft. Das Haus wird das ihrige genannt. Wir lesen in Lukas 10,38: „Und ein gewisses Weib, Namens Marta, nahm Ihn in ihr Haus auf.“ Dieses kennzeichnet Marta sofort. Sie fühlte sich zu Jesu hingezogen; sie liebte Ihn; sie setzte einen hohen Wert auf seine Gesellschaft. Sie öffnete Ihm ihr Haus, und zwar zu verschiedenen Malen. Sie empfing Ihn nicht kalt und förmlich, sondern mit der größten Herzlichkeit und Zuneigung. Sie hatte für Ihn alles übrig. Was ihr Haus zu liefern vermochte, wurde für den Herrn zubereitet. Wir lesen: „Marta aber war sehr beschäftigt mit vielem Dienen.“ Sie wollte es ihrem Gast so angenehm wie möglich machen. Als tätige Hausfrau bot sie alles auf, um seine Bedürfnisse zu stillen: und ganz erfüllt mit ihrem Dienen, konnte sie es sich nicht erklären, wie ihre Schwester Maria, ohne ihr hilfreiche Hand zu leisten, so ruhig zu den Füßen Jesu sitzen konnte. Man urteile nicht zu hart über sie. Freilich war es offenbar, dass sie nicht das in Jesu gefunden hatte, was Maria in Ihm fand. Wohl war ihr ganzes Sinnen mehr darauf gerichtet, den Herrn zu bedienen, als auf seine Unterweisungen zu lauschen. Aber nichtsdestoweniger war ihr Dienen ein herrlicher Beweis ihrer Liebe zu Jesu. Der Herr selbst erkannte dieses an. Hätte nicht sie das Benehmen Marias getadelt, so würde Er sie sicher ruhig haben arbeiten und dienen lassen. Oder gab es etwa nichts zu ordnen, da Jesus in ihrem Haus eingekehrt war? Mussten keine Erfrischungen angeboten, musste keine Mahlzeit zubereitet werden? Ganz sicher. Und dass sie dieses mit solchem Eifer tat, lieferte einen Beweis, wie sehr sie für ihren Gast eingenommen war. Und dass der Herr sich in ihrem Haus wohlfühlte und gern daselbst verweilte, wird durch die mehrmalige Wiederholung seines Besuches bewiesen.

Dieses alles ist schön und lieblich. Der Herr Jesus ist es wert, dass wir alles für Ihn übrighaben. Für Ihn muss keine Mühe zu groß, keine Arbeit zu schwer sein. Wir können viel von Marta lernen. Ach, wir sind oft so kalt, so abgeschlossen, so karg. Etwas für Ihn zu tun, fällt uns oft so schwer. Für unseren eigenen Genuss tun wir manchmal so viel: aber für Ihn? – Ach, vor Scham müssen wir unser Antlitz verhüllen. Es fehlt uns nicht an Zeit, wenn es sich um uns oder um unsere Angelegenheiten handelt, wir scheuen keine Mühe und Arbeit, um für unsere Bequemlichkeit und unsere Vergnügungen Sorge zu tragen. Aber wie oft ziehen wir uns zurück, wenn etwas für den Herrn geschehen soll! Es ist wahr, Marta legte ein großes Gewicht auf ihr Dienen; sie fand ihr Tun viel wichtiger, als das, was Maria tat: und dieses war sicher nicht gut: hierin täuschte sie sich. Aber wie oft geschieht es, dass man diese Verirrung Martas benutzt, um sich dem Dienst Jesu zu entziehen! Mancher legt ruhig die Hände in den Schoß und entschuldigt sich gar, wenn seine Hilfe angesprochen wird, mit dem Gedanken, dass in dem Dienen und Wirken nicht viel stecke, und dass man dadurch leicht in Gefahr komme, sich selbst zu suchen und hochmütig zu werden. Wein man vergisst, dass die Liebe zum Herrn uns nimmer zum Nichtstun, wohl aber zur Tätigkeit anspornt. Besorgt zu sein, dass man in der Arbeit sich selbst suche, ist gut: aber aus wahrhaftiger Liebe zum Herrn zu wirken, ohne sich selbst zu suchen, ist besser. Und Marta in ihrem Eifer, in ihrem Beschäftigtsein mit vielem Dienen, steht in der Tat weit erhaben über jemandem, der aus kalter Berechnung die Hände in den Schoß legt. Bei ihr war, mochte auch fremdes Feuer auf dem Altar sein, die Liebe zum Herrn, die Zuneigung zu seiner Person die Triebfeder, während bei Letzterem zu fürchten ist, dass weit eher die Eigenliebe, als die Liebe zum Herrn das Herz beherrscht.

Marta war ein gläubiges Weib. Dieses wird zuweilen bezweifelt. Man hat die Worte des Herrn: „Marta, Marta, du bist besorgt und beunruhigt über viele Dinge; eins aber ist Not; Maria aber hat das gute Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden wird“ – oft so gedeutet, als ob der Herr hatte sagen wollen: „Maria hat mich lieb und glaubt an mich, während du, Marta, dich nur mit äußeren Dingen beschäftigst.“ Doch hierin hat man sich gründlich getäuscht. Der Unterschied zwischen Maria und Marta bestand nicht darin, dass die Eine glaubte und die Andere ungläubig war, dass die Eine den Herrn liebte und die Andere nicht. O nein, in diesen Punkten standen sie sich gleich. Beide glaubten an Jesus, beide liebten Ihn von Herzen, beide hatten alles für Ihn übrig. Der Heilige Geist hat Sorge getragen, dass hier kein Zweifel obwalten kann. Man lese nur in Johannes 11 die Geschichte der Auferweckung des Lazarus, und man wird völlig davon überzeugt werden. Oder waren es nicht die beiden Schwestern, die jene rührende, vom festen Vertrauen auf Jesu Liebe zeugende Botschaft zu dem Herrn sandten: „Herr, siehe, den du liebhast, ist krank.“ Eilte Ihm Marta nicht sofort entgegen, als sie hörte, dass Jesus sich dem Dorf nahe? Hören wir nicht aus ihrem eigenen Mund das schöne Bekenntnis ihres Glaubens an Ihn: „Ja, Herr, ich glaube, dass du bist der Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen sollte?“ Und es ist, als ob der Heilige Geist unserer falschen Vorstellung von Marta zuvorkommen wollte; denn Er sagt: „Jesus aber liebte die Marta und ihre Schwester und den Lazarus“ (V 5) und räumt ihr dabei in einer in die Augen fallenden Weise den ersten Platz ein. Der Unterschied zwischen Maria und Marta besteht also nicht darin, dass die Eine glaubte und die Andere nicht, dass die Eine den Herrn liebte und die Andere nicht, sondern darin, dass Maria die Unterweisung Jesu über alles stellte, während Marta auf ihren Dienst den höchsten Wert setzte. Das gute Teil, welches sich Maria erwählt hatte, war das Sitzen zu den Füßen Jesu und das Lauschen auf seine Worte.

