Botschafter des Heils in Christo 1868

Wen suchst du?

Eine ernste Frage! Doppelt ernst, wenn sie, wie einst am offenen Grab, über die Lippen des guten Hirten hervordringt. Dort sehen wir Maria Magdalena. Trostlos starrt ihr mit Tränen benetztes Auge in die leere Gruft. Vergeblich sucht sie den teuren Herrn, dem allein ihre Tränen gelten; und die Worte: „Sie haben meinen Herrn weggenommen“, – verraten die Ursache eines tiefen Kummers, der ihr ganzes Herz durchbohrt. Jetzt besaß sie nichts mehr. Die leere Gruft bezeugte es laut, dass sie alles dessen beraubt war, was ihr Herz liebgewonnen hatte; nicht einmal der Leib des Gestorbenen war ihr geblieben. Nirgends war Trost für ihr verwundetes Herz zu finden, und ihr Schmerz war so groß, dass selbst die Erscheinung zweier Engel in weißen Kleidern ihre Tränen nicht zu trocknen vermochte. Was hätte sie auch in diesem feierlichen Augenblicke zu fesseln vermocht, wo ihr ganzes Sehnen, wo all ihre Gedanken auf nur einen Gegenstand, auf ihren geliebten Herrn, gerichtet waren? Sicher, bei einer so schwachen Erkenntnis ein solches Herz für Jesus zu sehen, ist erstaunenswert. Zwar hatten ihre Blicke auf Ihm geruht, zwar hatte ihr Ohr auf seine köstlichen Worte gelauscht und ihr Herz seine überschwängliche Gnade und Liebe in reichem Maß erfahren; aber nichtsdestoweniger ging ihr Verständnis nicht über sein Grab hinaus. Sie kannte weder die Herrlichkeit seines Kreuzes, noch die seiner Auferstehung. Die Worte: „Er ist um unserer Übertretung wegen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden“ (Röm 4,25), waren ihr noch dunkel und verborgen; und ebenso wenig war die herrliche Hoffnung unserer himmlischen Berufung ihren Blicken enthüllt. Aber sie liebte Ihn und liebte Ihn über alles. Ihre Gefühle für den Herrn waren augenscheinlich weit tiefer, als die des Petrus und Johannes; denn diese kehrten, als sie das Grab leer fanden, sogleich nach Haus zurück, während Maria die öde Grabstätte nicht verlassen konnte, bevor sie ihren geliebten Herrn gefunden hatte.

Welch eine nachahmungswürdige Liebe! Wie beschämend für uns, wenn wir, seine Jünger, bei einem weit größeren Verständnis in Betreff seines Werkes und seiner aufopfernden Liebe, oft eine so tadelnswerte Kälte und Gleichgültigkeit zur Schau tragen. Wir rühmen uns dessen, was Er für uns getan hat und was Er für uns ist; und dennoch, ach! ist Er so selten der Mittelpunkt unserer Gedanken und Gefühle, und so selten der einzige Gegenstand unserer Gemeinschaft, unserer Freude, unserer Hoffnung, sowie unseres Lebens und Wandels hienieden, während unsere armen Herzen durch eitle und vergängliche Dinge gefesselt und durch die Blendwerke dieser Welt so sehr beeinflusst werden. Deshalb wird es sicher gesegnet sein, wenn wir uns, bevor wir in den oben angeführten Schriftabschnitt weiter eingehen, in der Gegenwart und dem Licht Gottes die ernste, feierliche Frage vorlegen: „Wen oder was suche ich?“

