Botschafter des Heils in Christo 1865

Ich kenne die Meinen und bin gekannt von den Meinen

Die Gemeinschaft mit Christus ist das Köstlichste, was ein Herz, hienieden im Glauben und droben im Schauen, genießt. Und je mehr wir diese Gemeinschaft verwirklichen, oder je mehr „wir mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauen, desto mehr werden wir in dasselbe Bild verwandelt werden von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3,18). Wir bilden uns immer nach dem Gegenstand, womit wir am meisten beschäftigt sind. Wie gesegnet nun, wenn Christus, der Sohn Gottes und der Abglanz seiner Herrlichkeit, dieser Gegenstand für uns ist! Und sicher wird ein Herz, das Ihn liebt und in seiner Gemeinschaft wandelt, sehr erfreut sein, jene Worte von Ihm selbst zu hören: „Ich erkenne die Meinen und bin gekannt von den Meinen.“ Er sprach sie aus vor allen öffentlich; ja alle Welt soll wissen, dass zwischen Ihm und den Seinen eine innige Verwandtschaft besteht, und die Seinen sollen es aus seinem eigenen Mund hören, damit seine Freude völlig in ihnen sei. Köstliches Band, das für immer geknüpft ist durch eine unzerstörbare Liebe, durch eine Liebe bis in den Tod! Zwar kennen wir Ihn jetzt noch höchst mangelhaft; aber Er erkennt uns vollkommen, und nichts kann von seiner Liebe uns scheiden. Auch ist Er stets bemüht, uns sich immer völliger zu offenbaren. Alle seine Führungen haben diesen gesegneten Zweck; und je mehr wir seine Gemeinschaft in den mannigfachen Versuchungen dieser Wüste verwirklichen, desto mehr werden wir all die Schönheiten und Vollkommenheiten in Ihm erkennen. Und nur Jesus ist es, der köstliche Jesus, der wahrhaft ein Herz befriedigen und beglücken kann. Alle Schwierigkeiten der Erde sind nichts, wenn Er da ist; aber selbst der Himmel würde einsam und freudeleer für uns sein, wenn Er dort fehlte. Wir werden sicher ein unermessliches Erbteil erlangen, weil wir Erben Gottes sind; doch die höchste aller Gaben ist Christus selbst, und unser Glück wird dadurch völlig sein, dass wir alles mit Ihm genießen werden.

Um in das oben Gesagte noch etwas tiefer einzugehen, lasst uns einen Augenblick bei der lieblichen Szene in Bethanien verweilen, die uns in Johannes 11 mitgeteilt wird. Der Herr hielt sich oft an diesen: Orte auf. Dort finden wir Ihn, als die Tage seines Leidens herannahten, und ebenso als Er Abschied nahm von seinen Jüngern und, indem Er sie segnete, hinaufgetragen wurde in den Himmel (Lk 24,50). Besonders war es ein Haus, worin Lazarus, Marta und Maria wohnten, das Er durch seinen Aufenthalt vor allen auszeichnete. Die drei Geschwister waren Ihm zugetan mit Liebe und Vertrauen; und insoweit es auf dieser Erde sein konnte, fand Nein Herz in dieser gesegneten Familie einen Trost, den seine Liebe annahm. Ja, dieses Haus stand, da der Herr von den Juden völlig verworfen war und sich als die Ruferstehung offenbarte, in: Vordergrund als Bild des treuen Überrestes, mit welchem der Herr sich verband. Welch eine Gnade! Jehova selbst, der vom Himmel herniedergekommen war, um seinem Volk Erlösung zu bringen, weilt hier in der Mitte der Seinen, wie ein Freund unter seinen Freunden. Er tritt ihnen so nahe, dass alle Furcht schwinden muss. Er will auch, dass sie völlig glücklich sind in seiner Gegenwart und ganz nahe und vertraulich mit Ihm verkehren. Er nennt die Jünger seine Freunde, und sagt auch in vorliegendem Kapitel, Vers 11: „Lazarus, unser Freund, schläft.“ Er will nicht nur durch sein Werk unsere Gewissen beruhigen, sondern auch durch seine Person unsere Herzen gewinnen und völlig erfreuen. Er hat sich selbst uns ganz gegeben; und wie wir Ihn als den Mittelpunkt all unserer geistlichen Segnungen in den himmlischen Örtern haben werden, so haben wir Ihn hier in der Wüste als unser tägliches Manna, als den treuen Freund inmitten der mannigfachen Versuchungen. Doch wie wenig wird Er von den Seinen in seiner Fülle hienieden erkannt und genossen! Viele, ja vielleicht die Meisten unter ihnen, erblicken in Ihn: nur den Heiland der Sünder, der vom Tod und vom Verderben errettet. Ihr Gewissen ist beruhigt; aber ihr Herz bleibt unbefriedigt, und inmitten der sie umgebenden Umstände sind sie meist unruhig und niedergedrückt. Jesus fehlt ihnen – nicht für ihr Gewissen, aber für ihr Herz – nicht sein Werk, aber seine Person. Seine gesegnete Gegenwart wird nicht durch den Glauben verwirklicht und genossen. Er ist nicht der teure Gegenstand, auf dem das Auge gerichtet bleibt, und mit dem das Herz einen innigen und vertrauten Umgang pflegt. Wäre dies der Fall, so würde keine Furcht, keine unruhige Sorge da sein, sondern Freude in dem Herrn allezeit. Paulus genoss in den schwierigsten Umständen, im Gefängnis zu Rom und angesichts des nahm Tods, eine solche Freude, dass er seinen geliebten Philippern zurufen konnte: „Freut euch mit mir!“ Sein Herz war mit Christus erfüllt. Nicht nur ruhte sein Gewissen in seinem vollkommenen Werk, sondern auch sein Herz in seiner vollkommenen Liebe. Er hatte Ihn selbst, den Gegenstand der Freude und Wonne Gottes, das Ebenbild seines Wesens. Er kannte Ihn und hing an Ihm mit hingebender Liebe; und darum wurde es Ihm nicht schwer. Alles für Ihn einzubüßen, – für Ihn zu leben, zu leiden und zu sterben. Er konnte bekennen: „Ja wahrlich, ich halte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um welches willen ich alles eingebüßt habe, auf dass ich Christus gewinne;“ (Phil 3,8) und wiederum: „Das Leben ist für mich Christus“ (Kap 1,21). Christus selbst war sein einziger Gegenstand und sein einziges Ziel. Er war bereit. Alles zu verlieren und zu leiden, um Ihn kennen zu lernen. Eine solche Gesinnung lässt sicher die Welt und alles, was darinnen ist, die Kreatur, und alles, was sie erhebt, weit hinter sich zurück. Sie erfreut sich in diesem einen Gedanken: Ich kenne Ihn und Er erkennt mich. Ja, ist Christus wirklich der Gegenstand unseres Herzens, so haben wir immer genug, weil die Fülle Gottes in Ihm wohnt und Er völlig unser gesegnetes Teil ist. Und wo werden wir in unseren kummervollen Stunden einen Freund finden, der so trägt und mitfühlt wie Er, und dem nichts verborgen ist? Es ist auch kein Leid so tief, da Er nicht trösten kann, keine Schwierigkeit so groß, da Er nicht zu helfen vermag; und selbst in der schwärzesten Wolke, die uns umhüllt, hat Er seine verborgene Hand. Er ist uns immer nahe, sowohl in den kleinsten als auch in den größten Umständen; mir können immer mit aller Zuversicht auf Ihn rechnen. Und in all seinen Wegen mit uns, in all den Trübsalen, durch welche wir hienieden zu gehen haben, gibt Er sich uns immer völliger zu erkennen. O möchten wir seine gesegnete Gegenwart doch mehr verwirklichen und genießen, so würde sicher alles, sowohl in unseren Herzen als auch in unseren Häusern, ja, in unserem ganzen Leben, mehr geordnet und mit seinem Wesen übereinstimmender sein.

