Botschafter des Heils in Christo 1868

Israel vor Kanaan

Israel vor Kanaan! Welch ein ausgedehntes Feld der herrlichsten Betrachtungen öffnet sich hier unseren Blicken! Der lange Zug durch die Wüste hat sein Ende erreicht; die Leiden und Mühsale sind durchgekämpft und das so reich gesegnete, von Milch und Honig überströmte Land breitet sich vor ihren Augen aus. Nur noch ein Strom muss überschritten werden, und der Streit gegen die Bewohner Kanaans wird beginnen. Israel kann auf eine bedeutungsvolle Vergangenheit zurückschauen; aber auch eine nicht minder wichtige Zukunft harrt seiner. Die Wüste – o sie war der Schauplatz unzählbarer Wohltaten Gottes gewesen, die umso herrlicher hervorstrahlten, da sie einem halsstarrigen und stets murrenden Volk zu Teil geworden waren! Und Kanaan – o dieses gesegnete Land sollte der Schauplatz noch größerer Machtbeweise und Wohltaten Gottes werden, während der Jordan, welcher Kanaan von der Wüste trennte, in vorderster Reihe Zeugnis ablegen sollte von der Macht Gottes und von dem Glauben des Volkes. Wie lehrreich ist auch für uns diese Geschichte! Verweilen wir daher einige Augenblicke 1. bei dem Leben der Kinder Israel in der Wüste, 2. bei ihrem Durchzug durch den Jordan, und 3. bei ihrem Kampf in Kanaan. 1. Das Leben der Israeliten in der Wüste war das Leben eines Fremdlings. Nicht ein Fußbreit Erde gehörte ihnen; das ihnen verheißene Eigentum, ihr rechtmäßiges Erbteil war Kanaan. Ihre Zelte sollten festen Städten Platz machen; statt der unabsehbaren Sandfläche sollte sich der fruchtbare und wasserreiche Boden des verheißenen Landes vor ihren Blicken ausbreiten, ihre Kleider – diese Zeugen ihrer ägyptischen Sklaverei – sollten durch reiche, zierliche Gewänder ersetzt werden.

Und ist nicht in Betreff unserer Stellung dasselbe der Fall? Ist der Gläubige nicht auch ein Fremdling auf Erden? Wahrlich seine Heimat ist im Himmel, dort ist sein Erbteil und sein Eigentum. Ach! von wie wenigen Christen wird dieses erkannt und verwirklicht. Wie wenig steht im Allgemeinen das Leben mit dieser Wahrheit im Einklänge! Statt der Fremdlingschaft findet man ein Trachten und Jagen nach den Dingen dieser Erde. Wie sehr müht sich mancher ab, um in dieser Wüste in Besitz etlicher Quadratruten Land zu gelangen! Und leider findet mancher bei günstigem Erfolg oft eine größere Ursache zur Freude, als in dem Bewusstsein, ein „Erbe Gottes und ein Miterbe Christi“ zu sein.

Wie gesegnet aber ist es, wenn die Kinder Gottes das Gefühl haben, dass hienieden alles das Gepräge der Fremdlingschaft an sich trägt! Eine leichte, tragbare Hütte ist die Wohnung des Fremdlings; und mit Abraham erwartet er die „Stadt, welche Grundlagen hat, deren Schöpfer und Baumeister Gott ist“ (Heb 11,10). Die Hütte war nur eine Aushilfe, die der festen Wohnung Platz machen sollte; und auch unsere Behausung ist – mögen wir einen Palast oder eine Hütte bewohnen – nichts als eine Aushilfe, bis der Herr Jesus kommt, um uns in unsere bleibende Wohnung einzuführen, die Er bei seinem Vater bereitet hat. Das Zelt oder die Hütte diente nur zum Schutz gegen die Kälte der Nacht und gegen die Hitze des Tages, zum Ruheplätze gegenüber den Mühseligkeiten der Wüste; und wenn wir unsere Wohnung von dieser Seite betrachten, dann können wir Gott danken für die Hütte, die Er uns gibt; und ist das Auge jener Stätte zugewandt, die Jesus uns bereitet, dann werden wir bewahrt bleiben, ein solches Zelt in eine feste Wohnung umzuändern. Ja, dann werden die Klagen über das Ermüdende des Zeltenlebens verstummen; denn das Herz ist erfüllt mit dem Gedanken, dass, wenn der Ruf: „der Herr ist gekommen!“ das Ohr erreicht, das Zelt einer festen Wohnung den Platz geräumt haben wird.

