Botschafter des Heils in Christo 1877

Die christliche Zucht - Teil 1/2

Die Segnungen, die für den Gläubigen aus dem Werk Christi hervorstießen, sind unermesslich. Nicht nur ist er von aller Sünde gereinigt und eine Wohnstätte des Heiligen Geistes geworden, nicht nur hat er ein neues Leben, das ewige Leben, empfangen, sondern er befindet sich auch in einer ganz neuen Stellung vor Gott: er ist in Christus eine neue Schöpfung. „Gleichwie er ist“, sagt Johannes, „so sind auch wir in dieser Welt“ (1. Joh 4,17). Welch eine Gnade gegen arme, verlorene und feindselige Sünder! Doch wollen wir hier nicht bei diesen Segnungen verweilen, noch bei dem praktischen Wandel, der damit verbunden ist, sondern uns vielmehr mit den Mitteln beschäftigen, welche nach Anleitung des göttlichen Wortes in der Versammlung Gottes anzuwenden sind, um den Wandel der Christen auf einer jenen Segnungen entsprechenden Höhe zu erhalten: in einem Wort, mit der christlichen Zucht, ihrer Notwendigkeit und der Pflicht sie auszuüben, sowie dem Geist, in welchem sie geschehen soll.

Die Anführung einiger Schriftstellen wird völlig hinreichen, um klar zu zeigen, in welcher Weise der Christ hienieden zu wandeln hat. „Ich ermahne euch nun ... dass ihr würdig wandelt der Berufung, mit der ihr berufen worden, mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe, euch befleißigend, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Band des Friedens“ (Eph 4,1–3). „Seid nun Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder, und wandelt in Liebe, gleich wie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat, als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch“ (Eph 5,1–2). „Wie der, der euch berufen hat, heilig ist, seid auch ihr heilig in allem Wandel“ (1. Pet 1,15). „Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war usw“ (Phil 2,5). „Wer da sagt, dass er in Ihm bleibe, der ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie Er gewandelt hat“ (1. Joh 2,6).

Die Gesinnung und der Wandel Christi sind also der vollkommene Maßstab für die Gesinnung und den Wandel des Christen. Aber ach, mit tiefer Beschämung müssen wir bekennen, dass wir weit, weit hinter dem uns vorgestellten Muster unseres Wandels zurückbleiben. So oft sind wir nachlässig in der Wachsamkeit und im Gebet, schwach im Glauben inmitten einer versuchungsreichen Welt; so oft versäumen wir, die ganze Waffenrüstung Gottes anzulegen, die allein uns fähig macht, im Kampf wider den Fürsten dieser Welt, den Fürsten der Finsternis, der auf alle Weise uns zu verderben trachtet, den Sieg davon zu tragen. Aber Gott, der die Liebe ist und uns um einen so teuren Preis erkauft hat, kann uns nimmer aufgeben; im Gegenteil, Er kommt uns auf alle Weise zu Hilfe, um uns aufrecht zu erhalten: Er ist stets um uns bemüht, selbst auf dem Weg der Züchtigung. Doch in welcher Weise Er sich auch mit einem jeden von uns beschäftigen mag, so ist doch allezeit die Liebe zu uns sein einziger Beweggrund und unser Wohl sein einziger Zweck. „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Guten mitwirken.“ Köstliches Bewusstsein! Wir werden nachher sehen, dass auch wir berufen sind, in derselben Gesinnung und zu demselben Zweck auf einander Acht zu haben, einander zu ermahnen, zu warnen und zurechtzuweisen.