Die kleine Familie zu Bethanien verstand das Vorrecht der Gemeinschaft mit ihrem geliebten Herrn wohl zu benutzen. Lazarus war krank, und seine beiden Schwestern sandten zu Ihm und ließen Ihm sagen: „Herr, siehe, den du lieb Haft, ist krank“ (V 3). Sie waren von seiner Liebe überzeugt, und machten dieselbe zum Beweggründe seiner Hilfe. Sie durften ja jede Wohltat von dieser Liebe erwarten, und hatten darum alle Freimütigkeit, sich daran zu wenden. Würden sie von ihrer Liebe zu Ihm gesprochen haben, so Hütten sie seine Hilfe als eine Schuldigkeit erwartet. Doch Er schuldet uns nichts; alles ist freie Gnade; vielmehr hat Er uns zu seinen Schuldnern gemacht. Deshalb heißt es: „Lasst uns Ihn lieben; denn Er hat uns zuerst geliebt.“ Alle unsere Segnungen haben ihre Quelle in seiner Liebe. Er hat sein Leben für uns gelassen, da wir noch Feinde und Gottlose waren. Und jetzt kann uns nichts von seiner Liebe scheiden; unsere Mängel und Gebrechen setzen ihr keine Grenze; ja, es ist nichts in uns, noch außer uns, wodurch sie geschwächt werden könnte. Sie bleibt ein offener Born während unserer ganzen Laufbahn hienieden; sie trägt und leitet uns durch alle Versuchungen dieser Wüste mit vollkommener Gnade und Langmut, und wird uns bald droben ihre ganze Fülle genießen lassen. Wenn wir nun unsere Brüder lieben und ihre Schwachheiten und Leiden aller Art van Herzen mitfühlen, so werden wir immer mit Zuversicht zu Ihm sagen: „Herr, siehe, den du liebhast.“ Wir können völlig gewiss sein, dass Er Alls mit vollkommener Lieds liebt, und dass es die Freude seines Herzens ist, wenn wir seine zärtliche Liebe und Zuneigung zu die Seinen teilen, und, wie für uns selbst, so auch für sie, mit Bitten und Flehen und Danksagung alle ihre Anliegen vor Ihm kundwerden lassen. Wie beschämt aber würden wir dastehen, wenn die Erhörung unserer Bitte von unserer Liebe zu Ihm abhängig wäre! Wie viel würden wir alsdann zu erwarten haben? Ein jedes Herz wird sich selbst die Antwort geben können. O wie gut ist es, dass alle unsere Segnungen hier und dort, nur aus seiner vollkommenen Liebe gegen uns entspringen! Er ist die Liebe, und Er ist unser Teil.