War indes das Leben in der Wüste für Israel eine Fremdlingschaft, so trat hier zugleich die treue Fürsorge in das klarste Liebe hervor. Der Boden der Wüste war dürre und unfruchtbar; hier zu pflügen und zu säen wäre eine höchst nutzlose Arbeit gewesen, und genießbares Wasser gehörte zu den größten Seltenheiten. Was sollten die Israeliten in solchen Umständen beginnen? Die Wüste bot ihnen nur die trostlose Aussicht, vor Hunger und Durst zu sterben. Und dennoch mussten sie nach einer Wanderschaft von vierzig Jahren bezeugen, dass sie niemals Mangel gehabt hatten; denn der Herr hatte sie mit allem versorgt. Durch eigene Kraft, durch eigene Anstrengung vermochten sie sich nichts zu verschaffen, aber der Herr sorgte für sie. An jedem Morgen konnten sie so viel Manna sammeln, als ein jeder von ihnen bedurfte; Mangel gab es nicht; aber sie konnten sich auch nichts für die anderen Tage zurücklegen. Auf Gott musste stets ihr Auge gerichtet sein. Er war der Geber; und der Himmel war ihre Vorratskammer. Fehlte es an Wasser, so machte Er die Felsen zu Strömen, um das Volk zu tränken. Mit Kleidern konnten sie sich nicht versehen; aber Gott trug Sorge, dass ihre Gewänder nicht veralteten und ihre Fußsohlen nicht abgetragen wurden. Welch eine Fürsorge erwies Gott seinem Volk; ja, es war ihr Gott, der an nichts gebunden war. Eine dürre Wüste konnte Ihn nicht verhindern. Seinem Volk alles zu geben, was es nötig hatte. Darum konnten auch die Pilger, deren Auge auf den Herrn gerichtet war, und die tagtäglich dieses alles erfuhren, Ihn preisen für eine solch wunderbare Gnade.

Dennoch hat der Unglaube, an einem solchen Gott nicht genug. Der Unglaube muss sehen und bedarf der Vorratskammern, die für mehr, als ein ganzes Leben gefüllt sind. Hat Gott nicht ein Recht, seine Kinder bei den ängstlichen Fragen in Betreff der Notdurft dieses Lebens, auf die Geschichte seines Volkes Israels hinzuweisen? Scheinbar mag hier ein Unterschied sein; in der Wirklichkeit aber ist es mit den Christen gerade so gestellt, wie mit den pilgerndes Israeliten; und glückselig ist ein jeder, der, durchdrungen von dem Gefühl seiner Abhängigkeit und Ohnmacht, das Auge allein auf den Herrn gerichtet hält, und der jedes Stück Brot und jeden Trunk Wasser nicht als die Frucht seines Wirkens, sondern als eine Gabe dessen betrachtet, der seine Vorratskammern öffnet, und der da „sättigt alles, was da lebt, mit Wohlgefallen.“ Aber ach, wie wenig wird diese Abhängigkeit unter den Kindern Gottes gefunden! Bis zu einem gewissen Gerade wird allerdings diese Abhängigkeit anerkannt; aber dass in dieser Beziehung unsere Stellung derjenigen der Kinder Israel in der Wüste gleicht, wird selten von Herzen eingeräumt. AZ ist wahr, die Mittel, deren sich Gott bedient, sind nicht immer dieselben; aber dieses ändert die Wahrheit selbst nicht. Sollte es nicht der Fall sein, dass viele Kinder Gottes, wenn man sie nach den Mitteln zur Bestreitung ihrer Notdurft fragen wollte, auf ihren Beruf, auf ihren Verdienst oder ihr Einkommen hinweisen würden? Ach! vielmehr ist das Auge auf diese Dinge gerichtet, als auf den Herrn; und auf diese Weise macht man Gott von unserer Arbeit abhängig, als ob Er derselben bedürfe, um uns unterhalten zu können. In unseren Tagen, wo die Christen so vieles von der Welt angenommen haben, ist es fast so weit gekommen, dass man es höchst töricht finden würde, wenn man behaupten wollte, dass Gott all dieser Dinge nicht bedarf, und dass Er uns ohne dieselben ernähren kann. Und dennoch ist es eine unumstößliche Wahrheit, dass, wenn die Umstände es erfordern. Er Brot aus dem Himmel geben und die Raben zu seinen Boten machen kann; Er ist nicht an die Umstände gebunden. Wie gesegnet würde es für die Kinder Gottes sein, wenn ihre Herzen dieses begriffen; denn dann würden ihre Blicke auf den Herrn und nicht auf die Mittel, auf den Geber und nicht auf die Gaben gerichtet sein; ja, dann würden sie erfahren, dass zwar die Mittel zur Neige gehen können, aber dass Gott stets derselbe bleibt, und im Gefühl ihrer Abhängigkeit würden sie in allen Umständen sagen: „Wenn der Herr das Haus nicht baut, so arbeiten die Bauleute vergebens; und wenn der Herr die Stadt nicht bewahrt, dann wacht der Wächter umsonst.“