Vielleicht hat der eine oder der andere unserer Leser noch wenig oder gar nicht über das Heil seiner Seele ernstlich nachgedacht; und an ihn möchte ich zunächst die wichtige Frage richten: „Wen oder was suchst du?“ Sind es nicht eitle und vergängliche Dinge, während du mit raschen Schritten der Ewigkeit entgegeneilst und vielleicht bald vor dem Richterstuhl Christi erscheinen wirft, wo du von jedem unnützen Gedanken, Worte und Werke Rechenschaft geben musst? Welch einen Wert werden dann diese Dinge für dich haben? Wird irgendetwas von dem, was du suchst, dich sicherstellen vor dem alles durchdringenden Auge des heiligen und gerechten Gottes? Armer Tor! Wäre die ganze Welt in deinem Besitz, so wird am Tag des Gerichts deiner schuldbeladenen Seele doch alles fehlen vor dem Angesicht dessen, der Herzen und Nieren prüft. Nur einer kann dich in Sicherheit bringen, – nur Er, den Maria am offenen Grab mit Tränen suchte, und den du nimmer von Herzen gesucht hast. Außer Jesu findest du keinen Heiland, keinen Erretter. Von einer unergründlichen Liebe getrieben, betrat Er den Schauplatz der Sünde und des Verderbens und nahm auf dem Kreuz den Platz des fluchwürdigen Sünders im Gericht ein, um denselben von einem unbeschreiblichen Elende zu befreien und Ihn in seine Herrlichkeit einzuführen. Und in seiner überströmenden Gnade und Liebe ruft Er schon seit Jahrhunderten den Sündern zu: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor 5,20) und: „Wer da dürstet, komme; und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst“ (Off 22,17). Für jeden, im Vertrauen nahenden Sünder sind seine Gnadenarme weit geöffnet; denn Er selbst sagt: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.“ Ist ein Sünder bereit zu kommen, so ist Er noch viel mehr bereit, ihn zu empfangen. In seinen schrecklichsten Leiden erhob Er für die sein Kreuz umringenden, ruchlosen Spötter die Fürbitte: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er vergoss Tränen über Jerusalem, weil man seine erbarmende Liebe in törichter Verblendung verwarf und sich mutwillig dem kommenden Gericht überlieferte, welches einmal unausbleiblich über alle hereinbrechen wird, die seine und die Liebe dessen, der Ihn gesandt hat, geringschätzen. Und sicher, mein teurer Leser, befindest auch du dich in den Reihen dieser unglücklichen Verächter, solange du nicht zu Ihm, als deinem alleinigen Erretter gekommen bist. Nicht nur wegen deiner zahllosen Sünden wird sein Gericht dich ereilen, sondern vor allem auch deshalb, weil dir der Heiland angeboten worden ist und du Ihn nicht gewollt hast. „Eile und errette deine Seele!“ Nimm zu Herzen das teure und unwandelbare Wort seines eigenen Mundes: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben hinübergegangen“ (Joh 5,24). Nichts kann einfacher und bestimmter sein. Darum höre und glaube, damit du für immer dem kommenden Gericht entfliehst und des ewigen Lebens teilhaftig wirft!

Vielleicht wendet mir ein anderer meiner Leser ein, dass er schon lange, aber vergeblich gesucht habe. Es ist möglich; jedoch kommt es ganz darauf an, wie und was man sucht. Der Herr Jesus ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist. Kommst du nun nicht als ein verlorener, verdammungswürdiger Sünder, so kommst du vergeblich; denn du kommst nicht, wie du bist; und darum fehlt die Aufrichtigkeit deines Herzens. Oder suchst du, gleich vielen den Frieden deiner Seele, die innere Überzeugung deiner Errettung, oder süße Gefühle für dein Herz, so suchst du nicht Jesus, in welchem allein dieses alles gefunden wird. Wäre Er nicht völlig bereit, den verlorenen Sünder zu empfangen und zu erretten, so würde Er nimmer gesagt haben: „Kommt her zu mir, alle Mühselige und Beladene, und ich werde euch Ruhe geben;“ (Mt 11,28) und nimmer würde Er die Herrlichkeit des Vaters verlassen und auf dem Kreuz unseren Platz eingenommen haben. Damm komm, wie du bist; ergreife Ihn im Glauben und vertraue allein auf sein Werk, so wird deine Seele errettet und die ewige Herrlichkeit für immer dein Teil sein.