Wenn wir jetzt einen kurzen Blick auf das innere Leben, das geistliche Verständnis und die aufopfernde Liebe der beiden Schwestern werfen, so wird es uns nicht schwer werden, einen großen Unterschied wahrzunehmen. Es ist wahr, Marta glaubte an den Herrn; sie liebte Ihn und nahm Ihn in ihr Haus auf; aber Marias Herz war geistlicher, und darum auch fähiger, in den Zweck seiner Sendung und in die Fülle seines Wesens tiefer einzudringen. Während Marta mit vielem Dienen beschäftigt und um viele Dinge besorgt war, saß sie zu seinen Füßen und horchte auf seine holdseligen Worte. Er war gekommen, um das Wort Gottes zu bringen, und sicher war es seine Freude, wenn es ein offenes Ohr fand. Dies war das gute Teil der Maria. Sie erwählte, sein Wort zu hören, – sie erwählte Ihn selbst. Und Er rechtfertigte Maria; ihr Erwähltes sollte nicht von ihr genommen werden. Ja, es ist das gute Teil, zu seinen Füßen zu sitzen und das Wort Gottes zu hören; und danach haben wir den gesegneten Platz eines Dieners einzunehmen. Es ist so viel christlicher Dienst in der Welt, dem die wahre Kraft und Schönheit abgeht, weil er zu wenig mit der Quelle alles Dienstes, mit Christus selbst, in Verbindung steht und auf das Wort Gottes gegründet ist. Es gibt viele Gläubige, die, gleich der Marta, um viele Dinge besorgt sind, aber leider weder Bedürfnis noch Ruhe genug haben, um zu seinen Füßen zu sitzen und auf sein köstliches Wort zu horchen. Eine Stunde mit dem Herrn allein zuzubringen, wird ihnen weit schwerer, als sich tagelang mit allerlei Dingen zu bemühen. Und woher kommt dieses? Es erfordert einen weit geistlicheren Sinn, in seiner Gegenwart zu weilen, als mit dem Dienst beschäftigt zu sein. Hier kann selbst unsere Natur noch einige Befriedigung finden, während sie bei seiner Gegenwart ganz bei Seite gesetzt werden muss. Wir sind aber nur dann wahrhaft fähig, dem Herrn auf eine wohlgefällige Weise zu dienen, wenn wir in seiner Gegenwart die nötige Kraft und Weisheit lernen. Dies sehen wir bei Maria. Wir lesen in Vers 2: „Maria aber war es, die den Herrn mit Salbe salbte, und seine Füße mit ihren Haaren abtrocknete.“ Sie gab ihr Kostbarstes hin, um ihre Liebe für Jesus zu bezeugen; sie erkannte den rechten Augenblick, um sein Herz zu erquicken. Der Herr selbst war der alleinige Gegenstand ihrer Liebe und ihres Dienstes. Sie war Ihm selbst völlig gewidmet und für Ihn zu jedem Opfer bereit. Zwar war ihr Benehmen nicht der Vernunft angemessen; ihr Werk wurde von niemandem verstanden, selbst nicht von den Jüngern. – Diese sahen darin eine unnötige Verschwendung; nach ihrer Meinung hatte mit dieser Salbe auf eine weit nützlichere Weise gedient werden können. Sie urteilten menschlich, und darum verstanden sie nicht das Werk der Maria, das göttlich schön war. Sie allein hatte die Stellung Jesu begriffen; sie erkannte, dass die finsteren Wolken sich immer dichter um das teure Haupt ihres geliebten Herrn zusammenzogen; ihr liebendes Herz ahnte die Nähe des Tages, wo die Bosheit der Menschen Ihn aus ihrer Mitte reißen würde, und deshalb sah sie den geeigneten Augenblick gekommen. Ihn im Voraus zum Begräbnis zu salben. Und der Herr, der in das Verborgene des Herzens zu schauen vermag, sah ihre tiefe und hingebende Liebe; und wie Er früher ihr Horchen auf sein Wort gerechtfertigt hatte, so rechtfertigte Er jetzt auch ihr Werk, indem Er sagte: „Sie hat ein gutes Werk an mir getan.“ Wie völlig musste es das Herz der Maria befriedigen, wenn sie aus seinem eigenen Mund hörte, dass sie ein gutes Werk an Ihm getan habe, wenn der Beweis ihrer Liebe von Ihm anerkannt und angenommen wurde. Marta war zwar mit vielem Dienen beschäftigt, und war so sehr von ihrem Dienst eingenommen, dass sie meinte, der Herr müsse dafür Sorge tragen, dass Maria ihren Platz zu seinen Füßen verlasse und ihr beistehe: allem der Herr spricht zu ihr: „Marta, Marta! Du bist besorgt und beunruhigt um viele Dinge; Eins aber ist Not!“ (Lk 10,41) Ihr Dienst fand nicht seine Anerkennung, weil er zu sehr aus ihrer geschäftigen Natur hervorging, und zu wenig den Herrn selbst als Quelle und Gegenstand hatte. Nur Maria war es, die das „gute Teil“ erwählte und das „gute Werk“ vollbrachte. O möchten wir ihr darin gleichen! Möchten auch wir oft zu den Füßen Jesu sitzen, um das gute Wort Gottes aus seinem Mund zu hören; möchten auch wir mit inniger Liebe an Ihm hängen und uns dann völlig seinem Dienst widmen! Lasst uns auch nicht vergessen, dass das eine Werk der Maria mehr Wert vor dem Herrn hatte, als alle die Werke der Marta. Und das Urteil des Herrn ist noch immer das allein gültige. Er aber sieht das Herz an. Er sieht die Quelle, woraus alle unsere Dienstleistungen entspringen. Und ach! es ist zu fürchten, dass es in unseren Tagen viele Martas, aber wenige Marias gibt. Da sind so viele christliche Tätigkeiten, die zwar Schein genug haben vor den Augen der Menschen, aber wenig Wert in den Augen Gottes, auf dessen Anerkennung es doch einzig und allein ankommt. Sie entspringen oft mehr aus der eigenen Gerechtigkeit, aus einer frommen Natur, als aus der Liebe zu Christus. Dies ist wohl zu beherzigen. Leider fehlt es auch nicht an solchen, die nicht nur wenig Interesse am Herrn selbst, sondern auch an seinem Dienst haben. Sie leben sich selbst und der Welt, und sind zufrieden, dass ihr Gewissen vor Gott in Betreff ihrer Sünde in Ruhe ist. Wie verwerflich ist eine solche Gesinnung! Wie undankbar ist ein solches Herz gegen die unaussprechliche Liebe des Herrn, der sein Leben für uns gelassen und uns zu Teilnehmern seiner Herrlichkeit erwählt hat! – Solltest du zu dieser Zahl gehören, geliebter Leser, so wisse, dass ein großer Zweck des Werkes Christi und somit ein großer Segen für dich verloren ist; denn „Christus hat sich selbst für uns gegeben, auf dass er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit und reinigte sich selbst ein Eigentumsvolk, eifrig in guten Werken“ (Tit 2,14). „Wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitet hat, auf dass wir darinnen wandeln“ (Eph 2,10). Gehörst du aber zu jenen, die mit vielem Dienen beschäftigt sind, wie Marta, so siehe wohl zu, ob dein Dienst auch die Anerkennung des Herrn finden wird. Anders ist er wertlos, mag auch die Sache, womit du beschäftigt bist, noch so gut und christlich sein, und du dir noch so viel Sorge und Mühe machen. Unser Dienst ist nur dann gesegnet, wenn Jesus der Gegenstand unserer Herzen ist, wenn wir im verborgenen Umgang mit Ihm verstehen lernen, was vor Ihm wohlgefällig ist; und unser Herz ist nur dann wahrhaft glücklich, wenn es das gute Teil erwählt hat, wie Maria – nur in dem Maß, als es mit dem Apostel sagen kann: „Das Leben ist für mich Christus.“ Ja, ein solches Herz ist glücklich in den Umständen, gesegnet im Dienst, und vollbringt seinen Wandel hienieden zur Verherrlichung des Herrn.