Indes begegnet man einem solch gesegneten Zustand darum so selten, weil man den Zweck nicht kennt, um dessentwillen Gott uns erhält. Der Herr hatte Israel verheißen, dasselbe nach Kanaan bringen zu wollen; und sollte diese Verheißung erfüllt werden, dann musste Er sein Volk erhalten; Er musste sie mit allem versehen, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Nicht in der Wüste, sondern in Kanaan floss Milch und Honig; nicht in der Wüste, sondern in Kanaan war Überfluss an allem. In Betreff unserer Versorgung verfolgt Gott keinen anderen Zweck. Seine Absicht ist, uns in die Herrlichkeit einzuführen; und bevor dieses Ziel erreicht ist, gibt Er uns alles, was wir bedürfen. Was der Herr an Israel in der Wüste tat, war weit geringer, als was Er in Kanaan schenken wollte. Unser Aufenthalt auf der Erde ist nur zeitlich; aber das, was Gott zugesagt hat, ist himmlisch und ewig; Er hat uns für den Himmel bestimmt. Es liegt durchaus nicht im Plan Gottes, diese Erde zu einer Stätte der Segnungen für uns zu machen; diese finden wir allein im Himmel. Ein Christ nun, der hier sein Glück sucht, der in irdischen Segnungen seine Befriedigung findet, der durch seine Arbeit, die er auf der Erde verrichtet, sich zu bereichern trachtet, hat den Zweck Gottes, um dessentwillen Er alles darreicht, gänzlich aus dem Auge verloren. Wenn Gott uns mehr gibt, als wir zu unserem Unterhalt bedürfen, dann hat Er dieses unserer Sorge anvertraut, um anderen damit zu dienen. Auch ist es bemerkenswert, dass das Empfangene dessen, was die Israeliten in der Wüste bedurften, nicht von ihrem Glauben abhängig war. Gott gab es ihnen, ohne diese Voraussetzung; denn das Verhältnis, in welchem Er zu ihnen stand, brachte die Sorgfalt für sie von selbst mit sich. Und ebenso ist es mit uns; denn wenn uns der Herr nur nach dem Maß unseres Glaubens darreichen wollte, dann würden wir sicher viel weniger haben, als wir jetzt besitzen. Der Herr ist ein „Erhalter aller Menschen, besonders der Gläubigen“ (1. Tim 4,10). Als Schöpfer aller Menschen, als Vater seiner Kinder, als Herr seiner Diener, hat Er die Versorgung auf sich genommen. In all diesen Beziehungen kann daher kein Glaube gefordert werden; aber der Glaube macht uns geschickt, um uns der Fürsorge Gottes zu erfreuen; und je lebendiger unser Glaube an die Fürsorge Gottes ist, desto mehr werden wir die Überzeugung in uns tragen, dass der Herr alle unsere Bedürfnisse hienieden stillen wird. Unsere Herzen werden dann vollkommen auf Ihn vertrauen; und unser Leben wird trotz der Wüste, stets ein glückseliges sein. 2. Doch es gibt ein herrlicheres Leben, als dasjenige in der Wüste; und es gibt herrlichere Erfahrungen zu machen, als diejenigen von der treuen Fürsorge Gottes. Es ist das Leben durch den Glauben in den himmlischen Örtern; es sind die geistlichen und himmlischen Genüsse eines Wandels im Himmel. Denn dasjenige, was bei Israel nicht zu gleicher Zeit stattfinden konnte, ist für den Christen vereinigt. Als Fremdling auf der Erde wandelnd, kann er durch den Glauben im Himmel leben, da er in Christus Jesus mitversetzt ist in den Himmel (Eph 2,6), und jetzt schon mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus gesegnet ist (Eph 1,3). Der Christ ist ein Fremdling ans Erden und befindet sich auf der Reife zum Himmel; er macht in dieser Stellung Erfahrungen von der Treue Gottes; aber Zugleich gehört er dieser Welt nicht an, und wandelt bereits durch den Glauben im Himmel. Um dazu aber fähig zu sein, muss der Tod und die Auferstehung Christi bei ihm verwirklicht sein; und dieses wird uns in dem Durchzug durch den Jordan bildlich vor Augen gestellt. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Durchzug durch das rote Meer und dem Durchzug durch den Jordan. Das erste Ereignis stellt uns die vollkommene Befreiung in Christus von der Macht des Feindes und des Todes vor. Wir sind mit Christus gestorben und auferstanden und dürfen das Loblied der Befreiung anstimmen. Dieses ist wahr für alle, welche glauben. Und sowie du– Israeliten, bevor sie den ersten Schritt taten, den Weg durch das Meer gebahnt fanden, so haben wir auch alles zubereitet gefunden, als wir zu Jesu kamen. In Betreff des Jordans verhält es sich jedoch ganz anders. Hier ist keine Rede mehr von der Befreiung von der Macht eines Feindes, sondern von dem Eingang ins Land. Hier handelt es sich nicht um das Aufgeben irgendeiner Sache, sondern von der Empfangnahme der Segnungen des Landes. Auch finden wir nicht, dass der Weg für die Priester gebahnt war, welche in dem Wasser des Jordans standen. Hier wurde Glauben gefordert, bevor der Herr seine Macht zeigte. Hätten die Israeliten keinen Glauben gehabt, so würden sie, wiewohl sie von Ägypten befreit waren, nicht in Kanaan angelangt sein.