Marta war eine Gläubige und liebte den Herrn von Herzen; aber sie war eine Seele, die mehr mit sich, als mit Jesu beschäftigt war. Sie dachte mehr an ihren Dienst, als an den Herrn; sie war von sich eingenommen. Darum konnte sie das Tun ihrer Schwester nicht ertragen, sondern ärgerte sich daran. Sie machte von ihrer eigenen Tätigkeit viel Aufhebens und glaubte sich dadurch in Gunst zu setzen; und Maria stellte sich ihr nicht helfend zur Seite und bezeugte dadurch stillschweigend, dass sie die Unterweisungen Jesu viel hoher achtete, als alle Dienstleistungen der Marta. Es ist daher begreiflich, dass Marta ihren Unmut nicht länger zurückhalten konnte. Sie hatte doch die Meinung von sich, dass sie es so gut meine. Dass sie voll Eigenliebe sei und sich selbst suche, daran dachte sie nicht im Entferntesten. Alles, was sie verrichtete, tat sie ja für den Herrn. Allein sie kannte sich selbst nicht und wusste nicht, was in ihrem Herzen war. Die Umstände stellten dieses ins Licht. Hätte sie wirklich nur um Jesu willen gedient, so würde keine Bemerkung über ihre Lippen gekommen sein. Sie wäre in der Erfüllung ihres Beruft glücklich gewesen und hätte sich um Maria nicht bekümmert. Aber da es nicht also war, konnte sie es auch nicht ertragen, dass all ihre Sorge und Mühe so zu sagen unbemerkt blieben. Viele Gläubige gleichen der Marta. Sie sind sehr beschäftigt mit vielem Dienen. Sie predigen, sie machen Besuche, sie schreiben, sie teilen Traktate aus, sie halten Sonntagsschule. Voll Eifer verrichten sie ihre Arbeit. Sie gönnen sich keine Ruhe und machen sich viele Sorge und Unruhe. Sie meinen es wirklich gut; und was sie tun, geschieht nach ihrer Meinung aus reiner Liebe zum Herrn. Allein sie kennen sich selber nicht. Sie wissen nicht, dass ihr Auge mehr auf ihre Arbeit, als auf Jesus gerichtet ist, dass sie mehr denken an das, was sie tun, als an das, was Er getan hat. Gar oft tritt dieses ans Licht. Spricht man mit ihnen über christliche Tätigkeit, so sind sie sofort voll Feuer; man kann ganze Abende in dieser Weise mit ihnen zubringen: sie sind unerschöpflich in ihren Mitteilungen. Aber man nehme die Bibel zur Hand und spreche über einen Abschnitt, man suche die darin verzeichneten herrlichen Wahrheiten darzustellen, oder man rede über die Herrlichkeit Jesu und über die Glückseligkeit seiner Gemeinschaft, und sofort ist ihr Mund geschlossen; sie werden nicht selten ungeduldig; sie suchen dem Gespräch eine andere Wendung zu geben und dasselbe wieder auf den ihnen liebgewordenen Gegenstand zurückzuführen. Es ist selbstredend, dass solche Gläubige, gleich der Marta, über andere, die nicht einen solchen Diensteifer zeigen, sondern sich vor allem zuerst zu den Füßen Jesu niedersetzen, um auf seine Worte zu lauschen, ein tadelndes Urteil aussprechen. Ja, diese Christen sind jenen oft ein Ärgernis. Auch dieses wird nicht selten durch die Umstände offenbar. Ich habe Gläubige gekannt, die mit allem Eifer und Feuer in ihrer Arbeit lebten, die sich sehr glücklich darin fühlten und stets heiter und aufgeräumt waren, die aber durch den Herrn eine Zeitlang aufs Krankenbett niedergelegt wurden und mithin ihre Arbeit einstellen mussten, und die dann all ihr Glück und ihr Aufgeräumtsein verloren hatten und eine unerklärbare Leere bei sich wahrnahmen. Und was war die Ursache? Keine andere, als dass sie sich mehr ihres Werkes als des Herrn Jesus erfreut, dass sie mehr an sich, als an den Herrn gedacht und sich mehr mit ihrem Dienen als mit seiner Herrlichkeit und Wahrheit beschäftigt hatten. Sie hatten gewirkt, um zu leben, und nicht gelebt, um zu wirken. Ware letzteres der Fall gewesen, so wären sie jetzt, wo sie ihre Arbeit einstellen mussten, ebenso glücklich geblieben, als wo sie noch inmitten ihrer Arbeit waren. Es ist offenbar, dass, wenn man die Arbeit zur Hauptsache macht, eine schreckliche Leere in Herz und Leben eintreten muss, wenn die Arbeit uns entzogen wird. Ist Jesus der Mittelpunkt unserer Gedanken und unserer Arbeit, dann schwindet auch die Freude dann nicht, wenn die Arbeit eingestellt werden muss: denn Jesus verändert sich nicht. Hat man in Ihm gelebt und sich bewegt, während man wirkte, so wird man dieses auch tun, wenn Er uns auf das Siechbett legt. Dieses ist ein untrüglicher Prüfstein. Fragen wir uns selbst, ob wir, wenn wir uns in der Einsamkeit mit dem Herrn befinden, ebenso glücklich sind, als wenn wir das Evangelium verkündigen, Sonntagsschule halten, oder sonst irgendeinen christlichen Dienst üben.

