Botschafter des Heils in Christo 1868

Kurze Betrachtungen

1. In Lukas 22 lesen wir ein Wort des Herrn, welches wir in Matthias 26, wo uns dieselbe Szene bei dem Mahl des Passahlammes vor Augen gestellt wird, nicht finden. Der Herr sagt nämlich zu seinen Jüngern, nachdem Er sich mit ihnen zu Tische gelegt hat: „Mit Sehnsucht habe ich mich gesehnt, das Passahlamm mit euch zu essen.“ – Wir denken gewöhnlich nur daran, wie viel Verlangen und Bedürfnis wir haben, um das Abendmahl des Herrn zu nehmen, und ob wir, da wir noch so viele Mängel und Gebrechen bei uns wahrnehmen, dasselbe auch würdig genießen. Doch wie wichtig solche Fragen an ihrem Platz auch sind, so ist es doch wohltuend für unsere Herzen, hier den Herrn sagen zu hören: „Mit Sehnsucht habe ich mich gesehnt, das Passah mit euch zu essen.“ – Sicher dachte Er bei diesen Worten nicht allein an das Passah, sondern auch an die Einsetzung des Abendmahls; und sicher ist es auch jetzt noch der Wunsch und das Verlangen seines Herzens, uns an seinem Tisch versammelt zu sehen, um seinen Tod zu verkünden. Man kann kaum begreifen, wie so viele Christen zufrieden sind, nur dann und wann am Tisch des Herrn zu erscheinen, indem sie ihre Schwächen und Unvollkommenheiten vorschützen oder auch ihre Befürchtung, dass Mahl unwürdig zu genießen oder eine Gewohnheit daraus zu machen und somit gleichgültig zu werden, als den Grund ihres so seltenen Genusses des Abendmahls bezeichnen. Waren denn die Jünger etwa nicht schwach? Und ist das Brotbrechen nicht ein Stärkungsmittel und gerade uns darum dargeboten, weil wir schwach sind? Gewiss wenn nicht die Schwachen daran Teil nehmen dürfen dann ist jeder Christ von diesem Segen ausgeschlossen. Es ist ungemein köstlich zu gewähren, dass der Herr gerade zu den schwachen Jüngern, aus deren Kreise einer Ihn hernach verleugnete, und drei, nicht eine Stunde mit Ihm zu wachen vermochten, die rührenden Worte sagte: „Mit Sehnsucht habe ich mich gesehnt.“ Wenn wir schwach sind, so finden wir hier am Tisch des Herrn Stärkung und neue Kraft; wenn wir das Mangelhafte unserer Liebe entdecken, so können wir hier durch die große Liebe des Herrn, der uns seinen gebrochenen Leib und sein vergossenes Blut zeigt, zur Liebe gereizt und aufgemuntert werden, um Ihn, der so viel für uns getan und uns so unaussprechlich liebt, wieder lieben zu können. Bei den Korinthern war der Apostel gezwungen, einen ernsten Tadel auszusprechen; denn sie kamen zusammen zum Tisch des Herrn und machten ihn zu einem gewöhnlichen Tische. Sie kamen zusammen und aßen und tranken, und diejenigen, welche zuletzt kamen, blieben hungrig, während die anderen satt und gar trunken waren. – Der Tisch des Herrn aber wird auch noch in unseren Tagen, wenn auch in anderer Weise wie bei den Korinthern, viel verunehrt. Auch jetzt macht man ihn oft zu einem gewöhnlichen Tische, dem ein jeder, falls er nur die Form eines Christen hat, ungewehrt nahen darf. Gewiss, wenn der Herr selbst sichtbar dabei gegenwärtig wäre, würde mancher erschreckt zurückweichen; gewiss aber auch würden die Kinder Gottes, sich dann sagen müssen, dass sie in dieser Weise unwürdig essen, indem sie an einem Tisch sich befinden, an welchem selbst die größten Feinde Christi Platz genommen haben. Es ist dieses auch immer ein Beweis, dass ein Christ wenig versteht von seinem wirklichen Verhältnis zum Herrn, wenn er fürchtet, durch eine öftere, jeden Sonntag wiederholte Teilnahme am Brotbrechen gleichgültig zu werden. Wäre es denn wohl möglich, dass eine Braut sagen könnte: „Ich will mich lieber nicht so oft an die Liebe meines Bräutigams erinnern, denn es möchte mich gleichgültig machen oder mir zur Gewohnheit werden?“ Nein, gewiss nicht. Und wie könnte dieses bei einem wahren Kind Gottes der Fall sein? Könnte man nicht mit demselben Rechte sagen: „Ich will nicht so oft beten, und nicht so oft im Wort Gottes lesen, weil mir sonst dergleichen zur Gewohnheit werden würde?“ – In der Tat gibt es nichts, was uns zu einem würdigen Wandel zu stärken vermag, als das Bewusstsein der vollkommenen Liebe Gottes; und der Tisch des Herrn ist der Platz, wo Er in der bestimmtesten Weise von seiner unvergleichlichen Liebe zu uns reden will.