Doch jetzt wende ich mich an dich, der du das Heil deiner Seele in Christus gefunden hast, mit der Frage: „Wen suchst du?“ Es mag dich eine solche Frage befremden, nachdem du Christus, die Quelle aller Segnung, gefunden hast. Doch merke ein wenig auf. Nach deinem Bekenntnis ist der Herr dein köstlichstes Teil. Du rühmst dich, alle Fülle in Ihm zu besitzen und in Ihm Ruhe für dein Gewissen, Freude für dein Herz und Trost und Hilfe in der Wüste gefunden zu haben; und nichtsdestoweniger Haft du vielleicht begonnen. Etwas außer Ihm zu suchen. Woher anders kommt die Dürre und Kälte deines Herzens – woher so manche Schwierigkeit, in die du dich verwickelt hast? Sind diese traurigen Erscheinungen nicht ein gewisses Zeichen, dass du dich mehr oder weniger von der wahren Quelle abgewandt und in sichtbaren, irdischen Dingen deine Befriedigung gesucht hast? Wie aber könnte ein himmlischer Mensch in irgendwelchen Dingen dieser Welt Speise und Trank für seine Seele, und Kraft und Fähigkeit zu einem würdigen Wandel finden? Solche Dinge bringen nur Elend und Erschlaffung hervor, stumpfen den geistlichen Sinn mehr und mehr ab und verwickeln uns immer unauflöslicher in die Schlingen der eigenen Wege. Anstatt das Herz mit Friede und Freude, mit Lob und Dank zu erfüllen, bringen sie Unruhe, Ungewissheit, Unzufriedenheit, Sorge und Mutlosigkeit hervor. Wie nötig ist es daher in einem solchen Zustand, stille zu stehen und in der Gegenwart Gottes die Frage an seine Seele zu richten: „Wen oder was suchst du?“ Solange Jesus allein der Gegenstand deines Suchens war, wohnte Glück und Frieden in deinem Herzen, und dein Weg war einfach; du lebtest für Ihn und erfreutest dich in Ihm. Sobald aber das Gefühl deiner Anhänglichkeit an Ihn erkaltete und demzufolge dein Umgang mit Ihm erschlaffte, da suchtest du Ersatz in den sichtbaren Dingen und trachtetest, anstatt dich in der Erwartung der baldigen Ankunft des Herrn zu erfreuen, nach einem Platz in dieser Welt und nach einer irdischen Ruhe für kommende Tage. Doch welch traurige Folgen knüpfen sich an einen solchen Zustand! O mein, teurer Leser, gehe nicht weiter voran in einer solchen Gesinnung! Es ist ja der treue und geliebte Herr, der auch jetzt bemüht ist. Dein Herz wieder für sich zu gewinnen und es durch seine Gegenwart zu erfreuen.