Es könnte sich mm wohl bei dem einen oder anderen der Leser die Frage aufdrängen: „Hatte nicht auch der Herr die Marta weniger lieb, als die Maria, weil ihre Gefühle für Ihn so schwach und oberflächlich waren.“ Zu unserem großen Trost können wir dies auf das Bestimmteste verneinen. Der Herr liebte Marta mit einer vollkommenen Liebe, und ebenso Maria, weil Er die Liebe ist. Seine Liebe zu uns findet ihren Beweggrund in Ihm selbst, und nicht in uns. Unmöglich kann es Ihm gleichgültig sein, welche Gefühle der Liebe und Zuneigung gegen Ihn unser Herz erfüllt und an den Tag legt: aber nie kann dies seine Gefühle gegen uns erwecken und leiten; Wir können höchst schwach und mangelhaft sein; aber seine Liebe gegen uns ist immer vollkommen. „Gott aber, weil Er reich an Barmherzigkeit ist, hat uns wegen seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt hat als auch wir in den Vergehungen tot waren, mit dem Christus lebendig gemacht“ (Eph 2,4–5). Der Tod Christi auf dem Kreuz für uns, da wir noch Sünder und Gottlose waren, ist der vollkommenste Beweis seiner Liebe. Er fand nichts in uns, was Ihn zur Liebe gegen uns hätte reizen können; im Gegenteil, wir waren „hassenswürdig“. Wenn es sich aber um unsere Liebe zu Ihm handelt, so haben wir einen völlig würdigen Gegenstand. Er ist es, an dem Gott selbst sein ganzes Wohlgefallen gefunden hat, und der der große Gegenstand der Anbetung aller himmlischen Heerscharen ist. Zudem sind wir auch schuldig, Ihn zu lieben, weil Er uns zuerst geliebt hat. Doch wie beschämt müssen wir, beim Blick auf seine völlige Liebe gegen uns, unsere Augen niederschlagen, wenn wir an unsere schwache und unvollkommene Liebe zu Ihm denken! Wie tröstlich ist da das Bewusstsein, dass seine Liebe stets mit einer vollkommenen Gnade gepaart ist! Wenn diese Gnade fehlte, so würden wir nie Gegenstände seiner Liebe sein können; doch jetzt sind und bleiben wir es für immer; da ist Nichts, „weder Tod, noch Leben, noch Engel, noch Fürstentümer, noch Gegenwärtiges, noch zukünftiges, noch Gewalten, noch Hohes, noch Tiefes, noch irgendeine andere Kreatur, die uns zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8,38–39). Der Heilige Geist kann Zeugnis geben von der aufopfernden Liebe der Maria, und zugleich die Marta voranstellen, wenn Er von der Liebe des Herrn zu ihnen reden will. „Jesus aber liebte die Marta und ihre Schwester und Lazarus“ (V 5). Anbetungswürdige Liebe Wir können jedem Heiligen, selbst dem schwächsten, zu jeder Zeit bezeugen: „Der Herr hat dich lieb; du bist seinem Herzen ein teurer Gegenstand. Magst du dich dieser Liebe auch noch so unwert fühlen und noch so viel Ursache haben, dich vor Ihm zu demütigen. – Er hat dich dennoch lieb, ja vollkommen lieb!“ O wie würdig ist diese Liebe, von uns bewundert und angebetet zu werden! Und je mehr wir sie anschauen, desto mehr erweitert sich unser Herz in Gefühlen der Liebe gegen Ihn und desto glücklicher sind wir in dem Bewusstsein, Gegenstände einer solchen Liebe zu sein und für immer darin ruhen zu können. Und je mehr wir die Gnade erkennen, die mit seiner Liebe gepaart ist, desto fähiger sind wir auch, unsere Brüder in all ihren Mängeln und Gebrechen zu tragen und zu lieben. Doch wie nutzlos ist es, mit der Schwachheit unserer Liebe beschäftigt zu sein, um völliger zu lieben. Alle unsere Anstrengungen sind umsonst; das arme Herz wird nur unruhiger und elender, bis wir zuletzt mutlos und gleichgültig unsere Hände sinken lassen. Meistens haben auch solche Anstrengungen, solche Wünsche, den Herrn völliger zu lieben, mehr oder weniger ihren Grund in der eigenen Gerechtigkeit. Wir sind weit mehr geneigt. Ihm etwas von unserem Eigenen darzubringen, als uns mit dankbarem Herzen seiner Gnadengabe zu erfreuen – mehr geneigt, in unserer Liebe gegen Ihn als in seiner Liebe gegen uns zu ruhen. Welch eine Torheit! Und doch ist diese Gesinnung weit ausgebreiteter unter den Christen, als man gewöhnlich denkt; und sie ist bei vielen ein Hindernis der Freude im Herrn und des Dienstes für seinen gesegneten Namen.