Die Heilige Schrift belehrt uns ferner, dass der Herr sich nicht allein mit dem Zustand des einzelnen Gläubigen in seinem persönlichen Verhältnis als Kind Gottes beschäftigt, sondern auch mit der Gesamtheit der Christen, als ein Leib, als die Versammlung oder das Haus Gottes betrachtet. Der Apostel schreibt an Timotheus, in der Hoffnung, bald zu ihm zu kommen: „Wenn ich aber zögere, auf dass du weißt, wie du dich verhalten sollst im Haus Gottes, welches ist die Versammlung des lebendigen Gottes, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“ (1. Tim 3,15). Dieses Haus, als solches, ist ebenso wie der einzelne Gläubige ein Tempel des Heiligen Geistes. „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid, und der Geist Gottes unter euch wohnt?“ (1. Kor 3,16); und wiederum: „Ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat: Ich will unter ihnen wohnen und wandeln“ (2. Kor 6,16). In welchem Zustand soll nun dieser Tempel allezeit gefunden werden? Wir lesen in Psalm 93,5: „Deinem Haus geziemt die Heiligkeit.“ Wir sehen, mit welch einem Eifer der Herr bemüht war, die Reinheit des Hauses seines Vaters aufrecht zu erhalten, als Er die Käufer und Verkäufer hinaustrieb. Er konnte sagen: „Der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt.“ Ebenso zeigen uns die Briefe an die Korinther und andere, mit welch einem Eifer der Apostel Paulus, dieser treue Diener des Herrn, die Heiligkeit im Haus Gottes zu bewahren trachtete. Es ist nun ebenso die Pflicht aller Gläubigen, über diese Heiligkeit des Hauses Gottes zu wachen und eifrig bemüht zu sein, sie aufrecht zu erhalten. Unter keinen Umständen darf das Böse in der Versammlung geduldet werden; „ein wenig Sauerteig durchsäuert die ganze Masse.“ Deshalb ermahnt der Apostel die Korinther mit feierlichem Ernst: „Fegt den alten Sauerteig aus, auf dass ihr eine neue Masse werdet, gleich wie ihr ungesäuert seid.“ – „Nun aber habe ich euch geschrieben, keinen Verkehr zu haben, wenn jemand, der Bruder genannt wird, ein Hurer ist, oder Habsüchtiger, oder Götzendiener, oder Lästerer, oder Trunkenbold, oder Räuber, mit einem solchen selbst nicht zu essen“ (1. Kor 5,7.11.13). 1 „Tut den Bösen von euch selbst hinaus.“ {Man hat sich oft bemüht, diese ernste Ermahnung durch die Behauptung zu entkräften, dass der Herr den Judas zum Abendmahl zugelassen habe, obwohl er als sein Überlieferer bekannt gewesen sei. Es steht nun unerschütterlich fest, dass Gottes Wort in keiner Sache ja und nein zugleich sagen kann, dass es sich nie widerspricht, sondern dass jeder scheinbare Widerspruch in uns, in dem Mangel unserer geistlichen Einsicht, und nicht im Wort Gottes zu suchen ist. Andererseits verrät es immer einen großen Mangel an Unterwürfigkeit unter das Wort, wenn man solch einem bestimmten, unzweideutigen Ausspruch gegenüber nur irgendwie daran denkt, ihn durch eine andere Schriftstelle oder auch durch Vernunftschlüsse zu entkräften. Es ist der Geist Gottes, Gott selbst, der die Versammlung ermahnt, den Bösen aus ihrer Mitte hinweg zu tun.

Was nun Judas betrifft, dessen Zulassung zum Abendmahl man in Lukas 22 zu finden meint, so wird jeder Leser, der nur mit einigem Verständnis das Wort Gottes erforscht, zugeben, dass uns der Heilige Geist in Lukas keine historische Reihenfolge der in den Evangelien mitgeteilten Tatsachen liefert, sondern eine moralische Zusammenstellung derselben, ohne irgendwie auf die Zeit, in der sie stattfanden, Rücksicht zu nehmen, wie dies aus vielen Stellen dieses Buches ganz ersichtlich ist. Die historische Reihenfolge wird uns am völligsten in Matthäus gegeben. Es geht nun aus Matthäus 26, Markus 14 und Johannes 13 unzweideutig hervor, dass Judas beim Passahmahl durch den Herrn als Überlieferer bezeichnet wurde, und wir lesen in Johannes 13,30: „Als nun jener (Judas) den Bissen genommen hatte, ging er sogleich hinaus.“ Dann erst, nachdem der Überlieferer beim Passahmahl bezeichnet und sofort hinaus gegangen war, setzte der Herr das Abendmahl ein. Wenn nun Lukas diese Bezeichnung des Judas nach dem Abendmahl erwähnt, so können wir überzeugt sein, dass der Heilige Geist auch hier nicht die Absicht hat, die geschichtliche Reihenfolge, sondern das schreckliche Verhalten des verhärteten Jüngers im Licht dieser unvergleichlichen Liebe des Herrn, welche im Abendmahl so wunderbar hervorstrahlt, vor unsere Augen zu stellen.}

Das Wort Gottes fordert uns also auf das bestimmteste auf, das Haus Gottes rein zu erhalten, das Böse hinweg zu tun, darauf zu achten, „dass nicht jemand an der Gnade Gottes Mangel leide, dass nicht eine Wurzel von Bitterkeit aufsprösse und beunruhige, und viele durch diese verunreinigt werden“ (Heb 12,15). Wir sollen auf das unzweideutigste beweisen, dass wir mit dem Bösen keine Gemeinschaft haben. Der Apostel schreibt den Thessalonichern in Bezug auf solche unter ihnen, „die nicht arbeiteten, sondern fremde Dinge trieben“ (2. Thes 3,11): „Wir gebieten euch aber, Brüder, im Namen unseres Herrn Jesus Christus, dass ihr euch entzieht von jeglichem Bruder, der unordentlich wandelt und nicht nach der Überlieferung, die ihr von uns empfangen habt.“ – „Wenn aber jemand unserem Wort durch den Brief nicht gehorcht, den bezeichnet und habt keinen Umgang mit ihm, auf dass er beschämt werde, und haltet ihn nicht als Feind, sondern weist ihn zurecht als einen Bruder“ (V 6.14.15). 2

In seinem 2. Brief lobt der Apostel die Korinther, dass sie durch ihre aufrichtige Buhe und ihr entschiedenes Handeln in Bezug auf das in ihrer Mitte vorhandene Böse auf eine unzweideutige Weise bewiesen hatten, dass sie an der Sache rein waren (2. Kor 7,9–11).