Marta war nichts weniger als ruhig. Sie war sehr beschäftigt mit vielem Dienen. Das war an und für sich sehr vortrefflich. Aber weil sie sich selbst und Jesus zu wenig kannte, konnte sie nicht ruhig an ihrer Arbeit bleiben und alles in die Hände des Herrn legen. – Als Maria sie allein wirken lieh, konnte sie es nicht unterlassen, sie und den Herrn zu tadeln. Als sie nach dem Tod ihres Bruders vernahm, dass Jesus endlich kam, eilte sie Ihm entgegen und begann eine ausführliche Unterhaltung mit Ihm: aber ebenso schnell eilte sie wieder hinweg, um, sobald sie begriff, dass sie den Herrn nicht verstand, ihre Schwester Maria zu rufen. Mit dieser kehrt sie wieder zurück; aber am Grab ihres Bruders Lazarus wird ihre Unruhe und Hetze aufs Neue offenbar. Dieses alles konnte nicht anders sein. Es war die natürliche, notwendige Folge ihres geistlichen Zustandes. Nur in der Gegenwart und Gemeinschaft Jesu wird man still und ruhig. Die Natur ist stets voreilig, vorlaut und unstet, oder im Gegenteil kalt, gleichgültig und gefühllos. Der Herr sagte zu Marta: „Marta, Marta, du bist besorgt und beunruhigt über viele Dinge.“ In diesen Worten liegt alles aufgeschlossen. Sie kennzeichnen den Zustand ihrer Seele. Viel zu wirken, ist durchaus kein Fehler, sondern sogar, wenn der Herr die Arbeit aufgetragen hat, eine lobenswerte Tugend. Aber über viele Dinge besorgt und unruhig zu sein, beweist nur, dass man selbst am Werk ist, und dass man meint, alles selbst ordnen und regeln zu müssen. Wie viele Unruhe gibt es in dieser Hinsicht oft unter den Christen! Wie wenig wird gefragt: „Herr, was willst du, dass ich tun soll?“ Wie selten denkt man daran! Was man für gut und nützlich hält, was man zur Förderung des Evangeliums als notwendig erkennt, das tut man, ohne zu fragen, ob der Herr es gutheißt. Kein Wunder, dass man unbeständig ist und hin und her getrieben wird. Alle nur möglichen Dinge werden aufgestellt und mit Eifer verteidigt, um bald wieder zu erkalten und zu erschlaffen. Die eine Sache verdrängt die Andere. Man kann es vielen abfühlen, dass sie der Ruhe des Glaubens ermangeln.

Doch Marta war nicht nur unruhig: sie war auch unwissend, lind wie hätte dieses anders sein können? Sind wir von unserer eigenen Arbeit eingenommen, dann sind natürlich unsere Gedanken davon erfüllt; und dann haben wir keine Zeit, und eigentlich auch keine Lust, um die Unterweisung des Herrn zu genießen. Man liest zwar in der Bibel zu seiner Zeit und findet auch wohl Erbauung darin; aber man erforscht die Schrift nicht. Man bleibt bei den Anfangsgründen stehen. Von einem Wachsen in der Erkenntnis Gottes und des Herrn Jesus Christus ist kaum die Rede. Man vermutet sogar nicht, dass solch herrliche Wahrheiten in der Schrift enthalten sind, und man kann es sich nicht erklären, wie andere darin einen solchen Genuss finden. Und so geht es Jahr aus Jahr ein, ohne dass man viel mehr weiß, als dass man durch Glauben an Jesus gerettet ist, wenn nicht selbst dieses Bewusstsein aus dem Herzen verschwunden ist. Es ist selbstverständlich, dass man bei einem solchen Verhalten sehr wenig von der Wahrheit versteht. Über manche Dinge ist man dann gänzlich unwissend; und da, wo darüber gesprochen wird, fühlt man sich ebenso wenig behaglich wie Marta, als der Herr mit ihr redete.

Die Geschichte in Johannes 11 liefert uns hiervon einen schlagenden Beweis. Sie ist zu wichtig, um nicht, ein wenig bei ihr zu verweilen und ihre Einzelheiten zu betrachten. Sobald Marta die Ankunft Jesu vernahm, ging sie Ihm entgegen und sagte: „Herr, wenn du hier gewesen wärst, mein Bruder wäre nicht gestorben.“ Welch ein Beweis von ihrem Glauben an Jesus! Wäre Jesus dort gewesen, so würde Er den kranken Lazarus geheilt haben. „Aber“ – fügt Marta hinzu – „auch jetzt weiß ich, dass, was irgend du von Gott bittest, Gott dir geben wird.“ Marta zeigt große Ähnlichkeit mit Petrus. Dasselbe vorlaute Wesen, dieselbe Unruhe. Wohl liebte er Jesus; aber die Selbsterkenntnis fehlte ihm. So war es bei Marta. Sie glaubt viel weiter zu sein, als sie ist. Petrus sagt: „Wenn sich alle an dir ärgern, ich werde mich niemals ärgern: selbst wenn ich mit dir sterben müsste, werde ich dich nicht verleugnen.“ Er meinte dieses wirklich also. Aber als sein Glaube auf die Probe gestellt wurde, erschrak er vor einer Magd. Auch Marta meinte es wirklich also, als sie sagte: „Alles, was du von Gott bittest, wird Gott dir geben.“ Allein sobald Jesus sagte: „Nehmt den Stein weg!“ rief Marta in der Angst ihres Herzens: „Herr, er stinkt schon; denn er ist schon vier Tage hier.“ Die Wirklichkeit ist oft anders, als wir denken. Unser Kopf ist unserem Herzen oft weit voraus. Wir rühmen uns oft unseres Glaubens; aber wenn derselbe auf die Probe gestellt wird, wie kleingläubig sind wir dann!

Jesus sagt: „Dein Bruder wird auferstehen“ und Marta antwortet: „Ich weiß, dass er auferstehen wird in der Auferstehung am letzten Tage.“ Sie begreift den Herrn nicht. Sie war zu wenig an seine Unterweisung gewöhnt, um seine Worte fassen zu können. Der Herr geht näher auf den angeregten Gegenstand ein. Er lenkt ihre Aufmerksamkeit von der „Auferstehung am letzten Tage“ ab, um sie erkennen zu lassen, dass ihr Bruder jetzt auferstehen soll, indem Er sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist; und jeglicher, der da lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit. Glaubst du dieses?“ Und wie lautet die Antwort Martas: „Ja, Herr, ich glaube, dass du bist der Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen sollte.“ – Doch das war keine Antwort auf die Frage Jesu. Sie begreift den Herrn nicht: und das fühlte sie selbst. Sie fühlte, dass sie nicht auf ihrem Platz war, und dass sicher ihre Schwester Maria den Herrn besser verstehen würde. Hatte es etwas zu tun gegeben, dann würde sich Marta auf ihrem Platz gesuhlt haben; aber jetzt, wo die Wahrheit erklärt wurde, mühte Maria kommen. „Und als sie dieses gesagt hatte, ging sie hin und rief ihre Schwester Maria heimlich und sagte: Der Lehrer ist gekommen und ruft dich.“ – Ach, wie betrübend für den Herrn, wenn wir seine Worte nicht begreifen, wenn wir wegen unseres Beschäftigtseins mit vielen Dingen unfähig sind, in seine Gedanken einzugehen! Und wie oft ist dieses bei den Gläubigen der Fall! Es ist oft, als ob der Herr vor tauben Ohren spräche. O möchten wir doch auf die Stimme des Herrn lauschen und auf seine Worte achten! Dann würden wir sicher immer mehr die Tiefe und den Reichtum derselben kennen lernen.