Wir lesen weiter: „Als Jesus nun hörte, dass er krank sei, da blieb Er zwei Tage an dem Ort, wo Er war“ (V 6). Wie auffallend! Warum kam Er nicht sogleich? War es Mangel an Liebe? O nein! „Der Herr liebte die Marta und ihre Schwester und Lazarus.“ Würde aber nicht Marta, oder auch Petrus, aus eine solche Botschaft sofort gekommen sein, wenn sie zu trösten oder zu helfen vermocht hätten? Höchst wahrscheinlich; weil sie weit mehr geneigt waren, ihren natürlichen Gefühlen zu folgen, als dem Herrn. O wie oft werden diese Gefühle der Natur mit der bereitwilligen Liebe Christi verwechselt! Der Herr aber wandelte hienieden in völliger Abhängigkeit vom Vater; in allen Dingen richtete sich zuerst sein Blick nach Oben. Sicher war sein Herz mit einer zärtlichen Zuneigung gegen die liebliche Familie und mit dem innigsten Mitgefühl in ihrem Kummer erfüllt; aber die Verherrlichung des Vaters war seine höchste und vornehmste Sache. Und Er sagte: „Diese Krankheit ist nicht zum Tod, sondern um der Herrlichkeit Gottes willen, auf dass durch dieselbe der Sohn Gottes verherrlicht werde“ (V 4). sein ganzer Wandel hienieden war stets in völliger Übereinstimmung mit dem wohlgefälligen Willen des Vaters. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: der Sohn kann nichts von sich selbst tun, es sei denn, dass Er den Vater etwas tun sieht; denn was dieser irgend tut, das tut auch der Sohn gleicherweise“ (Joh 5,19). Ebenso war auch sein Werk auf dem Kreuz nicht nur zu unserer Errettung, sondern auch zur Verherrlichung des Vaters, so dass Er am Ende seiner gesegneten Laufbahn sagen konnte: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte“ (Joh 17,4).

So waren also die Verherrlichung Gottes und unser Heil stets vor den Augen unseres geliebten Herrn, während Er seinen Lauf in dieser versuchungsreichen Wüste vollendete. Und welch eine köstliche Aufgabe können wir daraus lernen! Es fehlt uns oft nicht allein an jener Abhängigkeit, sondern auch an dem Wunsch, dass der Name des Herrn verherrlicht werde. Wir sind so geneigt, uns selbst und unsere Umstände zur Hauptsache zu machen. Sind wir in Trübsalen, so fehlt nicht selten die ruhige Ergebung in den Willen des Herrn. Wir sehnen uns, herauszukommen, versuchen oft allerlei Wege, um unseren Zweck zu erreichen, und wenn uns alles misslingt, so ist nicht selten das Herz mit Murren und Unzufriedenheit erfüllt. Möchten wir doch völliger unser Auge auf den Herrn richten, der uns auf dem Pfad des Glaubens vorangegangen ist, und völliger in der Abhängigkeit von Ihm wandeln und seine Verherrlichung von Herzen suchen, so würden wir auch williger unser Kreuz tragen und Ihm nachfolgen! Ist es unser aufrichtiges Begehren, dass sein wohlgefälliger Wille an uns und durch uns erfüllt werde, so werden wir in all seinen Führungen stille sein und in all unseren Versuchungen mit Vertrauen auf Ihn schauen. Paulus hatte nur eine Sache vor seiner Seele – die Verherrlichung des Herrn, die Kundwerdung seines Namens; und er war darum ganz glücklich in seinem Gefängnis, sobald er erkannte, dass seine Bande zur Förderung des Evangeliums ausschlugen. Es war seine sehnliche Erwartung und Hoffnung, dass Christus allezeit hoch erhoben werde an seinem Leib, sei es durch Leben, sei es durch Tod (Phil 1,12–20). Und diese Gesinnung allein geziemt sich für alle teuer erkauften Heiligen.

Die Schwestern in Bethanien hatten in ihrer Trübsal Gelegenheit, sich in ausharrendem Vertrauen zum Herrn zu üben. Sie kannten seine Güte und Macht, wovon sie so oft Zeugen gewesen waren; auch zweifelten sie nicht an seiner Liebe, die sie selbst schon vielfach erfahren hatten; aber dennoch ließ Er sich jetzt vergeblich bitten. Lazarus starb; der Herr kam nicht, um ihn zu heilen. Wie sehr wurde durch dies Verhalten des Herrn ihre Liebe und ihr Vertrauen zu Ihm auf die Probe gestellt! Sie bedurften aber, wie immer, der Läuterung, damit die Bewährung ihres Glaubens viel köstlicher als die des vergänglichen Goldes erfunden wurde zu Lob und Ehre und Herrlichkeit in der Offenbarung Jesu Christi (1. Pet 1,7). Dies ist der gesegnete Zweck Gottes bei allen Führungen der Seinen hienieden. Sicher hat Er in Betreff unserer Bitten die köstlichsten Verheißungen gegeben. Wir lesen in Johannes 14,13: „Was irgend ihr bitten werdet in meinem Namen, das werde ich tun, auf dass der Vater verherrlicht werde in dem Sohn.“ Und wiederum: „Dies ist die Zuversicht, die wir zu ihm haben, dass, wenn wir etwas nach seinem Willen bitten, er uns hört“ (1. Joh 5,15). Dennoch lässt Er uns oft warten, damit unser Vertrauen fest werde, und sich als wirkliches Vertrauen auf Ihn erweise. Andererseits will Er auch das Gefühl unserer Abhängigkeit, sowie die Wichtigkeit der Verherrlichung seines Namens in unseren Herzen lebendiger machen; nie aber ist es bei Ihm Mangel an Liebe oder Mitgefühl, wenn Er uns warten lässt. Dies sehen wir so deutlich bei den Geschwistern in Bethanien. Er liebte sie auf das zärtlichste. Er verweilte oft in ihrer Mitte, und doch kam Er nicht sogleich, um ihren Bruder zu heilen und ihren Schmerz in Freude zu verwandeln. Er ließ Lazarus sterben; und gewiss ist Satan bemüht gewesen, allerlei Gedanken in ihren Herzen wach zu rufen. Er ist in solchen Stunden nie müßig, unser Vertrauen zu schwächen und Zweifel und Murren in uns zu erwecken. Wir haben alsdann besonders nötig, unverrückt auf den Herrn zu blicken und an seiner Liebe festzuhalten; anders werden wir unruhig und unglücklich sein. Ja, viele trüben Stunden bereiten sich die Geliebten des Herrn dadurch, dass sie in ihren Versuchungen, anstatt mit Vertrauen auf seine Hilfe zu harren, mit sich selbst oder mit ihren Umständen beschäftigt sind.