Das Wort Gottes fordert uns aber nicht nur in Bezug auf moralische Übel zur Wachsamkeit und zu entschiedenem Handeln auf, sondern ebenso sehr, wenn die Reinheit der Lehre in Frage steht. Wir sehen den Apostel in diesem Fall, wenn möglich, in noch größerem Ernst und Eifer handeln. Der aufmerksame Leser wird dies finden, wenn er z. B. der Brief an die Galater, wo der Feind durch eine Vermischung des Gesetzes mit der Gnade das Evangelium zu verderben trachtete, vergleicht mit den beiden Briefen an die Korinther, wo viele moralische Nebel zu Tage traten: und dasselbe wird er bei vielen anderen Gelegenheiten deutlich wahrnehmen. Wenn es sich um die Entstellung der Wahrheit handelt, so kommt nicht nur das Verderben der Seelen, sondern vor allem die Ehre Gottes in Betracht, und für diese eiferte Paulus mit der ganzen Energie seines Herzens und mit einer brennenden Liebe zu seinem Herrn. Aber ach, wie schwach ist dieser Eifer und diese Liebe in unseren Tagen unter den Heiligen geworden! Welche Schlaffheit und Gleichgültigkeit zeigt sich oft, wenn es sich um die Ehre und die Wahrheit Gottes handelt, selbst da, wo noch eine gewisse Entschiedenheit nicht (selten in einem gesetzlichen Geist) bezüglich der moralischen Nebel vorhanden ist, wobei Zugleich die eigene Ehre mehr oder weniger in Betracht kommt. Ich führe hier nun einige Stellen der Schrift an, die uns unser Verhalten gegen falsche Lehrer bestimmt vorschreiben: „Ich ermahne euch aber, Brüder, dass ihr Acht habt auf die, welche Zwiespalt und Ärgernisse anrichten, entgegen der Lehre, die ihr gelernt habt, und wendet euch ab von ihnen“ (Röm 16,17). „Einen sektiererischen Menschen weise ab nach einer ein– und zweimaligen Zurechtweisung“ (Tit 3,10). „Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre, (die Lehre des Christus) nicht bringt, so nehmt ihn nicht ins Haus auf und grüßt ihn nicht; denn wer ihn grüßt, nimmt Teil an seinen bösen Werken“ (2. Joh 1,10–11).

Aus den angeführten und vielen anderen Stellen der Schrift sehen wir also ganz klar, dass der Herr nicht allein unsere eigene, persönliche Absonderung von aller Art des Bösen in der Lehre wie im Wandel will, sondern auch unsere Wachsamkeit und unseren Eifer, das Haus Gottes von demselben rein zu erhalten, und alle diese Ermahnungen verlieren nie ihre Kraft. Sie vernachlässigen oder gar ganz bei Seite setzen (und ach, in welch großem Maß ist dies in unseren Tagen der Fall) heißt nichts anders, als Gott und seine Ehre vernachlässigen und bei Seite setzen. Es ist offenbarer Ungehorsam gegen sein Wort, und wir werden nichts vorbringen können, was uns vor Ihm entschuldigen wird, selbst nicht die Behauptung, dass die große Verwirrung und der traurige Verfall in der Christenheit alle Zucht unmöglich machen. Der Herr hat an diese Zeit gedacht und in seiner Güte und Liebe gegen uns Vorsorge getroffen. Er kannte die Untreue des Menschen; Er wusste, dass sich die Versammlung oder Kirche auf der Erde von ihrer Einfalt gegen Christus abwenden und in den traurigsten Zustand verfallen würde. Deshalb hat Er, noch ehe die Versammlung gegründet war, die köstliche Verheißung gegeben: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 13,20). Er gibt dadurch, selbst für diese traurige Zeit, seinen treuen Jüngern das Vorrecht, den wahren Charakter der Versammlung zu verwirklichen. Seine Gegenwart ersetzt alles und genügt für alles. Sein Name ist aufs innigste mit der Versammlung verknüpft; deshalb soll sie auch jede Handlung in seinem Namen verrichten. Und aus diesem Grund sagt der Herr in den beiden vorhergehenden Versen: „Was irgend ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden sein, und was irgend ihr auf der Erde lösen werdet, wird im Himmel gelöst sein;“ und ferner: „Wenn zwei von euch werden einstimmig sein auf der Erde über irgendeine Sache, um welche sie bitten, diese ihnen werden wird von meinem Vater, der in den Himmeln ist“ (V 18–19). Welch ein köstliches Vorrecht für zwei oder drei, die im Namen Jesu versammelt sind! Welch eine Ehre, Ihn selbst, die Quelle alles Segens, in ihrer Mitte zu haben! Aber seine Gegenwart entkräftet auch zu aller Zeit jede Entschuldigung, die bezüglich der Vernachlässigung der Zucht vorgebracht werden könnte. Dem, der auf Ihn, die Quelle aller Kraft, sich zu stützen versteht, wird es nie an Kraft gebrechen, und wem die Ehre des Herrn am Herzen liegt, wird stets für die Reinheit seines Hauses eifern. Ach, es ist ein großer Verlust, wenn dieser Eifer erschlafft ist. So war es in Korinth: und wir sehen, wie sehr der Apostel bemüht war, ihn wieder wachzurufen! Er wandte seine ganze apostolische Autorität und Macht an, um die dortige Versammlung zur Erkenntnis und zum Wegtun des in ihrer Mitte vorhandenen Bösen zu bewegen (1. Kor 5). Er war über ihre Nachlässigkeit in dieser Beziehung aufs tiefste betrübt, und nur der aufs Neue erwachte Eifer der Korinther für die Reinheit der Versammlung vermochte ihn zu trösten und zu beleben (2. Kor 7). Möchte seine Gesinnung in Bezug auf die Ehre des Herrn und das Wohl der Seinen uns stets zur Nachahmung ermuntern!