„Nun“ – sagst du vielleicht – „ich erkenne meine Untreue an und weiß, dass ich mir selbst allerlei Schwierigkeiten bereitet habe; aber wie soll es jetzt anders werden? Täglich seufzt mein Herz unter dem Druck der beunruhigsten Sorgen; täglich mühe ich mich ab, Mittel und Wege zu ersinnen, um mich aus den selbstgeschaffenen Umständen heraus zu wickeln; aber alles ist vergeblich.“ – Sicher, mein teurer Bruder, machen es viele wie du; sie haben sich ohne Gott in die schwierigsten Lagen hineingestürzt und möchten sich nun ohne Gott wieder herauswinden. Sie beklagen täglich ihre Schwierigkeiten, aber nicht ihre Untreue vor dem Herrn als die Ursache derselben. Kann eine solche Gesinnung auf die Gnade des Herrn rechnen? Gewiss nicht. Drum wende dich mit ganzem Herzen zu Ihm, bekenne Ihm deine Untreue, deine Leichtfertigkeit, deinen Weltsinn; und du wirst bald finden, dass Er voll von Gnade und Erbarmen ist. Lege alle deine Umstände, wiewohl Er sie kennt, vor Ihn nieder und überlass dich völlig seiner Leitung; und du wirst erfahren, dass sein Arm nicht verkürzt und seine Liebe nicht geschwächt ist. O wie töricht ist es, in allem nicht sogleich zu der lebendigen Quelle seine Zuflucht zu nehmen! Fehlt es dir und den deinigen an Nahrung und Kleidung, so eile zu Ihm und sei versichert, dass Er in reicher Fülle seine milde und segnende Hand öffnen wird. Er selbst ermuntert uns, Ihm stets zu nahen, indem Er sagt: „Der Vater weiß, was ihr bedürft, ehe ihr Ihn bittet.“ – Bist du durch Krankheiten und andere Leiden heimgesucht, so wende dich an Jesus, der die Trübsale dieser Wüste kennt; und du wirft erfahren, wie tief Er mit dir fühlt und wie sehr Er dich zu trösten und dir zur rechten Zeit zu helfen vermag. Niemand fühlt eine Teilnahme mit deinen Kümmernissen wie Jesus; niemand ist mitteilender in Zeiten des Mangels, niemand mitfühlender in den Tagen der Leiden und Schmerzen, als Er. Sein Herz war innerlich bewegt über die ihn umringende, hungernde Volksmenge; und niemand durfte ungesättigt von dannen gehen. Und vergoss Er nicht Tränen mit den Weinenden am Grab des Lazarus? Und sollte jetzt sein liebevolles Herz verändert sein? Nein; seine Liebe ist unwandelbar; und ob auch jetzt eine Wolke Ihn unserem Auge verbirgt, so sind wir Ihm doch nicht verborgen mit allen unseren Versuchungen. Darum eile zu Ihm mit all deinen Anliegen mit Bitten und Flehen und Danksagung, da wird dein Weg einfach und gesegnet sein.

Schließlich möchte ich noch mit Bezugnahme auf eine andere Sache den gläubigen Leser fragen: „Wen suchst du?“ Wenn du mit anderen Gläubigen am Tisch des Herrn, oder zum Gebet, oder zur Erbauung zusammenkommst, ist dann Jesus der köstliche Gegenstand, der dein Herz erfüllt, oder kommst du etwa nur aus Pflicht oder Gewohnheit, oder zur Beruhigung deines Gewissens? Bist du mit einem dankerfüllten Herzen gegenwärtig, um Lob und Anbetung Ihm darzubringen, der sein Leben für dich hingegeben und sein teures Blut für dich vergossen hat? Oder sind deine Gedanken, zerstreut und auf die Dinge des alltäglichen Lebens gerichtet? Kommst du, um Ihm zu begegnen und die Stimme dessen zu hören in dessen Augen du so wertgeachtet bist, oder suchst du die hervorragende Gabe irgendeines Arbeiters des Herrn? Diese Fragen sind wichtig genug, um sie mit aller Aufrichtigkeit vor dem Herrn zu erwägen. Suchst du Jesus in der Mitte derer, die in seinen: Namen versammelt sind, so wirst du nimmer vergeblich kommen; und nimmer wird Er dich ungesegnet von dannen lassen. Suchst du aber etwas außer Ihm, so wirft du dich oft getäuscht finden; und deine Seele wird matt und dürre werden. Suchst du in Wahrheit Jesus, so wünschest du auch seine Verherrlichung und bist voll Eifer für die Ehre seines Namens; anders aber wirst du nur an dich selber denken. Möchte der Herr doch in dieser so wichtigen Sache unser aller Augen öffnen, um das falsche Suchen zu entdecken, wodurch wir uns so oft des wahren Segens berauben; möchte Er unser aller Herzens erleuchten, um seine unvergleichliche Liebe mehr zu würdigen und zu genießen!