Die Worte, die der Herr zu Marta spricht, liefern hierfür den deutlichsten Beweis. Sie haben eine tiefere Bedeutung, als man auf den ersten Blick denken mag. „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist; und jeglicher, der da lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit.“ Bringen wir diese Worte mit 1. Korinther 15,51–54 und mit 1. Thessalonicher 4,13–18 in Verbindung, so liefern sie uns eine kurze, aber deutliche und herrliche Erklärung bezüglich der Auferstehung. In diesen beiden Stellen belehrt uns Paulus, dass, wenn der Herr kommt in die Luft, die, welche in Jesu entschlafen sind, auferweckt, und die, welche leben und übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn, nicht sterben werden. Denselben Gedanken findet man in den an Marta gerichteten Worten des Herrn. „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Er ist dieses in seiner Person; darum hat ein jeglicher, der an Ihn glaubt, das Leben – das ewige Leben. Dieses haben wir bereits. Unsere Seele lebt. Unser Leben ist Christus: und unser Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Doch dieses Leben soll auch unserem Leib mitgeteilt werden. Unser Leib ist noch sterblich und verweslich; aber dieses wird sich ändern. Wenn Jesus kommt, empfangen wir einen unsterblichen, unverweslichen Leib. „Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist.“ Der entschlafene Gläubige wird wieder auferweckt. „Und jeglicher, der da lebt und an mich glaubt, wird leben in Ewigkeit.“ Der bis zur Ankunft Jesu lebende Gläubige wird nicht sterben, sondern in einem Nu verwandelt werden. „Wir werden zwar nicht alle entschlafen: wir werden aber alle verwandelt werden.“ Herrliche Wahrheit! Der Tod hat über den Gläubigen keine Macht mehr. Jesus hat den Tod überwunden. Sicher werden nicht alle Gläubige sterben. Jesus ist die Auferstehung und das Leben. In Ihm und durch Ihn triumphieren wir. Alle Gewalten, die gegen uns waren, sind vernichtet. „Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unseren Herrn Jesus Christus!“

Und lesen wir weiter nichts mehr von Marta? O ja: wir finden noch eine Mitteilung in Betreff ihrer in dem folgenden Kapitel des Evangeliums Johannes; und es scheint, als wollte der Heilige Geist uns zeigen, dass die über viele Dinge besorgte und beunruhigte Marta in eine ruhige Jüngerin Jesu umgewandelt worden sei. Sechs Tage vor dem Passah war Jesus in Bethanien. Man bereitete Ihm dort ein Mahl, bei welcher Gelegenheit Maria Ihm die Füße salbte. Die Jünger, darüber unzufrieden, hielten dies für eine große Verschwendung, indem sie meinten, die Salbe halte verkauft und den Armen gegeben werden können. Welch eine schöne Gelegenheit für Marta, um wieder in den Vordergrund zu treten? Hier gab es sicher weit mehr Ursache, als das erste Mal, für sie, um über das Betragen Marias ihre Bemerkungen zu machen. Aber wir lesen hier nichts weiter, als: „Sie machten Ihm daselbst ein Abendessen, und Marta diente.“ Wie schön! Marta diente. Sie hatte ihr Wert nicht aufgegeben oder einem anderen anvertraut. Sie war nicht mutlos und unzufrieden geworden: o nein, sie diente wie früher; sie verrichtete dieselbe Arbeit, doch jetzt in der Stille, wie es einem jeden geziemt, der einen Beruf von Gott empfangen hat. Keine Bemerkung kommt über ihre Lippen. Sie lasst Maria ihren Weg ruhig gehen. Jede der beiden Schwestern befindet sich auf ihrem Platz. Beide dienen dem Herrn. Beide sind glücklich und zufrieden in dem Dienst, den sie für Jesus verrichten. Wie herrlich endet die Geschichte Martas! Die Gnade kann uns unser Ich entdecken lassen und uns den Herrn über alles teuer machen. Dann ist man still und ruhig; dann tadelt man nicht über andere, ja dann erst ist man geschickt zum Wirken und Dienen. Man denke an den vorlauten, sich selbst vertrauenden Petrus. Wie verändert war er in späteren Tagen! Voll Eifer verkündigte er das Evangelium; voll Freimütigkeit bekannte er den Herrn; aber er war still und ruhig. Sein Selbstvertrauen war verschwunden; er ließ sich leiten durch den Geist Gottes. Welch eine herrliche Frucht der Gnade Gottes! Je mehr wir uns selbst kennen, desto kostbarer ist uns Jesus. Je mehr wir Ihn kennen, desto mehr fühlen wir uns zu Ihm hingezogen, und desto williger werden wir uns von Ihm leiten lassen. Maria

Maria von Bethanien – welch eine Reihe von lieblichen Erinnerungen knüpft sich an diesen Namen! Wer fühlte sich nicht angezogen durch die stille Frömmigkeit dieser Jüngerin Jesu? Wie sanft und ruhig war sie! Nirgends zeigt sich bei ihr die Hast der Übereilung. Sie zeigte Begierde zu lernen; sie war eine eifrige Schülerin. Besser als alle anderen wusste sie in die Gedanken Jesu einzudringen. Sie wartete ihre Zeit ab und diente dem Herrn im rechten Augenblicke. Welche Schönheit und Herrlichkeit fand sie in Ihm! Wie glücklich fühlte sich ihre Seele in seiner Nähe! Dann vergaß sie alles andere und genoss nur Ihn. Und was den Herrn betrifft, so machte Maria das Haus ihrer Schwester Marta für Ihn nicht nur zu einer Stätte körperlicher Erholung, sondern auch zu einer Stätte geistlicher Erquickung; denn hier fand Er eine Seele, die in Ihm ihr alles gefunden hatte, und der Er sich gänzlich offenbaren konnte. War die Unterhaltung mit der Samariterin eine köstliche Speise für seine Seele, wie vielmehr wird die Wertschätzung seiner Person von Seiten Marias eine Erquickung für sein Herz gewesen sein!