Für die Jünger des Herrn gab es bei dieser Gelegenheit auch eine schöne Aufgabe zu lernen, sowohl in Betreff der Erkenntnis des Herrn, als auch in Betreff ihrer selbst. Als seine Stunde gekommen war, sagte Er zu ihnen: „Lasst uns wiederum nach Judäa ziehen.“ Die Jünger aber erwiderten: „Rabbi, soeben suchten die Juden dich zu steinigen, und wiederum gehst du dahin?“ (V 7–8) Ihr Auge ruhte auf den Umständen und darum fürchteten sie sich, dem Herrn zu folgen. Und ach! wie oft machen wir dieselbe Erfahrung. Die Gegenwart des Lichts kann uns nichts helfen, wenn das Auge nicht klar ist. Die Quelle des Lichts ging vor den Jüngern her, und dennoch fürchteten sie die Anstöße auf dem Weg. Der Herr antwortete: „Sind nicht zwölf Stunden des Tages? Wenn jemand am Tag wandelt, so stößt er nicht an; denn er sieht das Licht dieser Welt. Wenn aber jemand in der Nacht wandelt, so stößt er an; denn das Licht ist nicht in ihm“ (V 9–10). Der Herr wurde stets durch den wohlgefälligen Willen seines Vaters geleitet; nach diesem Willen blieb Er und ging Er. Nie waren die Umstände seine Führer. Sobald der wohlgefällige Wille des Vaters Ihm den Weg geöffnet hatte, fürchtete Er weder die Steine der mörderischen Juden, noch das Kreuz. Alles war licht auf seinem Weg, und in diesem Licht sollten auch jetzt die Jünger Ihm folgen. Aber ach! der Unglaube hielt ihre Augen geschlossen, und so sahen sie auf dem Weg nach Judäa nichts anderes als den Tod. „Und es sprach Thomas, genannt Zwilling, zu seinen Mitjüngern: Lasst auch uns gehen, auf dass wir mit Ihm sterben“ (V 16). Wie oft ergreift die Furcht des Todes unser armes Herz, wenn der Unglaube unseren Blick auf die Umstände gerichtet hält! Der wohlgefällige Wille des Vaters ist aber auch für uns das Licht in dieser versuchungsreichen Wüste. Wir sollten nie einen Ort, eine Stellung, ein Verhältnis, oder etwas der Art verlassen oder darin eintreten, bis wir überzeugt wären, dass es der Wille unseres Vaters sei; und nie wird Er ein aufrichtiges Herz über eine Sache in Ungewissheit lassen, wenn es anders nötig ist, darüber gewiss zu sein. Und wandeln wir nach seinem wohlgefälligen Willen, so wandeln wir am Tag. Der Weg ist gebahnt; und was uns auch auf demselben begegnen mag, es muss alles zum Guten für uns mitwirken. Unser Herz ist alsdann getrost und gewiss; wir können mit ruhigem Vertrauen auf Ihn blicken und Ihm alles befehlen; ja, selbst in den schwersten Prüfungen auf seine Kraft und Hilfe rechnen. Doch ganz anders ist es, wenn wir durch das Fleisch oder durch die Umstände geleitet werden. Wir kommen bald in die Enge, und das Herz ist voller Unruhe und banger Sorge. Und wie oft ist dies nicht der Fall! Der Knabe Samuel musste dreimal gerufen werden, ehe er aufmerkte, weil er das Wort Gottes noch nicht kannte; aber viele Christen laufen schon, ehe der Herr einmal gerufen hat, und machen nicht selten die traurigsten Erfahrungen. Deshalb lasst uns stets warten, bis wir seinen wohlgefälligen Willen erkennen, damit wir nie anstoßen, nie in Unruhe sind und den Namen des Herrn durch unlautere Wege verunehren.