Wir haben also gesehen, dass das Wort Gottes uns auf das bestimmteste ermahnt, die Reinheit im Haus Gottes aufrecht zu erhalten, und dass es uns die dazu erforderliche Zucht als eine ernste Pflicht auferlegt. Es zeigt uns aber auch ebenso klar, in was für einem Geist oder in welcher Gesinnung diese Zucht ausgeübt werden soll. Wenn sich einerseits eine schreckliche Vernachlässigung oder gar gänzliche Beiseitesetzung der Zucht im Haus Gottes kundgibt, so findet andererseits ihre Ausübung da, wo sie noch beachtet wird, nicht immer in dem richtigen Geist statt, so dass es oft nötig wäre, an denen Zucht auszuüben, die bei anderen damit beschäftigt sind. Für jeden Christen, wenn er geistlich ist, wird die Ausübung der Zucht eine ernste, feierliche Sache sein – eine Sache, die ihn mit innerer Furcht erfüllt und ihn antreibt, mit Gebet und Flehen zu Gott aufzublicken. Er erkennt sein eigenes Nichts, er weiß, dass er in sich selbst nur ein elender, hilfloser Sünder ist, der durch Gnade errettet worden und durch Gnade geleitet und bewahrt wird, und er ist ermahnt, andere höher zu achten als sich selbst, ein Diener der Heiligen und Geliebten Gottes zu sein. Ja, diese Erwägung lässt uns die Zucht stets als eine höchst ernste Sache erscheinen; aber sie bewahrt uns auch vor Überhebung, als seien wir besser als andere; sie lässt dem Fleisch, das so gerne den Vorrang hat, sich selbst erhebt und über andere zu Gericht sitzt, keinen Raum. Wer vom Fleisch oder durch das Gesetz geleitet wird, ist nie fähig, die Zucht auf eine Gott wohlgefällige Weise auszuüben. Er wird nach seinen Gedanken mit dem Bösen beschäftigt sein, er wird sein Urteil darüber fällen; aber das, was er im besten Fall sucht, ist seine eigene Befriedigung, nämlich das Bewusstsein, recht gehandelt zu haben. Die Ausübung der Zucht ist allerdings ein Akt der Gerechtigkeit; aber sie wird nur dann auf eine dem Geist Christi angemessene Weise gehandhabt, wenn die Liebe ihr Beweggrund, ihre Triebfeder ist – die Liebe zu Gott, die um jeden Preis die Heiligkeit seines Hauses aufrecht zu halten trachtet – die Liebe zu dem Bruder, der gefehlt hat, die nichts unversucht lässt, um ihn wiederherzustellen und glücklich zu machen.

Die Liebe Christi allein kann die wahre Quelle eines jeden Gott gemäßen Dienstes unter den Heiligen sein, also auch der Zucht, und der Herr selbst ist das vollkommene Vorbild oder Muster in der Ausübung einer Liebe, die aufs zärtlichste bemüht ist, den Fehlenden wiederherzustellen. Petrus hatte Ihn, trotz aller Warnung, auf die traurigste Weise verleugnet. Dennoch verfährt der Herr nicht hart mit ihm, sondern in der Zartheit der Liebe; aber Er geht gründlich zu Werke, indem Er ihn auf die Wurzel seines Falles, seine Selbsterhebung über die Anderen, hinführt (Mt 26,33), und Er ruht nicht eher, bis Petrus tief betrübt wird, ein Zeichen, dass der Zweck erreicht war. Dann aber verhinderte Ihn selbst die so schmähliche Verleugnung des Petrus, der jetzt wiederhergestellt war, nicht, ihm mit dem größten Vertrauen zu begegnen und ihm sein Teuerstes auf dieser Erde zur Besorgung zu übergeben: „Weide meine Schafe!“ (Joh 21,15–17) Die Liebe denkt nicht an sich, sucht nicht das ihre, sondern ist nur für die Wohlfahrt dessen besorgt, mit dem sie beschäftigt ist. Ja, die Liebe allein, verbunden mit Einsicht, vermag uns bei Ausübung der Zucht vor einer falschen Stellung zu bewahren. Wenn sie fehlt, so ist die Zucht eine schreckliche Sache und wird meist nur zum Schaden der Seele und zur Unehre des Herrn ausschlagen. Mag sie von einem Einzelnen oder von der Versammlung ausgeübt werden – nie dürfen die handelnden Personen den Charakter eines Richters oder eines Gerichtshofs annehmen. Die Zucht hat es sowohl mit verborgenen, als auch mit offenbar gewordenen Sünden zu tun, mit dem schlechten Zustand, dem Selbstvertrauen, der Unlauterkeit usw. und mit den daraus erwachsenen Früchten. Die ersteren, die verborgenen Sünden, die nur vermutet werden können, oder der schlechte Zustand einer Seele, sind mehr Gegenstand der Beschäftigung Einzelner. In solchen Fällen aber, wo sich für die Vermutung keine bestimmten Anhaltspunkte ergeben, würde ein starres Festhalten an Wahrscheinlichkeiten, sowie eine Ausforschung durch allerlei Hin– und Herfragen nicht der Liebe gemäß sein. „Die Liebe denkt nichts Arges.“ Bei offenbar gewordenen und nicht Gott gemäß gerichteten Sünden dagegen hat die Versammlung zu handeln.