Welch ein Unterschied zwischen der beschäftigten Marta und der stillen Maria! Nach menschlichem Urteil stand Marta weit über Maria. Marta war die Hauptperson im Haus, während Maria den zweiten Platz einnahm. Marta trat stets in den Vordergrund; Maria zog sich bescheiden zurück. Marta diente eifrig, während sich Maria ruhig niedersetzte und horchte. Doch der Schein trügt. Wie sehr auch Marta unsere Aufmerksamkeit auf sich lenkt, so ist doch Maria doppelt beachtenswert. Ist sie auch im Haus nicht die Hauptperson, so steht sie doch in geistlicher Beziehung oben an. Wird das Haus zu Bethanien auch als das Haus Martas bezeichnet (Lk 10), so wird Bethanien selbst doch das „Dorf der Maria und Marta“ genannt (Joh 11,1). In der Tat, wie viel Vortreffliches wir auch in Marta gefunden haben, so wird sie doch durch Maria in den Schatten gestellt. In geistlichem Leben unterscheiden sie sich himmelweit.

Das ist beachtenswert. Ein jeder, der die Gemeinschaft der Heiligen in etwa kennt und genießt, wird sicher bezüglich des geistlichen Lebens einen großen Unterschied unter den Gläubigen entdeckt haben. Der Eine hat mehr Erkenntnis, mehr Glauben, mehr Liebe, ist gewissenhafter, geistlicher, demütiger und mehr getrennt von der Welt als der Andere. Dieses ist keineswegs immer die Folge von verschiedener Unterweisung, Leitung und Umgebung, sondern man findet diesen Unterschied oft bei Gläubigen, die alles gemeinsam genossen haben. Unsere beiden Schwestern liefern dazu den Beleg. Sie hatten dieselbe Umgebung, befanden sich in denselben Umständen, nahmen beide den Herrn Jesus in ihrem Haus auf. Und dennoch welch eine Verschiedenheit! Marta war über viele Dinge besorgt und beunruhigt, und Maria hatte das gute Teil erwählt. Der Herr selbst sagte dieses; und Er durchschaut das Innerste des Herzens. Der Unterschied in Betreff des geistlichen Lebens dieser beiden Schwestern bestand darin, dass Marta zwar den Herrn liebte, aber mehr an sich und ihren Dienst, als an Ihn dachte, während Maria in Jesu jemanden gefunden halte, der ihre ganze Seele erfüllte und mit dem sie sich völlig verbunden fühlte. Jesus war für sie so herrlich, so anziehend, dass sie alles andere vergaß, um sich in Ihm zu erfreuen. Sie setzte sich zu seinen Füßen, um sich an seinen göttlichen Worten zu laben. Es wäre ihr unmöglich gewesen, hin und her zu laufen, um allerlei Dinge zu verrichten, während der Herr Jesus in ihrem Haus war. Sie benutzte jeden Augenblick, um auf seine Worte zu lauschen. Die Person Jesu war es, wodurch sie sich angezogen fühlte; das, was Er war, nicht, was Er ihr gab. Wir erfreuen uns der Gaben dessen, der uns liebt; aber der Geber selbst nimmt doch den ersten Platz ein. Wir erfreuen uns der Gaben, weil sie von einer Person kommen, die uns teuer ist.

Marta hatte nicht in Jesu eine solche Vortrefflichkeit gefunden, um deshalb ihre Arbeit einzustellen und sich zu seinen Füßen zu setzen. Ihre an Jesu gerichteten Worte zeigen ihr Ärgernis an solchem Tun. In Betreff der Maria war es sicher keine Trägheit, dass sie Marta dienen ließ und sich zu den Füßen Jesu setzte, und gewiss auch kein Mangel an Liebe, denn im Gegenteil war ihre Liebe inniger, denn die der Marta; und es wird sie sicher geschmerzt haben, sich also verkannt zu sehen. Doch der Herr nimmt sie nicht nur in Schutz, sondern stellt sie hoch über Marta. Er erlaubt nicht, dass Maria aufsteht, um ihrer Schwester zu helfen; sie muss zu seinen Füßen auf seine Offenbarungen lauschen. Das ist seine Freude.

„Eins aber ist noch.“ Und was denn? An Jesus zu glauben? Gewiss; aber das ist hier nicht gemeint; denn auch Marta glaubte. Doch für jeden Gläubigen ist eins Not, nämlich die Person Jesu über alles zu schätzen. Sicher haben wir große Ursache, uns unserer Errettung zu freuen; es ist eine unbeschreibliche Gnade. Wir haben die Vergebung unserer Sünden und das ewige Leben; wir sind Kinder Gottes und Miterben Christi. Uns in Ihm zu erfreuen, ist das gute Teil, welches Maria sich erwählt hatte. Ihn in seiner Liebe und Gnade, in seiner Schönheit und Herrlichkeit kennen zu lernen, das ist das Eine, was für den Christen nötig ist. Wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, seines Herrn, achtete Paulus alles für Verlust und Dreck. Wenn Jesus in unserer Seele lebt, dann ist alles anders der Tod. Ist unser Blick auf Ihn gerichtet, so wenden wir denselben ab von den eitlen und vergänglichen Gütern dieser Erde und rufen mit Paulus: „Eins aber tue ich: Vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend nach dem, was da vorne ist, jage ich, das vorgestreckte Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus.“

Hast du dieses gute Teil erwählt, mein Leser? Schätzest du den Herrn über alles? Verbindet dich die Liebe deiner Seele mit Ihm? Weilst du gern in seiner Nähe? O nicht allein seine Gaben sind kostbar, sondern Er selbst ist herrlich und liebreich. Ein jeder, der Ihn kennt, klammert sich an Ihn. Kennst du Jesus? Ich frage dich nicht, ob du bekehrt und ein Kind Gottes bist, ob du weißt, dass Er dein Erlöser ist. Dieses alles kann wahr sein, ohne dass du Ihn wirklich kennst, wie Er ist, und ohne dass dir seine herrliche Person über alles teuer ist. Ach, daran denken die Gläubigen oft so wenig. Sie gleichen mehr der Marta, als der Maria. Das Leben wird viel mehr in dem Neben christlicher Werke gesucht, als in dem Kennen der Person Jesu, in dem Lauschen auf seine Stimme. Ja, viele betrachten es als den Höhepunkt des christlichen Lebens, wenn sie der Vergebung ihrer Sünden gewiss sind. Wie wenig aber wird in dieser Weise der Herr verherrlicht! Das, was Gott verherrlicht, kann nur die Frucht der Erkenntnis Christi sein. Wer Ihn kennt, der liebt Ihn, und wer Ihn liebt, tut gern seinen Willen, fühlt sich ganz von Ihm angezogen, wendet sich von allem ab, was außer Ihm ist, lauscht gern auf seine Worte und lernt dadurch seine Gedanken mehr und mehr verstehen.