Als nun Jesus nach Bethanien kam, so fand Er, dass Lazarus schon vier Tage in der Gruft gewesen war (V 17). Der Tod war in die friedliche Hütte eingedrungen und hatte eine tief empfundene Lücke bereitet. Er hatte das innige Band der drei glücklichen Geschwister zerrissen und nur Kummer und Tränen zurückgelassen. Und nicht einmal war der Herr, der teuerste Freund ihres Herzens, während dieser traurigen Szene zugegen gewesen. Er kam jetzt wohl; aber der Tod war vor Ihm gekommen, und hatte den geliebten Bruder für immer aus ihrer Mitte weggenommen. „Marta nun, als sie hörte, dass Jesus komme, ging Ihm entgegen ... und sprach zu Ihm: Herr, wärst du hier gewesen, so wäre mein Bruder nicht gestorben“ (V 20–21). Sie wusste, dass Er ihn wieder hätte gesundmachen können; aber weiter reichte ihr Glaube nicht. Sie erkannte aber auch, dass Jesus, der Christus, der Sohn Gottes war und so sehr in der Liebe und Gunst Gottes stand, dass Er, was Er auch bitten mochte, empfangen würde, und erkannte endlich, dass ihr Bruder Lazarus an: letzten Tage auferweckt werden würde. Allein so wahr dies auch sein mochte, so hatte diese Wahrheit doch keinen wirklichen Wert für sie, und brachte ihrem gedrückten Herzen auch wenig Befriedigung und Trost. Denn welch eine Beruhigung gewährt die Hoffnung der Auferstehung, wenn sie nicht mit der Gewissheit verbunden ist, dass alle die Folgen unseres sündigen Lebens und Zustandes für immer beseitigt sind? Gott aber sei Dank, dass wir diese Gewissheit haben. Der Herr sprach zu Marta: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, wenn er auch gestorben ist; und jeder, der da lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit“ (V 25). In Ihm haben wir nicht nur die Auferstehung, sondern auch das Leben. Er ist in Gnade Mensch geworden und hat als solcher auf dem Kreuz die Sünde und deren Strafe auf sich genommen. Jetzt befreit uns das durch die Auferstehung kommende Leben von allein, was der Tod umfasst; es lasst Sünde und Tod, ja alles, was mit unserem natürlichen Leben in Verbindung steht, für immer zurück. Der Herr hat durch seinen Tod „Den zunichtegemacht, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel“ (Heb 2,14), und ebenso den Tod selbst, und „hat Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht“ (2. Tim 1,10). Gott hat uns mit Ihm lebendig gemacht, indem Er uns alle unsere Vergehungen vergeben hat, so dass wir jetzt schon im Glauben triumphierend ausrufen können: „Verschlungen ist der Tod in Sieg. Wo ist, o Tod, dein Stachel? Wo ist, o Hades, dem Sieg?“ (1. Kor 15,55) Der Glaubende, selbst wenn Er gestorben ist, wird leben; und der Lebende, wenn er an Ihn glaubt, wird nimmer sterben; denn Christus hat den Tod besiegt; er kann in seiner Gegenwart nicht mehr existieren. Die ganze Wirkung der Sünde auf den Menschen ist durch die Auferstehung, durch die Lebensmacht in Jesu vollständig zerstört. Er hat die Macht des göttlichen Lebens in den Schoß des Todes gebracht, und dieser ist vor Ihm vernichtet. Der Tod ist das Ende des natürlichen Menschen, und die Auferstehung ist das Ende des Todes. Welch eine Befreiung!

Doch Marta, obwohl sie an den Herrn glaubt und ihn liebt, ist nicht fähig, in die Worte des Heilands einzudringen. Sobald Er kommt, geht sie Ihm aus eigenen! Antriebe entgegen, sobald Er aber mit ihr von der in seiner Person dargestellten Macht des göttlichen Lebens redet, zieht sie sich zurück. Sie fühlt, dass die Unterhaltung mit dem Herrn mehr Sache der Maria sei, und ruft diese deshalb. Ihr eigenes Gewissen war für sie die Stimme Jesu. Und Maria, die sich vom Herrn gerufen glaubt, eilt sofort zu Ihm und wirft sich weinend zu seinen Füßen. Sie mochte wohl über die Tragweite der Auferstehung und des Lebens nicht mehr Verständnis haben, wie auch Marta; aber unter dem Gefühl des Todes bricht ihr Herz in der Gegenwart dessen zusammen, der das Leben war und legt jetzt ihre Not und ihren Kummer zu denselben Füßen nieder, wo sie früher horchend gesessen und die Liebe und Gnade ihres teuren Herrn kennen gelernt hatte. Er allein war fällig, den tiefen Kummer ihres Herzens zu verstehen; Er allein konnte mitfühlen, wie kein Mensch es vermochte.

„Jesus nun, als Er sie weinen sah, und die Juden weinen, die mit ihr gekommen waren, seufzte tief im Geist, und erschütterte sich selbst und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sagen zu Ihm: Herr, komm und siehe! Jesus vergoss Tränen. Da sprachen die Juden: Siehe, wie liebte Er ihn“ (V 33–35). Welch ein Anblick! Der Herr der Herrlichkeit, der Schöpfer aller Dinge stellt sich hier mitten unter seine armen Geschöpfe, die sich durch die Sünde völlig ruiniert haben, und vergießt Tränen. Er erschüttert sich selbst in der Gegenwart des Todes, welcher der Lohn der Sünde ist, welcher kalt und herzlos die innigsten Bande der Liebe zerreißt und nichts als Schmerz und Tränen zurücklässt. Ja, der Herr selbst stellt sich, voll des innigsten Mitgefühls, unter das Gewicht des Todes, den zunichte zu machen Er gekommen ist. Er nimmt völlig Teil an dem Seufzen der armen Kreatur, und bringt den Tod vor Gott als das Unglück des Menschen, als das Joch, dem er vergeblich zu entfliehen sucht. Jesus, in seiner vollkommenen Sympathie, macht sich eins damit. Er erschüttert sich selbst; Er seufzt vor Gott; Er weint mit dem Menschen, und dies alles aus Liebe für die, welche diesem schrecklichen Übel unterworfen sind. Auch wir, die wir mit Christus lebendig gemacht sind, nehmen Teil an diesem Seufzen. „Wir wissen“, sagt der Apostel, „dass die ganze Kreatur zusammen seufzt, und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt. Und nicht allein sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlinge des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst, erwartend die Kindschaft: die Erlösung unseres Leibes“ (Röm 8,22–23). Der Gläubige ist jetzt der Kanal, wodurch alle diese Seufzer zu Gott emporsteigen. Es ist aber kein Seufzen unter der Macht der Sünde, die uns etwa noch gefangen hielte, oder weil wir in Betreff unserer Errettung oder der Liebe Gottes ungewiss wären; o nein, sondern wir seufzen, weil wir als Genossen der himmlischen Herrlichkeit sehen, wie die Sünde auf alles um uns her den Stempel der Eitelkeit und des Verderbens gedrückt hat. Ja, wir werden umso mehr mit der leidenden und seufzenden Schöpfung sympathisieren, je mehr die Liebe und Gnade Gottes uns erfüllt, je mehr wir, wie Jesus, das Elend suhlen, das durch die Sünde auf alles gekommen ist, und je mehr die strahlen jener himmlischen Herrlichkeit in unsere Herzen leuchten.