Wir lesen in Apostelgeschichte 27,23 die Worte des Paulus: „Es stand in dieser Nacht bei mir der Engel des Gottes, dessen ich bin, dem ich auch diene.“ Es ist wohl nichts mehr geeignet, unsere Herzen in den schwersten Drangsalen zu trösten und unseren Mut in den größten Gefahren aufrecht zu erhalten, als das Bewusstsein, dem Herrn anzugehören und ihm zu dienen. Bei jener gefahrvollen Schifffahrt nach Rom waren alle verzagt und voll Furcht, indem sie nur ihren Untergang vor sich sahen. Doch Paulus, der Gefangene, war völlig ruhig und getrost. Sein Glaubensauge blieb unverrückt auf den Gott gerichtet, der Wind und Meer völlig in seiner Gewalt hatte, und dessen weiser Leitung er sich willig unterwarf. Kein Murren erhob sich in seiner Seele, denn er kannte die Liebe und Gnade dessen, dem er sich anvertraut hatte. Keine Furcht ängstete sein Gewissen, denn er wusste, dass er das Eigentum des Gottes war, der Seinen eingeborenen Sohn für ihn dahingegeben hatte. Keine Unruhe erfüllte sein Herz, weil er mit Treue und Ergebenheit dem Gott diente, von dem allein alles abhängig war. Deshalb war sein Herz gutes Mutes inmitten der größten Gefahren, und er war sogar fähig. Andere zu trösten. – Wir begegnen derselben Ruhe und demselben freudigen Mut bei den drei Männern Schadrach, Meschach und Abed–Nego vor Nebukadnezar (Dan 3), dessen Bild anzubeten sie sich weigerten. Auch sie konnten sagen: „Unser Gott, dem wir dienen.“ Wie aber kann jemand ruhig, getrost und voll Mut sein, wenn dies Bewusstsein sein Herz nicht erfüllt! Wenn er seiner Annahme nicht völlig gewiss ist, oder nicht weiß, dass Gott sein Gott ist, so kann er unmöglich auf ihn vertrauen, Und wenn sein Gewissen ihn anklagt, dass er untreu, nachlässig und säumig im Dienst des Herrn ist, dass er sich selbst und der Welt lebt, so wird ihm inmitten der Gefahren und Versuchungen die Freimütigkeit mangeln, sich auf den Gott zu stützen, den er auf eine so traurige Weise vernachlässigt hat. Nur dann, wenn ich mit Ruhe daran denken kann, was er für mich ist und was ich für Ihn bin, bin ich auch in den mannigfachen Versuchungen getrost und gutes Mutes. Der Herr gebe daher, dass wir uns täglich diese wichtigen Fragen mit aufrichtigem Ernst zu beantworten suchen, wozu uns namentlich die gegenwärtige Zeit so dringend mahnt.

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