Hast du dieses gute Teil erwählt? Paulus konnte nicht nur sagen: „Was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust geachtet“, sondern auch: „Ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn.“ Christus wurde ihm mit jedem Tag herrlicher. So war es auch mit Maria. Christus wurde ihr stets kostbarer. Ihr Platz war zu den Füßen Jesu – ein Platz, den sie sich selbst erwählt hatte. Dort saß sie, um zu lernen (Lk 10) – dort lag sie, um getröstet zu werden (Joh 11) – dort kniete sie nieder, um seine Füße zu salben (Joh 12). Ihre Liebe verminderte sich nicht, sondern nahm vielmehr zu. Sie lernte Ihn immer mehr kennen und lieben, so dass sie Ihm endlich das Kostbarste darbrachte, was sie besaß. Ist auch dir, mein Leser, der Herr jetzt wertvoller, als damals, wo du Ihn zuerst kennen lerntest? Wenn nicht, so bist du nicht gewachsen in seiner Erkenntnis. Oder vielleicht hast du gar die erste Liebe verlassen, gleich der Versammlung zu Ephesus (Siehe Off 3). Wie innig war diese Versammlung ehemals mit Jesu verbunden gewesen, und wie sehr war nachher ihre Liebe gegen Ihn erkaltet! Der Herr fühlte dieses; denn obwohl äußerlich noch alles in der besten Ordnung war und wie früher seinen geregelten Verlauf nahm, so dass kein menschliches Auge eine Veränderung gewahrt hatte, so fühlte doch der Herr, dass die Liebe erkaltet war. Ach, wenn es mit dir ebenso ist, dann kehre zurück. Lass dich nicht durch den Schein täuschen, sondern wenn du das Erkalten deines Herzens verspürst, dann wirf dich vor Ihm nieder in aufrichtigem Selbstgericht, und kehre in seine Arme zurück. Des Herrn Liebe ist unverändert geblieben, denn diese Liebe ist von nichts abhängig; sie hat ihre Quelle in Ihm selbst.

Maria hatte also das gute Teil erwählt, welches nicht von ihr genommen werden sollte. Vielmehr hatte sie zugenommen an Erkenntnis und Glauben, an Liebe und Zuneigung zum Herrn. Ihre Geschichte liefert dafür den schlagendsten Beweis. Sollte es, als Lazarus erkrankte, nicht auf ihr Anraten geschehen sein, dass man dem Herrn die Botschaft schickte: „Herr, siehe, den du liebhast, ist krank?“ Man sollte es fast glauben. Und welch ein Vertrauen zu der Liebe Jesu liegt in diesen Worten! Sie waren ganz in Übereinstimmung mit der Gemütsrichtung Marias. Stellen wir die ergreifenden Umstände dieser Tage vor unsere Seele. Die Schwestern sandten zu Jesu in der festen Zuversicht, dass Er sofort kommen und den kranken Bruder heilen werde. Aber Jesus kommt nicht; Lazarus stirbt, wird begraben und liegt schon vier Tage im Grab, ehe der Herr kommt. Was wird in diesen Tagen nicht alles in der Seele Marias vorgegangen sein! Sie war tief betrübt über den Tod ihres geliebten Bruders. Das Zögern Jesu wird ihr unerklärlich gewesen sein. Wie sehr wird sie verlangt haben, ihren Schmerz vor Ihm ausschütten zu können! Aber bei all ihrer Trauer verlor sie ihre Ruhe nicht. Kaum hat Marta das Nahen Jesu vernommen, so fliegt sie Ihm in ihrer gewöhnlichen Hast entgegen, während wir von Maria lesen: „Maria aber saß im Haus.“ Sie harrt ruhig der Ankunft des Herrn entgegen. Erst als die Worte Martas: „Der Lehrer ist gekommen und ruft dich“ – ihr Ohr berühren, da kann sie nicht länger bleiben, sondern „steht schnell auf und geht zu Ihm.“

Wie herrlich! Die Ruhe und den Gehorsam lernte Maria im Umgang mit Jesu. Wer mit Ihm verkehrt, wird Ihm gleich. Seine Liebe, seine Ruhe, seine Demut, sein Gehorsam – alles wird gleichsam in uns ausgegossen. Diese Geschichte liefert uns den Beweis. Obwohl Jesus die Botschaft der Erkrankung des Lazarus empfangen hatte, so war Er doch noch zwei Tage an dem Ort geblieben, wo Er war. Wohl wusste Er, dass Lazarus in dieser Zeit sterben werde. Warum blieb Er? Weil es seine Speise war, den Willen des Vaters zu tun. Die Herrlichkeit Gottes musste offenbart werden, und dazu war der Tod des Lazarus nötig. Und wie sehr daher sich auch das Herz Jesu nach Bethanien hingezogen fühlte, so blieb Er dennoch, weil Ihn der Vater nicht gehen hieß. Maria handelte in derselben Weise. Wie sehr sie auch nach der Ankunft Jesu verlangte, so blieb sie dennoch ruhig zu Haus, bis sie gerufen wurde.