Wenden wir dieses auf uns an. Es ist möglich, dass ein Christ die Erlösung in Christus angenommen und begriffen hat und dennoch nicht über die Wüste hinausgekommen ist, oder mit anderen Worten, nur Erfahrungen von der treuen Fürsorge Gottes in Bezug auf das Leben hienieden macht. Viele kennen nichts von diesen himmlischen Genüssen. Sie sind bekehrt und besitzen daher alles in Christus; aber weil sie sich ihrer himmlischen Berufung nicht bewusst sind, beweisen sie durch nichts, dass sie der göttlichen Natur teilhaftig sind. Sie kommen in diesem Zustand nie weiter, als bis zur Gewissheit ihrer Errettung und erfahren nur die Treue Gottes. Der Durchzug durch den Jordan stellt uns viel herrlichere Dinge vor Augen. Es ist die Verwirklichung des Todes und der Auferstehung Christi. Der Brief an die Kolosser spricht über die Wahrheit, welche uns der Durchzug durch den Jordan ins Licht stellt. „Wenn ihr dann mit dem Christus auferweckt seid, so sucht, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnt auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist“ (Kol 3,1–2). Und der Apostel sagt im Brief an die Philipper: „Denn unser Wandel ist in den Himmeln, woher wir auch als Heiland erwarten unseren Herrn Jesus Christus“ (Phil 3,20). Um indes in dieser Weise leben zu können, ist es nötig, das eigene Leben zu verlieren; denn ohne dieses ist es unmöglich, in den himmlischen Örtern zu wandeln. Keine Selbstsucht, kein eigener Wille wird dort geduldet. Allerdings hat jeder Christ sein Leben verloren; denn er ist mit Christus gestorben; das Leben, die alte Natur existiert vor Gott nicht mehr, sondern wird als gestorben betrachtet. Wenn dieses nicht wahr wäre, so würde es unmöglich sein, im Wandel das Leben zu verlieren; denn alles, was wir Verwirklichen, muss im Grundsatz wahr sein. Wir könnten nicht heilig wandeln, wenn wir in Christus– nicht heilig wären; wir könnten keine Früchte des Lebens hervorbringen, wenn wir das Leben nicht hätten. Und so auch hier. Wir könnten unseren eigenen Willen, unsere Selbstsucht, mit einem Wort, unser eigenes Leben nicht verlieren, wenn wir in Christus unser Leben nicht verloren hätten. Doch Gott sei Dank! wir haben unser Leben verloren, da Christus für uns starb. Aber nun sollen wir dieses verwirklichen; wir sollen in der Praxis unser Leben verlieren. Wir müssen – um bei unserem Bild zu bleiben – unseren Fuß in die Fluten des Todes stellen; wir müssen mit unserem ganzen Herzen hineingehen. Dann, aber auch nur dann sind wir fähig, durch den Glauben in dem Himmel zu wandeln. Vor dieser Zeit können wir wohl über diese Dinge sprechen; aber die Kraft zur Verwirklichung mangelt. Aber haben mir die Todesfluten wirklich betreten, dann ist Kraft genug vorhanden. Dann ist es das Leben der Seele geworden; man findet in dem Lossein von sich selbst und von der Welt seinen Genuss, seine Freude, sein alles. Und wie herrlich werden die Erfahrungen, die man macht, beschrieben in dem kostbaren Briefe an die Philipper, in jenem Brief, der uns den Wandel des Apostels Paulus in solch schönen Zügen mitteilt! Das sind weit köstlichere Erfahrungen, als diejenigen von der Durchhilfe Lottes in zeitlichen Dingen, wie beachtenswert diese auch an und für sich sein mögen. Es sind himmlische Erfahrungen, unerreichbar für ein Herz, welches sich nur mit der Wüste beschäftigt. O möchten wir alle diese herrliche Wahrheit also verstehen, dass wir nicht eher ruhen, als bis wir sie verwirklichen und ihre köstlichen Früchte genießen! 3. Durch den Jordan führt der Weg nach Kanaan! Ohne den Durchzug durch diesen Strom gibt es keinen Genuss der Segnungen des Landes. Ebenso gibt es auch für uns keinen Wandel in den himmlischen Örtern, keinen Genuss der himmlischen Segnungen, ohne in den Tod zu gehen, d. h. ohne die Verwirklichung des Todes und der Auferstehung Christi. Aber ist man, sobald der Jordan durchschritten ist, sogleich im Besitz des Landes? O nein, die Israeliten mussten kämpfen, um in den Besitz zu gelangen. Das verheißene Land war in den Händen von Feinden; jeder Fußbreit Landes musste ihnen entrissen werden. Nicht streiten zu wollen, wäre eine Verzichtleistung der Herrlichkeit, des Überflusses, des Genusses und des Besitzes des Landes gewesen. Und wiewohl sie schon an dem anderen Ufer des Jordans mit Bestimmtheit sagen konnten: „Wir werden durch den Jordan gehen – wir werden Jericho einnehmen, ob auch die Stadt mit unüberwindlichen Mauern umringt ist, wir werden Kanaan besitzen, ob auch die Feinde es innehaben“ – so mussten sie dennoch die Waffe des Streites erheben, um in den Besitz zu gelangen, und nur jener Teil, worauf sie ihren Fuß stellten, war ihr wirkliches Eigentum.