Wir finden nun im Wort Gottes dreierlei Arten von Zucht, die von vielen Christen, und sicher zum Nachteil der Seelen, mit einander vermengt werden. Es gibt uns Anleitung

1. Über das Verhalten des einen Bruders gegen den Anderen, wenn dieser wider ihn gesündigt hat.

2. Über das Verhalten des Einzelnen gegen die Schwachen und Irrenden – die Ausübung einer Zucht, mit der sich namentlich der Hirtendienst zu beschäftigen hat.

3. Über die von der Versammlung auszuübende Zucht, wenn es sich um die Aufrechthaltung der Reinheit des Hauses Gottes, als solches, handelt.

Lasst uns nun an der Hand des Wortes Gottes und unter Leitung des Geistes auf jede einzelne Art der Zucht etwas näher eingehen. 1. Das Verhalten des einen Bruders gegen den Anderen, wenn dieser wider ihn gesündigt hat, wird uns in Matthäus 18,15–17 vom Herrn selbst klar vorgestellt. „Wenn dein Bruder wider dich sündigt, so gehe hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein. Wenn er dich Hort, so hast du deinen Bruder gewonnen. Wenn er aber nicht hört, so nimm hinzu mit dir noch einen oder zwei, damit aus dem Mund zweier oder dreier Zeugen jegliche Sache bestätigt sei. Wenn er aber nicht auf sie hören wird, so sage es der Versammlung; wenn er aber auch auf die Versammlung nicht hören wird, so sei er dir wie der Heide und der Zöllner.“ – Es handelt sich hier also lediglich um das Verhalten eines Bruders, der von einem anderen durch Wort oder Tat beleidigt worden ist. Es ist möglich, dass in solchem Fall zuletzt auch die Versammlung handeln, d. h. den, der gesündigt hat, ausschließen muss; allein davon ist an dieser Stelle nicht die Rede. Der in Matthäus 18 angegebene Fall spricht nur über das Verhalten eines Bruders, wider den ein anderer gesündigt hat, und nur zu ihm wird gesagt, nachdem jede Bemühung, den Beleidiger zur Einsicht zu bringen, erfolglos geblieben ist: „So sei er dir wie der Heide und der Zöllner“ d. h., dass er nichts mehr mit ihm zu schaffen haben soll.

Was hat nun ein Bruder zu tun, wenn ein anderer wider ihn gesündigt, ihm Böses zugefügt hat – eine Sache, die außer ihnen beiden niemand bekannt ist? Hat er zu warten, bis der Bruder zu ihm kommt und sich demütigt? Das Fleisch wünscht dieses: und wenn es nicht geschieht, so möchte es sich nicht weiter um seinen Beleidiger bekümmern, sondern ihn von Sünde zu Sünde dahingehen lassen. Wie aber hat Gott mit uns gehandelt, als wir auf tausendfache Weise wider Ihn gesündigt hatten? Hat Er gewartet, bis wir zu Ihm kamen und unsere Sünden bekannten? Ach, dann würden nie und nimmer unsere Sünden hinweggetan worden sein. Er hat seinen eingeborenen Sohn gesandt, um uns zu suchen und zu erretten. Lässt sich Christus mit den Seinen, die wider Ihn gesündigt haben, erst dann wieder ein, wenn sie zurückgekehrt und gedemütigt sind? O nein; Er ist gerade dann mit Ihnen beschäftigt, wenn sie verunreinigt sind. Er ist ihr Sachwalter beim Vater; Er wäscht ihre Füße. Durch sein Wort wirkt Er auf ihr Gewissen, um sie zum Bewusstsein und zum Bekenntnis ihrer Schuld zu bringen, damit sie gereinigt werden. „So seid denn Gottes Nachahmer, als geliebte Kinder.“ Auch wir haben nach jenem göttlichen Grundsatz zu handeln, wenn ein Bruder wider uns gesündigt hat. „Gehe hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein:“ suche ihn zur Einsicht über sein begangenes Unrecht zu bringen, damit er wiederhergestellt und gewonnen werde.

Die brüderliche Liebe hat nur die Wiederherstellung des Bruders im Auge. Sie ist gern bereit, von der Unumschränktheit der Gnade Gebrauch zu machen und „siebzigmal siebenmal“ zu vergeben. Es ist die Tätigkeit der Liebe, die in Christus Jesus ist, und die Er an dieser Stelle in Matthäus 18 auf seine Jünger überträgt. Er macht sie zum Kanal seiner eigenen Liebe.