Doch wir lernen hier noch mehr. Wer zu den Füßen Jesu gesessen hat, kann in der Trübsal seine Teilnahme, sein Mitgefühl genießen. Maria hatte durch seinen Mund die Wahrheit vernommen; jetzt bedurfte sie des Trostes; und diesen fand sie in reichem Maß. Wo Marta mit dem Herrn eine Unterredung über die Wahrheit anknüpft, da sinkt Maria zu seinen Füßen, um ihren Schmerz auszuweinen. Wo Jesus die Marta unterweisen muss, da kann Er mit Maria weinen. „Jesus vergoss Tränen.“ Rührende Worte! „Jesus nun, als Er sie weinen sah, und die Juden weinen, die mit ihr gekommen waren, seufzte tief im Geist und erschütterte sich.“ Das durch die Sünde in die Welt gekommene Elend stand in seiner ganzen Schrecklichkeit vor Ihm. Durch die Sünde ist der Tod; und der Tod hatte seinen Freund Lazarus hinweggenommen, hatte die zartesten Bande zerrissen, und das zärtliche Herz der Maria zerrissen. Er erschütterte sich; Er vergoss Tränen. Wohl wusste Er, dass die Herrlichkeit Gottes sich offenbaren werde, dass etliche Augenblicke später das Grab seine Beute herausgeben müsse und die Traurigkeit in Freude verwandelt sein würde: aber nichtsdestoweniger weinte Er jetzt, als Er inmitten des Elends und der Traurigkeit stand, mit der Weinenden und fühlte ihren Kummer tiefer, als sie selbst. Welch ein Trost für Maria! Das war Balsam in ihre Wunde. Das wird ihre Seele erquickt haben. Das war ja eine neue Erfahrung der unaussprechlichen Liebe Jesu – ein neuer Zug seiner unvergleichlichen Schönheit. Um dieses zu erfahren, war es wohl der Mühe wert, einen solchen Weg der Schmerzen und der Leiden zu wandeln. Hast du wohl einen Freund gehabt, der mit dir weinte? Und hat das deinen Schmerz nicht gemildert? O, und nun einen Freund zu haben wie Jesus ist, der, ausgenommen die Sünde, in allem versucht worden ist! Einen Freund wie Jesus, der stets sagen kann: „Ich fühle deinen Schmerz vollkommen.“ Welch ein süßes Bewusstsein! Doch man vergesse nicht, dass nur Maria, nicht aber Marta diese Erfahrung machen konnte. Um das Mitgefühl Jesu zu genießen, muss man Ihn kennen, wie Maria Ihn kannte, man muss Freimütigkeit zu Ihm haben, um Schmerz und Kummer an seiner Brust ausweinen zu können.

Sicher hat Maria in diesen Tagen viel gelernt. Ihr Glaube wurde schwer geprüft. Der Baum wurde stark geschüttelt: aber es diente nur dazu, um die Wurzeln tiefer in die Erde dringen zu lassen. Am Siechbett ihres Bruders harrte sie einen Tag nach dem anderen auf die Ankunft Jesu. Aber Lazarus starb, ohne dass der Herr kam. Ihre Hoffnung war verschwunden, ihre Erwartung war vergeblich gewesen. Wenn jetzt auch Jesus kam, so war es doch zu spät. Lazarus war nicht mehr. „Herr, wenn du hier gewesen wärst, mein Bruder wäre nicht gestorben“, ruft sie Ihm weinend zu. Jetzt war alles aus; der unerbittliche Tod hatte ihren Bruder weggenommen. Jetzt blieb nichts übrig, als die mitfühlende Liebe Jesu zu genießen. Und diese genoss sie in reichem Mähe. Der Herr tröstete seine Jüngerin und rief sogar ihren Bruder ins Leben zurück. Die Herrlichkeit Gottes musste offenbart werden. Aus diesem Grund musste Lazarus sterben. Durch den Tod ging es zum Leben. So geschah es mit Lazarus: aber so geschah es auch mit der Seele Marias. Die Bande, womit Lazarus gebunden war, wurden Zerbrochen; und der Herr gab ihr den Bruder zurück.

So sind die Wege der Trübsal gar oft Wege des Segens und des Genusses. Durch Leiden geht es zur Herrlichkeit. Im buchstäblichen Sinne geschieht dieses, wenn Jesus kommt; im figürlichen Sinne geschieht es jetzt gar oft. Gottes Wege sind oft unerklärlich; unsere Gebete finden oft lange keine Erhörung; statt der Hilfe, scheint die Not oft zu wachsen. Wie geneigt sind wir dann, mutlos und unzufrieden zu werden! Doch wir bedenken nicht, dass die Herrlichkeit Gottes offenbart werden soll. Das Ende wird gut und herrlich sein, und wir werden dann Gott für die Leiden preisen. Die Züchtigung bewirkt eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt sind. Maria begriff die Ursache des Zögerns Jesu nicht; aber nachher hat sie dieselbe nicht nur begriffen, sondern Ihm auch dafür gedankt. Wäre Lazarus nicht gestorben, so hätte sie das Mitgefühl Jesu nicht kennen gelernt und die Herrlichkeit Gottes nicht gesehen.

Diese herrliche Erfahrung verband das Herz Marias noch inniger mit Jesu; seine Person war ihr nun noch teurer geworden. Bald sollte sie Gelegenheit finden, dieses in einer glänzenden Weise zu zeigen. Sechs Tage vor dem Passah, sechs Tage vor seinem Kreuzestod erscheint Er noch einmal in Bethanien. Im Haus Simons des Aussätzigen wird Ihm ein Mahl zugerichtet. „Marta diente; Lazarus aber war einer von denen, die mit Ihm zu Tische lagen. Da nahm Maria ein Pfund Salbe von unverfälschter, sehr kostbarer Narde und salbte die Füße Jesu und trocknete seine Füße mit ihren Haaren“ (Joh 12). Judas betrachtet dieses als eine törichte Verschwendung. „Warum“ – ruft er aus – „ist diese Salbe nicht für dreihundert Denare verkauft und den Armen gegeben worden?“ – Warum nicht, Judas? Weil Jesus mehr wert ist, als die Armen. Du begreifst es nicht; o nein; du wirst für dreißig Silberlinge deinen Herrn überliefern. Auch die anderen Jünger begriffen es nicht. Aber Maria begriff es und auch Jesus. Sie gab das Kostbarste für Ihn hin. Sie bereitete Ihm nicht, um seine Bedürfnisse zu stillen, ein Mahl; denn in diesem Fall hätte sie die Salbe verkaufen und den Erlös dem Herrn schenken müssen, damit Er sich das Notwendige dafür einkaufe. Aber nein, sie salbte seine Füße. Sie wollte Ihn nicht beschenken; sie wollte Ihn verherrlichen; sie wollte Ihm huldigen. Seine Person war für sie so unaussprechlich herrlich, seine Schönheit für sie so unvergleichlich, dass sie Ihm nur ihre Huldigung darzubringen vermochte. Jesus mühte verherrlicht, sein Name musste großgemacht, sein Lob verkündigt werden. „Das Haus aber ward von dem Geruch der Salbe erfüllt. Jesus sagte: Sie hat ein gutes Werk an mir getan.“ Das von ihr dargebrachte Opfer stieg als ein lieblicher Wohlgeruch nach oben und war angenehm in den Augen Gottes.