Doch kehren wir jetzt zu unserem Schriftabschnitt zurück, um zu sehen, wie der Herr der mit vielen Tränen Ihn suchenden Maria begegnet. Sicher war die Stätte des Grabes nicht der Platz für einen auferstandenen Heiland; aber es war der Platz für den guten Hirten, weil dort ein Schäflein voll tiefer Betrübnis Ihn suchte. Wie hätte auch sein mitfühlendes Herz fernbleiben können, während das Auge einer von Kummer und Elend niedergebeugten Seele Ihn mit Tränen suchte, um das trostbedürftige Herz vor Ihn: auszuschütten? Seine Liebe ist unergründlich; sie ist stärker als der Tod. Die Gefühle der Seinen gegen Ihn wechseln gar oft; aber seine Liebe zu ihnen bleibt ewig dieselbe. Welch ein tröstliches Bewusstsein für unsere armen, schwachen Herzen!

Der Herr war nahe; aber Maria erkannte Ihn nicht. Ihre mit Tränen benetzten Augen suchten nicht den auferstandenen, sondern den gestorbenen Jesus. „Sage mir, wo du Ihn hingelegt hast; und ich werde Ihn wegholen.“ Ihr Verständnis ging in Betreff seiner nicht über das Grab hinaus. Oft zwar hatte der Herr von seinem Tod am Kreuz und seiner Auferstehung gesprochen; aber weder bei ihr, noch bei den Jüngern war für diese Wahrheit das Ohr geöffnet. Doch geöffnet war ihr Ohr, um, sobald Er sie bei Namen rief, seine Stimme erkennen zu können. Das Kind unterscheidet die Stimme der Mutter; und das Schaf kennt die Stimme des Hirten. „Meine Schafe hören meine Stimme; und ich kenne sie, und sie folgen mir“ (Joh 10,27). Kaum ertönt der Ruf: „Maria!“ über die Lippen des Herrn, so folgt von Seiten der Angeredeten sofort ein freudiges „Rabbuni!“ Welch eine Überraschung! Nicht umsonst hatte sie geweint, nicht vergeblich gesucht. Er selbst – nicht der tote, sondern der lebende Christus – stand vor ihr. Alle ihre Erwartungen waren weit übertroffen. Ihr Tränenquell versiegte; ihre große Traurigkeit verwandelte sich plötzlich in überschwängliche Wonne.

Glückliche Maria! – und dennoch, um wie viel größer wird die Überraschung all der Seinen sein, wenn sie nach so langem Sehnen und Harren Ihm bei seiner Wiederkunft begegnen! Gewiss jeder menschlichen Sprache wird der Ausdruck fehlen, um das Maß dieser überströmenden Freude auch nur annähernd bezeichnen zu können. Doch auch jetzt wird Er unser Vertrauen nimmer beschämen; in allen unseren Lagen und Umständen wird uns, wenn wir sein Antlitz suchen. Seine erbarmende Liebe in Fülle zu Teil werden. Möchten nur während unserer Pilgerschaft hienieden unsere Ohren stets weit geöffnet sein, um seine Stimme zu unterscheiden; und möchten unsere Herzen stets bereit sein. Seiner Stimme allein zu folgen.