Hierdurch tritt uns zu gleicher Zeit der Unterschied zwischen dem Streit in Kanaan und dem Streit in der Wüste deutlich vor Augen. In der Wüste verteidigten sich die Kinder Israel gegen die Feinde, welche ihnen in den Weg traten; in Kanaan aber griffen sie die Feinde an, welche das Land bewohnten. Der Streit gegen Amalek, wovon wir in 2. Mose 17,8 und in 5. Mose 25,17–18 lesen, war die Vergeltung des von ihm begangenen Unrechts. Der König von Edom wurde um die Erlaubnis gebeten, durch sein Land ziehen zu dürfen: „Lass uns durch dein Land ziehen. Wir wollen nicht durch Äcker, noch durch Weinberge gehen, auch nicht Wasser aus den Brunnen trinken; die Landstraße wollen wir ziehen, weder zur Rechten noch zur Linken weichen, bis wir durch deine Grenzen kommen“ (4. Mo 20,17). An den König der Amoriter wurde dieselbe Bitte gerichtet, aber beide weigerten sich. Der Zweck war also nicht zu streiten, sondern Kanaan zu besitzen; und da ihnen der Durchzug verweigert wurde, gab der Herr den Israeliten den Auftrag, die Feinde zu vertilgen. Alles, was nicht zu Kanaan gehörte, lassen sie gern in der Macht der Besitzer; ihre Absicht ist nicht die Welt zu beherrschen und alles unter ihre Macht zu bringen; nein, sie verlangen nichts mehr, als das, was ihnen Gott gegeben hat; und darum kommen sie zu diesen Fürsten, nicht mit dem Schwert, sondern mit der Bitte, ungestört durch deren Land ziehen zu dürfen. Sie verlangten nicht einmal Wasser aus dem Brunnen dieser Länder; denn der Herr, ihr Gott, der sie aus Ägypten geführt hatte, war im Stande, sie mit allem zu versehen, und war mächtig genug, sie ohne die Hilfe der Feinde ins Land bringen zu können.