„Zwischen dir und ihm allein.“ Ein Dritter hat zunächst nichts mit dieser Sache zu tun. Es ist immer zu tadeln, wenn ein solcher Vorfall, ohne dass es nötig ist, einem anderen mitgeteilt wird, und namentlich, wenn es geschieht, bevor man in Liebe versucht hat, den betreffenden Bruder von seinem Unrecht zu überzeugen und ihn zu gewinnen. Durch ein solches Verhalten geben wir deutlich zu erkennen, dass die uns zugefügte Beleidigung unser Herz mehr beschäftigt, als die Ehre Gottes und die Wiederherstellung dessen, für den Christus gestorben ist. Und was ist in uns beleidigt? Das Fleisch. – Es ist gewiss keine große Sache, jemandes Sünde zu sehen und zu richten; dazu war auch ein Jude unter dem Gesetz fähig. Die Gnade aber geht dem Verirrten nach und sucht in aller Liebe ihn zurückzubringen.

Ist die wahre Frische der Liebe in meinem Herzen, stehe ich für mich selbst im Genuss der Liebe Gottes, so werde ich auch des Bandes gedenken, das mich mit dem verbindet, der wider mich gesündigt hat: er ist mein Bruder; ich bin betrübt über ihn. Es ist mein herzlichstes Verlangen, dass er wiederhergestellt werde. Die mir dadurch etwa zu Teil werdende Rechtfertigung tritt völlig in den Hintergrund. „Wenn er dich hört, so hast du deinen Bruder gewonnen.“ Das ist der hoffnungsvolle Gedanke, von dem allein mein Herz erfüllt ist, mag auch die geschehene Handlung noch so böse gewesen sein; und ist dieses Ziel erreicht, so ist die Sache beendigt. Der traurige Vorfall wird weder zwischen uns beiden je wieder in Erwähnung gebracht, noch irgendeinem anderen mitgeteilt; er bleibt für immer hinweggetan und vergessen.

„Wenn er aber nicht hört, so nimm hinzu mit dir noch einen oder zwei, damit aus dem Mund zweier oder dreier Zeugen jegliche Sache bestätigt sei.“ Die brüderliche Liebe kann sich, wenn der erste Schritt ihrer Bemühung erfolglos geblieben ist, nicht zufriedengeben. Sie sieht nicht den Beleidiger, sondern den Bruder, und ihr innigstes Verlangen ist, ihn zu gewinnen. Sie kann nicht Sünde auf ihm sehen und gleichgültig sein. Selbst das Gesetz verwarf eine solche Gleichgültigkeit. Wir lesen in 3. Mose 19,17: „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen; du sollst deinen Nächsten ernstlich strafen und sollst die Sünde auf ihm nicht ertragen.“ Wie vielmehr geziemt dies solchen, die unter der Gnade stehen und in deren Herzen die Liebe Gottes ausgegossen ist! Diese Liebe ist tief betrübt, wenn sie den Bruder durch Sünde verunreinigt weih, und kann nicht eher ruhen, bis sie alles versucht hat. Sie nimmt noch zwei und drei hinzu; vielleicht wird das vermehrte Zeugnis den Bruder überführen und gewinnen. Allein wenn er auch dann widersteht, so wird es der Versammlung mitgeteilt. 3 Vielleicht bringt das Zeugnis aller ihn zur Einsicht. Wenn aber auch die Bemühung der Versammlung erfolglos ist, wenn ihre dringenden Bitten und ernsten Ermahnungen ohne Wirkung bleiben, wenn er trotz allem in seinem Eigenwillen und hartnäckigen Stolz beharrt, „so“, sagt der Herr, „sei er dir wie der Heide und der Zöllner;“ brich jede Gemeinschaft als Christ mit ihm ab. Vielleicht ist es, wie gesagt, nötig, dass die Versammlung in gleicher Weise mit ihm zu handeln hat, dass sie ihn ausschließen und jede christliche Gemeinschaft mit ihm abbrechen muss; allein der Herr unterweist uns hier nur, wie der Bruder, dem das Unrecht zugefügt ist, sich gegen seinen Beleidiger zu verhalten habe. Doch wie groß ist die Schuld, die ein solcher Mensch auf sein Gewissen lädt, wenn er all diese Bemühungen der Liebe, all diese ernsten Zeugnisse und Warnungen zurückweist und in seinem ungebrochenen Zustand beharrt! 2. Bei dem Verhalten gegen die Schwachen und Irrenden – der Ausübung einer Zucht, mit der sich namentlich der Hirtendienst zu beschäftigen hat, handelt es sich nicht um irgendwelche Beleidigung gegen mich; sie findet da ihren Platz, wo jemand durch Wort oder Wandel in seinem Charakter als Kind fehlt. Doch ist es eine Zucht, die, wie die brüderliche, von einzelnen Personen und nicht von der Kirche oder Versammlung ausgeübt wird; es ist die persönliche Sorge des Einen für den Anderen. Es ist selbstverständlich, dass nicht alle in demselben geistlichen Zustand sind, dass nicht alle dieselbe Gabe, noch dasselbe Maß der Gabe empfangen haben. Es gibt eine Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit sowohl bezüglich der Gnade, als auch der Gabe; und der Eine wird dem Anderen überlegen sein. Wozu aber sollen wir diese Überlegenheit benutzen? Allein dazu, den Brüdern im Geist der Liebe und Sanftmut zu dienen und behilflich zu sein; denn dazu haben wir die Gaben empfangen; und nichts darf uns verhindern, dieses Vorrecht der Liebe, ein Diener anderer zu sein, festzuhalten und auszuüben. Steht jemand an Gnade und Weisheit über einem anderen, der sich, weil er noch unerfahren ist und sich und die Welt wenig kennt, in irgendeine Sache verstrickt oder einen verkehrten Weg einschlägt, so hat er ihn mit väterlicher Sorgfalt zu ermahnen, ihn auf die Gefahren aufmerksam zu machen und ihm die Erfahrungen, die er selbst oder andere in ähnlichen Fällen gemacht haben, zur Warnung vorzustellen. Der Hirtendienst hat es hauptsächlich mit noch verborgenen Nebeln zu tun, deren Ausbruch er zu verhindern sucht. Zeigt sich aber jemand hartnäckig und widerspenstig, so darf es auch an ernsten Zurechtweisungen nicht fehlen. Immer aber haben wir uns zu erinnern, dass wir selbst mannigfach gefehlt und so viele Geduld und Nachsicht von Seiten anderer bedurft haben, und dass wir noch stets den Versuchungen aller Art ausgesetzt sind. „Brüder, wenn auch ein Mensch von einem Fehltritt übereilt würde, so bringt ihr, die Geistlichen, einen solchen wieder zurecht im Geist der Sanftmut, und siehe auf dich selbst, dass nicht auch du versucht wirst“ (Gal 6,1). Durch eine solche Gesinnung und ein solches Verhalten zeigt der Christ, dass er wirklich geistlich ist. In seinem Herzen sind die Gefühle eines Vaters für sein schwaches Kind, und seine geistliche Einsicht, seine mannigfachen Erfahrungen und seine Gemeinschaft mit Gott bezüglich der Sache, worin ein Bruder fehlt, befähigen ihn, das Übel zu erkennen und sich auf eine angemessene Weise damit zu beschäftigen, obwohl sein Tun vielen unverständlich sein mag.

Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Zucht, deren Ausübung den Geist eines Vaters erfordert, in noch höherem Grad, als die in Matthäus 18 erwähnte, ein Vorrecht der Gnade ist; sie ist das besondere Vorrecht derer, die irgendeine Hirtengabe empfangen haben. Außer der persönlichen Gemeinschaft mit dem Herrn gibt es nichts köstlicheres und gesegneteres als die Sorge eines Hirten, der die Herde des Herrn weidet – der, gedrungen durch die Liebe Christi, alle Mühen und Beschwerden, alle Bekümmernisse und Versuchungen, alles Elend und alle Sünden einer Seele auf seinem Herzen trägt, sie vor Gott bringt und von Ihm alles das erfleht, was zur Ermunterung und Befreiung dieser Seele gereichen kann. Der Dienst eines Hirten, wie viel Schmerz und Kummer auch damit verbunden sein mag, erzeugt Bande, wie sie in dieser Welt nicht köstlicher und gesegneter sein können. Er ist aber auch Zugleich mit einer großen Verantwortlichkeit verknüpft. Es sind die Schafe Christi, für welche der Hirte Sorge zu tragen hat. Welch ein Gefühl von Verantwortlichkeit, welchen Eifer, welche Sorgfalt und Wachsamkeit muss dies Bewusstsein in ihm hervorrufen! Diese Verantwortlichkeit wird noch dadurch erhöht, dass die ganze Versammlung in einem Zustand der Schwachheit ist: die Schafe Christi haben umso nötiger mit aller Sorgfalt überwacht und gepflegt zu werden. Die Gabe eines Hirten ist in der Tat eine der notwendigsten und gesegnetsten für die Versammlung, und wer die Schafe Christi liebt, wem ihr Gedeihen am Herzen liegt, wird zum Herrn stehen, dass Er ihnen wahre Hirten gebe. Freilich ersetzt der Herr alles, wo sie mangeln; Er, der „große Hirte der Schafe“, kann ohne Unterhirten seine geliebte Herde pflegen und bewahren. Er bedarf unser nicht, es sei denn, um uns seine herablassende Liebe und Gemeinschaft erkennen und genießen zu lassen. Wenn wir dies vergessen, so legen wir uns eine Wichtigkeit bei, die wir nicht haben: wir nehmen den Platz Christi ein und betrachten seine Herde als die unsrige. Nie aber wird im Wort Gottes von einem Hirten und seiner Herde gesprochen, ausgenommen wenn von Jesu die Rede ist. Es ist immer seine Herde, über welche ein Christ, der die Gabe eines Hirten empfangen, zu wachen hat; und wie gesegnet wird sein Dienst sein, wie viel Kummer und Schmerz wird er stillen, wie viele Sünden verhüten und bedecken, wenn er mit Demut und aufopfernder Liebe von der ihm verliehenen Gabe Gebrauch macht!