Freilich sind die Worte des Herrn: „Rühre mich nicht an; denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater“ (V 17), ein bitterer Tropfen in den Freudenbecher der Maria. Solange wir in dieser Hütte sind, müssen der Natur stets Schranken gesetzt werden. Sie ist immer geneigt, sich in alles hineinzumischen; und der Herr allein weiß ihr zur rechten Seit und auf die rechte Weise zu begegnen. Doch unsererseits tut es Not, im Gebet stets unsere Gefühle zu überwachen, da wir sonst aus Mangel an Einsicht oft irregeleitet werden. Wie mancher hat schon in seiner besten Meinung die traurigsten Dinge vollbracht! Dank dem Herrn, wenn Er in seiner bewahrenden Liebe uns zur rechten Zeit in den Weg tritt, so schmerzlich es auch für uns sein mag! – Maria dachte in diesem Augenblick der freudigen Überraschung wohl nichts anders, als dass der Herr sein seitheriges Verhältnis mit den Seinen auf dieser Erde fortsetzen werde. Diesen Gedanken tritt Er mit den oben angeführten Worten entgegen. Eine Trennung musste vorläufig stattfinden. Der auferstandene Jesus musste zuvor seinen Platz zur Rechten des Vaters einnehmen. Die Welt hatte den Gerechten verworfen; der Vater nahm Ihn auf. Die Erde bot Ihm keinen Platz, um sein Haupt darauf niederlegen zu können; aber der Himmel öffnete sich Ihm mit Frohlocken.

Sicher warfen diese Worte einen finsteren Schatten in das freudetrunkene Herz der Maria; aber der Herr hatte sofort eine neue Botschaft bereit, um den Freudenstrom in Bewegung zu erhalten. Konnte auch sein bisheriges Verhältnis auf der Erde nicht auf eine sichtbare Weise fortgesetzt werden, so sollte doch jetzt im Geist ein Verhältnis stattfinden, das seiner Natur und seinem Charakter nach viel tiefer und inniger war. „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, und zu meinem Gott und eurem Gott“ (V 17). Welch ein herrlicher Auftrag aus dem Mund des auferstandenen Herrn selbst! Jede Schranke zwischen Ihm und den Seinen war für immer niedergerissen. Es war die Frucht seines auf dem Kreuz vollbrachten Werkes. Ihre Sünden sind für immer getilgt; und für immer sind sie der Macht der Finsternis und der Sünde entrissen. Der auferstandene Heiland kann sie jetzt mit sich auf denselben Boden stellen. „Gehe hin zu meinen Brüdern!“ Sie gehören nicht mehr der Welt an; sie sind für immer sein; Er nennt sie seine „Brüder“. Sein Vater ist ihr Vater, und sein Gott ist ihr Gott. Sie sind geliebt, wie Er, und können „Abba, Vater!“ rufen, wie Er. Nichts vermag sie zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, ihrem Herrn; niemand kann sie je der Hand des Vaters, niemand der Hand des Sohnes entreißen. Das Werk Christi hat sie für immer auf einen unerschütterlichen Boden gestellt.

Wie glücklich war Maria über einen solch herrlichen Auftrag! Sie „kommt und verkündigt den Jüngern, dass sie den Herrn gesehen und Er dieses zu ihr gesagt habe“ (V 18). Ihr Auge hatte Ihn gesehen, und ihr Ohr auf seine Stimme gelauscht; und sie genoss das große Vorrecht, die erste Botin des Auferstandenen zu sein. Ihre Sehnsucht nach dem Herrn und ihre Gefühle für Ihn räumten ihr vor allen Jüngern dieses Vorrecht ein; und diese konnten nur aus ihrem Mund jene herrliche Botschaft vernehmen, womit der Herr die treue Jüngerin persönlich betraut hatte.

O möchten doch auch wir bedenken, dass der Herr noch bis zu dieser Stunde bereit ist, sich uns zu offenbaren und uns zu Trägern seiner Botschaft zu machen! Doch vergessen wir nicht, dass wir nur dann seine Stimme vernehmen, wenn wir in einem lebendigen Verkehr mit Ihm stehen und seine gesegnete Gemeinschaft verwirklichen. „Wer mich liebt, der wird von meinem Vater geliebt werden, und ich werde Ihn lieben und mich selbst ihm offenbar machen“ (Joh 14,21). Möge der Herr durch seinen Geist diese Worte tief in unsere Seele prägen!

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