O wie gesegnet würde es sein, wenn dieses durch die Christen verstanden würde! Man würde sich sicher nicht so viel zu schaffen machen mit der Regierung eines Landes, welches man nur als Fremdling durchpilgert. Das Trachten nach Ehre und Ansehen, in einem Land, womit man nichts zu schaffen hat, würde man als töricht verwerfen. Und dieses würde also sein, wenn das Herz sich allein mit demjenigen beschäftigte, was Gott den Seinen dargereicht hat, und wenn es aufhört, sich mit einer Sache zu bemühen, die unser Eigentum nicht ist. Abraham konnte zu dem König von Sodom sagen: „Ich hebe meine Hände auf zu dem Herrn, dem höchsten Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, dass ich von allem was dein ist, nicht einen Faden, noch einen Schuhriemen nehmen will, dass du nicht sagst: Ich habe Abraham reich gemacht“ (1. Mo 14,22–23). Er verlangte nichts anderes, als was Gott ihm gab; durch andere wollte er nicht reich gemacht sein; er hatte an Gott vollkommen genug; und auf demselben Wege führt der Herr auch seine Nachkommend dieses ist die Stellung, die auch wir einzunehmen haben; die Herrlichkeit und die Reichtümer Gottes sind groß genug, um die Schätze des feindlichen Gebietes nicht zu begehren; denn was der Feind besitzt, bedürfen wir nicht, um uns dadurch glücklich zu machen. Glückselig der, welcher genug hat an Gott und an dem, was Er gegeben hat, so dass er bei jedem Anerbieten, in welcher Weise und unter welchen Umständen dieses auch gemacht werden mag, stets sagen kann: „Ich habe genug?“ Wenn unsere Herzen in dem Genuss dessen leben, was Gott für uns ist und was Er uns in Christus geschenkt hat, dann werden wir sicher dazu im Stande sein; ja dann werden wir nicht nur nicht nach den Dingen dieser Welt trachten, sondern wir werden sie auch unter Umständen zurückweisen, wenn sie uns angeboten werden.

Jedoch müssen wir in diesem Fall den Kampf auch wirklich beginnen und fortsetzen, um in den Besitz der himmlischen Segnungen zu gelangen. Ebenso wie Israel an der entgegengesetzten Seite des Jordans sagen konnte, dass das Land drüben sein Eigentum sei, können auch wir alle sagen, dass, alle geistlichen Segnungen in den himmlischen Örtern in Christus unser Teil sind. Doch nun müssen wir auch die Segnungen, die uns gehören, in Besitz nehmen. Aber dazu ist ein Kampf erforderlich „wider die Fürstentümer, wider die Gewalten, wider die Weltbeherrscher dieser Finsternis“ (Eph 6,12). Satan bietet alles Mögliche auf, um uns des Genusses dieser Segnungen zu berauben. Wenn ich mich mit der Liebe Gottes beschäftige, dann bemüht sich der Feind Zweifel gegen diese Liebe in meinem Herzen zu erwecken; wenn ich den Frieden Gottes genieße, der alle Vernunft übertrifft, dann ist der Feind bemüht, diesen Frieden dadurch zu stören, dass er mein Herz mit den Umständen dieses Lebens zu verwickeln sucht; wenn ich mich der Herrlichkeit Gottes und der Wahrheit erfreue, die Er uns offenbart, dann naht der Feind, um mich mit allerhand verkehrten Gedanken zu plagen und meinen Genuss zu stören; wenn ich mich auf das Wort Gottes stütze und mich an die Aussprüche desselben klammere, dann ist er tätig, um durch allerlei Einwürfe dieses köstliche Wort kraftlos zu machen; wenn ich mich reich gesegnet fühle in der glücklichen Hoffnung der Erscheinung Jesu, dann eilt er herbei, um mich an die Genüsse der Erde zu ketten. Von allen Seiten sind wir durch den Feind umringt; nirgends sind wir vor seinen Anfällen sicher. Und dieser Kampf wird solange dauern, als wir noch hienieden sind. Darum müssen wir zu jeder Zeit wachen und beten, und keinen Augenblick dürfen wir uns unserer Waffen entledigen. Durch den Glauben müssen wir den Feind überwinden, wie Israel die Kanaaniter überwinden sollte. Und der Herr ist mit uns, wie Er einst mit Josua war. „Übrigens meine Brüder“, sagt Paulus, „seid stark in dem Herrn, und in der Kraft seiner Stärke“ (Eph 6,10). Jesus hat den Feind überwunden, und, „wenn Gott für uns ist, wer mag wider uns sein?“