Nirgendwo tritt uns wohl die Ausübung des Hirtendienstes in allem Eifer, aller Zärtlichkeit und Sorgfalt, so klar und lieblich entgegen, wie in den beiden Briefen an die Korinther. Außer der groben Sünde in 1. Kor 5, von der wir bei Betrachtung der dritten Art der Zucht reden werden, offenbarten sich in der Versammlung zu Korinth allerlei Nebel; das Fleisch zeigte sich nach verschiedenen Seiten hin wirksam. Doch wie sehr zögert der Apostel mit der Anwendung seiner apostolischen Gewalt, durch welche er im Stande war, jeden Ungehorsam zu ahnden (2. Kor 10,6). Er nimmt seine Zuflucht zu der väterlichen Zucht und übt sie aus mit ausharrender Geduld, mit der zärtlichsten Liebe, mit aller schonenden Milde, verbunden mit einem würdigen Ernst. Überall tritt uns beim Lesen dieser Briefe sein väterliches Herz gegen die Korinther entgegen. Kein Undank, keine Geringschätzung, keine noch so empfindliche Zurücksetzung von Seiten derer, die er in Christus Jesus durch das Evangelium gezeugt hatte (1. Kor 4,15), vermochte ihn zu beleidigen oder seine Gefühle für sie zu schwächen. Im Gegenteil, wir lesen in 2. Korinther 12,15: „Ich will aber sehr gern alles verwenden und verwendet werden für eure Seelen, wenn ich auch, je überschwänglicher ich euch liebe, umso weniger geliebt werde.“ Er dachte nicht im Geringsten an sich, nicht im Geringsten an das ihm zugefügte Unrecht, sondern nur an das Wohl der teuer erkauften Seelen. „Wir beten zu Gott, dass ihr nichts Nebels tut, nicht auf dass wir bewährt erscheinen, sondern auf dass ihr tut, was recht ist, wir aber als Unbewährte seien“ (2. Kor 13,7).

Das ist die wahre Gesinnung, die allein zu einer gesegneten Ausübung dieses Dienstes fähig macht. „Die Liebe ist langmütig, ist gütig; die Liebe eifert nicht, die Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf, sie gebärdet sich nicht unanständig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie denkt nichts Böses usw“ (1. Kor 13,4–5). Diese Liebe, verbunden „mit Erkenntnis und aller Einsicht“, wird die Zucht stets als eine heilige Pflicht erkennen und dem Geist Christi gemäß ausüben; wenn die Liebe nicht wirksam ist, so wird die Ausübung der Zucht nur eine tote, kalte und wirkungslose Form sein und allerlei Streit erzeugen.

Es können Fälle eintreten, dass sich jemand für unfähig oder nicht für geeignet hält, einen Bruder, den er in Gefahr sieht, zu ermahnen oder zurechtzuweisen. Es mag sein, aber der Weg, den betreffenden Bruder mit Gebet und Flehen vor den Herrn zu bringen, steht ihm immer offen; ebenso kann er, wenn er dazu Gelegenheit hat, mit einem begabten Bruder über die Sache reden. In beiden Fällen aber hat er über sich zu wachen, einerseits dass er nicht in einem pharisäischen Geist, der sich besser hält als andere, sondern im Geist der Gnade vor Gott komme, und andererseits dass ihn nur die Liebe zu dem Bruder treibe, die Sache mitzuteilen, und nicht ein geheimes Wohlgefallen, ihn anzuklagen und seine Sünde aufzudecken.

Es ist ein sehr verwerflicher Gedanke, wenn man meint, jedes Böse allen mitteilen oder vor die Versammlung bringen zu müssen. Ein solches Verfahren ist gewiss nicht nach der Natur der Liebe. Ihr Streben geht nie dahin, das Böse aufzudecken, sondern es zuzudecken d. h. dafür Sorge zu tragen, dass es hinweggetan und nie mehr daran gedacht werde. „Vor allen Dingen aber habt unter einander eine inbrünstige Liebe; denn die Liebe bedeckt eine Menge Sünden“ (1. Pet 4,8). Sie ist sowohl durch ihren Dienst bemüht, die Sünden zu verhindern, als auch sie aus dem Weg zu räumen, wenn sie vorhanden sind. Ist dies auf eine Gott gemäße Weise geschehen, so haben sich andere nicht damit zu beschäftigen und sie auch folglich nicht zu wissen. Es handelt sich hier natürlich nicht um Sünden, wobei die ganze Versammlung in Mitleidenschaft kommt, um Sünden, die schon offenbar sind (Schluss folgt).

Fußnoten

  • 1 Derselbe soll nicht nur vom Tisch des Herrn, sondern auch von jedem Mahl, das den Zweck hat, der brüderlichen Gemeinschaft Ausdruck zu geben, ausgeschlossen sein.
  • 2 Es heißt hier nicht: „So sei er dir wie der Heide und der Zöllner“, wie der Herr in Matthäus 18,17 zu demjenigen sagt, dessen. Bemühungen, seinen Bruder, der wider ihn gesündigt, zur Einsicht zu bringen, bis zum Ende hin ganz erfolglos bleiben; noch heißt es: „Tut den Bösen von euch selbst hinaus“, wie in 1. Korinther 5, sondern: „Habt keinen Umgang mit ihm“, und: „Weist ihn zurecht als einen Bruder.“ Wir sollen allen Verkehr mit ihm meiden, auf die deutlichste Weise zu erkennen geben, dass wir seinen unordentlichen Wandel auf das entschiedenste verwerfen; aber andererseits jede Gelegenheit benutzen, ihn mit Ernst und in brüderlicher Liebe auf sein trauriges Verhalten aufmerksam zu machen.
  • 3 Natürlich ist die örtliche Versammlung gemeint, mit welcher jener in Gemeinschaft ist.
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