Hier sehen wir was Anbetung, was Gottesdienst ist. Ein aus Ägypten erlöster, in der Wüste bewahrter und in das verheißene Land gekommener Israelit des Alten Testaments brachte die Erstlingsfrucht des Landes als ein dankbares Opfer zu Gott. Maria, voll von der Herrlichkeit und Schönheit Jesu, erfüllt das ganze Haus mit dem Geruch ihrer Salbe, womit sie zur Verherrlichung Jesu seine Füße benetzt hatte. Die 24 Ältesten fallen, sobald das Lob des Lammes verkündigt wird, vor Ihm nieder und beten Ihn an, der sie mit seinem Blut erkauft hat (Off 4–5). So bringen auch wir an dem Tisch des Herrn unser Lob Ihm dar, der für uns in den Tod ging. Um aber hierzu fähig zu sein, muss unsere Seele mit der Herrlichkeit Jesu erfüllt sein. Wenn wir Ihn nicht über alles schätzen, wenn seine Schönheit uns nicht anzieht, dann ist alles nur Schein und eine leere Form. O möchten wir es doch besser verstehen, Ihm die geistlichen Opfer darzubringen, die Ihm angenehm sind und die sein Herz erfreuen!

Wie herrlich war für Maria das Wort Jesu: „Lasst sie; was macht ihr ihr Mühe? Sie hat ein gutes Werk an mir getan.“ Wie früher der Marta gegenüber, so verteidigt der Herr hier seine Freundin den Jüngern gegenüber. Von Marta war sie der Gleichgültigkeit, von den Jüngern der Verschwendung beschuldigt worden. Niemand begriff sie. Ein jeder beurteilte sie falsch, und das wird ihr sicher Kummer bereitet haben. Wie tröstlich war es daher für sie, dass Jesus, dem all ihre Liebe galt, sie begriff. Er schätzte ihr Werk: Er verstand ihre Liebe, ihre Hingebung. Darum nimmt Er sie auch in Schutz. Er kann es nicht dulden, dass ihre brennende Liebe zu Ihm verkannt werde und man ihr Mühe mache. Das war ihr genug. Wenn Jesus ihre Handlung ein gutes Werk nannte und ihr Opfer annahm, was kümmerten sie dann die Gedanken anderer? Nicht um von Menschen gepriesen zu werden, sondern um den Herrn zu verherrlichen, hatte sie ihre kostbare Salbe dargebracht. Und Er hatte ihre Gabe wertvoll geachtet und angenommen. Welch eine Freude für ihre Seele. Freudentränen werden ihre Wangen benetzt haben. Wie früher, so dringt auch jetzt kein Wort über ihre Lippen. Sie legt alles in seine Hand; denn Er kennt ihre Absicht: Er kennt ihr Herz; und ihr Vertrauen zu Ihm ist nie getäuscht worden.

Wo hatte Maria dieses alles gelernt? Zu den Füßen Jesu. Hier hatte sie Ihn kennen gelernt und in sein Herz geblickt. Sie wusste nun, was Ihn erfreute. Sie kannte das Opfer, welches ein lieblicher Wohlgeruch für Ihn war. Sie erkannte auch den passenden Augenblick. Gerade da, als alle sich gegen Ihn erklärten, erklärte sie sich für Ihn: als alle Ihn verspotteten, verherrlichte sie Ihn. Ja, geliebter Leser, nur zu seinen Füßen lernst du, was ein gutes Werk in seinen Augen ist. Man kann viele, an und für sich gute Werke verrichten, die aber, weil sie nicht in einer solchen Weise und in der geeigneten Zeit hervorkommen, dem Herrn nicht angenehm sind. Man denke an Marta. Was sie tat, war vortrefflich: und dennoch nennt der Herr dieses nicht ein an Ihm getanes gutes Werk. Nur in seiner Gemeinschaft lernt man geistlich unterscheiden, was zu jeder Zeit vor Ihm angenehm ist. Ja, der Herr urteilt ganz anders wie die Menschen. Er lohnt einen Trunk kalten Wassers: Er rühmt die arme Witwe, die nur zwei Scherflein in den Schatzkasten warf, und Er sagt: „Wer einen Propheten aufnimmt in eines Propheten Namen, wird eines Propheten Lohn empfangen.“ Das ist herrlich! Nun kann ein jeder ein gutes Werk verrichten, sowohl der Arme, wie der Reiche, sowohl der Minderbegabte, als auch der Reichbegabte. Es handelt sich nur darum, ob das von uns verrichtete Werk für Jesus getan ist. Er sagt: „Sie hat ein gutes Werk an mir getan.“ Geben wir Almosen, um von Menschen gepriesen zu werden, predigen oder schreiben wir, um mit unseren Gaben zu glänzen, dann ist unser Lohn dahin. Nur eine Arbeit, die wir für Jesus und aus Liebe zu Ihm verrichten, findet ihre Belohnung und ihren Segen. In diesem Fall wird man, wie Maria, sowohl von der Welt, als auch von vielen Gläubigen verkannt werden. Was Jesus ein gutes Werk nennt, ist in den Augen vieler nichts als Gleichgültigkeit oder Verschwendung. Doch die Anerkennung des Herrn ist besser als alles Lob der Menschen.

Wie sehr liefert Maria durch die Salbung des Herrn den Beweis, dass sie in die Gesinnung des Herrn eingedrungen war und mit Ihm in den schwierigen Umständen, in denen Er sich befand, sympathisierte! Jesus sagt: „Sie hat zum Voraus meinen Leib gesalbt zum Begräbnis.“

Wiewohl sie sicher nicht die Einzelheiten des Leidens und Sterbens Jesu wusste, so ahnte sie doch, dass der Zeitpunkt nahe herangerückt sei. Die Feindschaft der Juden erkannte sie nur zu gut; und die Worte Jesu hatten sie erkennen lassen, dass Er selbst einem schrecklichen Ende entgegensah. Die Salbung war daher eine Frucht dieser Erkenntnis. Der Herr selbst nennt ihre Tat eine Vorbereitung für sein Begräbnis. Es ist merkwürdig, dass wir Maria später nicht unter den Weibern finden, welche, um den Leichnam Jesu zu salben, an seinem Grab standen. Doch wozu diese zu spät kamen, das hatte sie schon zum Voraus getan. Ach, man kann sagen: Niemand hatte Mitgefühl für die Leiden und Schmerzen des Herrn, außer dieser Maria von Bethanien. Welch eine glückselige Stellung nimmt sie ein! Sie erquickt das Herz Jesu. Bei ihr allein findet Er in seinen Leiden ein mitfühlendes Herz. „Wahrlich, ich sage euch“, – so lauten daher auch die Worte des Herrn – „wo immer dieses Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt, da wird auch gesagt werden, was diese getan hat, zu ihrem Gedächtnis“ (Mk 14,9).

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