Wie ermutigend sind diese Worte! Der Unglaube schaut zwar auf die Macht des Feindes, auf die „Enaks Kinder“; aber der Glaube schaut auf den Herrn, vor dem der mächtigste Feind zurückweichen muss. Vor Ihm brechen die Mauern Jerichos zusammen; vor Ihm werden die feindlichen Heere geschlagen; vor Ihm sind die Berge eben und die Meere trocken.

Doch bevor Israel den Kampf beginnen konnte, gab Gott Befehl zur Beschneidung des ganzen Volkes (Jos 5). alle, die in der Wüste geboren worden waren, waren noch unbeschnitten; und als Unbeschnittene durften sie den Boden des verheißenen Landes nicht betreten, noch den Kampf gegen ihre Feinde beginnen. Die Schmach Ägyptens und das unreine Fleisch mussten hinweg getan werden, bevor sie in Kanaan einzogen. In der Wüste hatte diese Unreinheit Gott nicht gehindert, sie zu segnen; aber das Land, welches sie in Besitz nehmen sollten, war das Land des Herrn und mithin ein heiliges Land; der Kampf, den sie führen sollten, war ein Kampf des Herrn, mithin ein heiliger Kampf; und darum musste auch das Volk ein heiliges Volk sein, unterschieden von den Völkerschaften, welche sie bekämpfen sollten. Ebenso verhält es sich mit uns. Wir können unsere himmlischen Segnungen nicht in Besitz nehmen und keinen Streit gegen unsere Feinde führen, wenn das Fleisch in uns wirkt. Nun sind wir in Christus von unserem Fleisch erlöst; „wir sind nicht mehr in dem Fleisch, sondern in dem Geist“ (Röm 8). Und was mit Israel in Gilgal geschah, das ist mit uns in Christus geschehen. „Und ihr seid vollendet in Ihm, welcher ist das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt, in welchem ihr auch beschnitten seid mit einer, nicht mit Händen geschehenen Beschneidung, durch das Ausziehen des Leibes des Fleisches, durch die Beschneidung Christi“ (Kol 2,10–11). Hier ist unsere Stellung genau bezeichnet, um durch das Erkennen derselben unseren Wandel zu regeln. Das, was mit uns in Christus geschehen ist, muss hienieden durch uns in Ausübung gebracht werden. Hier gilt das Wort des Apostels: „Haltet euch dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid.“ Diese Erinnerung muss uns jeden Tag erfüllen, wenn wir anders den Kampf des Glaubens führen wollen– Ein Christ jedoch, der seinem Fleisch und den Neigungen seiner Natur freien Lauf lässt, ist zu diesem Streit ungeschickt; denn es ist ein geistlicher Streit, welchen zu streiten sowohl eine geistliche Waffenrüstung, als auch ein geistlicher Mensch erforderlich ist. Die Ansprüche des Fleisches und der Natur sind auf diesem Gebiet nur Hemmnisse. Die Natur Gottes und der Heilige Geist müssen ihren Einfluss auf mich ausüben. „So tötet denn eure Glieder, die auf der Erde sind: Hurerei, Unreinigkeit, Leidenschaft, böse Lust und den Geiz, welcher Götzendienst ist“ – und: „Legt auch das alles ab: Zorn, Wut, Bosheit, Lästerung, schändliche Reden aus eurem Mund. Belügt euch einander nicht, da ihr den alten Menschen mit seinen Handlungen ausgezogen und den neuen angezogen habt, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Bild dessen, der ihn geschaffen hat“ (Kol 3,5–10).

Doch nicht nur das Fleisch, sondern auch das natürliche Gefühl steht uns im Weg, um diesen Kampf zu führen. Bei Paulus finden wir, dass er nicht nur dem Fleisch und den Begierden den Zügel nicht schießen lässt, sondern dass er sogar seinen Leib zur Dienstbarkeit bringt. Wie oft werden wir durch Gefühl, oder durch Mitleiden zurückgehalten, den Willen Gottes zu tun und Ihm zu gehorchen; und es gibt vieles, was den Schein von Gnade hat, aber was im Licht Gottes betrachtet, doch nichts ist, als nur menschliche Gefühle oder Mitleiden. Der Herr Jesus zeigt uns den Unterschied sehr deutlich. Am Kreuz übergibt Er seine Mutter mit rührender Liebe der Sorgfalt des Jüngers, den Er liebhatte. Aber im Tempel und auf der Hochzeit zu Kana zeigt Er, wie Er den Ansprüchen des natürlichen Gefühls entgegentritt, sobald es sich um das Werk Gottes handelt. „Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ – und: „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?“

Freilich ist ein solches Verhalten oft mit großer Selbstverleugnung verknüpft und greift nicht selten in die engsten Verhältnisse. „Wer Vater oder Mutter oder Weib oder Kind mehr liebt denn mich, ist meiner nicht wert.“ Sobald wir indes sehen auf den Lohn einer solchen Selbstverleugnung, dann verliert sich die Schwierigkeit. Alles, was der Herr fordert, ist irdisch und vorübergehend; und alles, was Er gibt, ist himmlisch und ewig. Welch ein Schade, das Himmlische zu verlieren durch ein Trachten nach den Dingen hienieden und durch ein Horchen auf die fleischlichen Neigungen und auf die natürlichen Gefühle! Denn jeder Gläubige wird bekennen müssen, dass schon hier auf Erden die Augenblicke des Genusses der himmlischen Segnungen die glücklichsten seines Lebens waren. Es ist daher wirklich betrübend, dass dieser wahre Genuss und dieser Kampf, der allein gekrönt werden wird, durch die Christen so wenig gekannt ist. Man ist oft zufrieden damit, was hienieden zu finden ist, besonders wenn die Umstände noch eben günstig sind. Man begnügt sich, eben zu wissen, dass man nicht verloren geht. Ein solcher Zustand hindert uns all dem Genuss der himmlischen Segnungen und beraubt uns aller Lust und aller Kraft, um den Streit zu führen, an den solch herrliche Siege geknüpft sind, die im Herzen immer mehr das Verlangen wecken nach jenem Augenblick, wo Glauben sich in Schauen verwandeln wird.

Wie herrlich war der Moment für Israel, da man die Waffen niederlegen und Besitz von dem verheißenen Land nehmen dürfte – jener Moment, wo ein jeder seinen Freund einladen konnte, um sich unter seinem Weinstock und Feigenbaum all des Guten zu erfreuen, das ihm der Herr gegeben hatte. Die Fremdlingschaft war vergessen, der Streit beendet; und was übrigblieb, war, sich des herrlichsten Genusses zu erfreuen und die Gnade des Gottes zu rühmen, der trotz alles Unglaubens, trotz aller Schwachheit und Verkehrtheit den müden Pilger in dieses herrliche Land geführt hatte. – Und welch ein Glück! Dieser Augenblick wird auch für uns einmal und vielleicht bald anbrechen, wo wir Besitz nehmen sollen von einer Herrlichkeit, die Israel nimmer erkannt hat, da sein Erbteil irdisch das unsrige aber himmlisch ist. Dort wird weder Streit noch Leiden noch Plage sein; dort wird die ewige Ruhe genossen werden; dort wird auch für uns nichts übrigbleiben, als Gott zu preisen für seine reiche Gnade, die uns in Jesu offenbart ist. Der Herr gebe, dass alle, die diese Hoffnung haben, aufgeweckt werden mögen, um schon hienieden durch den Glauben diese Herrlichkeit zu genießen!

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