Maria hatte hier also Gelegenheit, einen neuen, lieblichen Zug der Vollkommenheit Christi kennen zu lernen. Sie hatte oft seine Güte und Macht gesehen und die holdseligen Worte seines Mundes gehört; aber jetzt sollte sie auch sein vollkommenes Mitgefühl kennen lernen. Und wie konnte dies anders geschehen, als auf dem Weg der Trübsal und Leiden! Sie wusste wohl, dass Er mächtig genug war, um den kranken Bruder gesund zu machen; aber dass Er, wenn der Bruder gestorben war, voll des tiefsten Mitgefühls in die entstandene Lücke eintreten und mit ihr Tränen vergießen konnte, das hatte sie bis jetzt noch nicht erfahren. Welch ein vollkommener Jesus! In allen Lagen unseres Lebens haben wir die Fülle in Ihm. Und was ist schöner, was ist in den Stunden unseres tiefsten Kummers sicher für unser Herz: die Erfahrung seiner unumschränkten Macht oder die seines zärtlichen Mitgefühls? Ja, einen solchen Jesus mussten solch arme und schwache Kreaturen haben, wie wir sind. Nie ist sein Arm zu kurz und nie kommt seine Hilfe zu spät; aber auch nie trifft uns ein Leid, klein oder groß, wo Er nicht auf das tiefste mitfühlt und uns tröstend zur Seite tritt. Welch eine Beruhigung in dieser Wüste, in den mannigfachen Versuchungen dieses Lebens! Wie oft erfahren wir, dass wir hienieden durchs Tränental gehen, wie oft zieht Kummer und Schmerz in unsere Hütte ein, oder reißt der kalte Tod ein teures Glied aus der so innig verbundenen Kette, und lässt eine Leere zurück, die niemand auszufüllen vermag. Doch Er vermag es – Er allein. Er kann Balsam träufeln in die tiefe Wunde, Er kann auf das Völligste mit uns fühlen. Wir können uns mit Vertrauen zu seinen Füßen niederwerfen, und an seinem treuen Herzen unseren Schmerz ausweinen. Wenn niemand uns versteht, Er versteht uns; wenn alle uns verlassen, Er bleibt uns immer nahe. Er erlaubt zwar oft, dass wir den Weg der Trübsal gehen – nicht nur weil die Trübsal Ausharren wirkt, sondern weil sie Ihm eine Gelegenheit bietet, uns sein mitfühlendes Herz zu offenbaren, und uns einen neuen Strahl seiner göttlichen Vollkommenheit erkennen zu lassen. O wie süß sind solche Wege und Erfahrungen bei allem Schmerz! Es sind Erfahrungen, wozu uns die Herrlichkeit droben nie Gelegenheit geben wird. Dort bedürfen wir seines innigen Mitgefühls nicht mehr, weil dort alle Tränen für immer von unseren Augen abgewischt sein werden. Darum, geliebte Brüder, solange wir hienieden sind, lasst es uns für lauter Freude achten, in mannigfache Versuchungen zu kommen (Jak 1,2).

Etliche der Juden, als sie seine Tränen sahen, sprachen: „Siehe, wie liebte Er ihn.“ Ja, Er liebte ihn, und Er liebt alle die Seinen mit einer vollkommenen Liebe. Doch war es nicht der Verlust des Lazarus, der ihm Seufzer und Tränen auspresste, sondern die Gegenwart des Todes und das Mitgefühl für die berauben, tief betrübten Schwestern. Er wusste, wo Lazarus war; er war nicht für Ihn verloren; denn Er konnte sagen: „Niemand kann sie aus meiner Hand rauben.“ Sie bleiben in seiner Hand, wenn auch der Tod sie aus unserer Mitte hinweg genommen hat. Sie leben, wenn sie auch gestorben sind. Er verliert sie nimmer, denn Er hat den Tod zunichtegemacht, und Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht. Welch ein tröstliches Bewusstsein für die zurückgebliebenen! Ihre Heimgegangenen Geliebten sind noch immer in seiner Hand; nichts hat Macht über sie; nichts kann sie Ihm rauben. Dieselbe Hand bewahrt sie dort, die auch uns hienieden bewahrt. Sie sind in völliger Ruhe und sind bei dem geliebten Jesus, zu dem auch wir bald hingehen werden. Es ist nur eine Trennung für kurze Zeit.

Andere von den dabeistehenden Juden sagten: „Konnte dieser, der die Augen des Blinden auftat, nicht machen, dass auch dieser nicht gestorben wäre?“ (V 37) Nur der Unglaube, der über die Wege des Herrn murrende Unglaube führt eine solche Sprache. Er ist die Quelle aller Sünde, wodurch alles Elend über diese Schöpfung gekommen ist; er hält das arme Menschenherz stets in Entfernung, von Gott. Der Herr fühlt dieses, und „wiederum tief in sich selbst seufzend, kommt Er zur Gruft“ (V 38). seine Tränen verwandeln sich in einen nicht auszusprechenden Seufzer, der die Empfindung eines Herzens ist, das aufs tiefste mitleidet.

Martas Herz ist, wie immer, mit den Umständen beschäftigt. Sie sagt: „Herr, er stinkt schon“ (V 39). Jesus spricht zu ihr: „Habe ich dir nicht gesagt, wenn du glauben würdest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen?“ (V 40) Er hatte den Tod vor Gott gebracht, und Er konnte jetzt seine Augen aufheben und sagen: „Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich aber wusste, dass du mich allezeit erhörst; doch um der Volksmenge willen, die umhersteht, habe ich es gesagt, auf dass sie glauben, dass du mich gesandt hast. Und da Er dieses gesagt hatte, rief Er mit starker Stimme: Lazarus komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus ..“ (V 41–44). O wie vollkommen bewährte Er hier die im vorigen Kapitel ausgesprochenen Worte: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie gehen nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer, als alles, und niemand kann sie aus der Hand meines Vaters rauben. Ich und der Vater sind eins“ (V 27–30). Die eingetretene Verwesung war für seine Macht kein Hindernis; der Tod musste Lazarus zurückgeben, sobald Er ihn forderte; jede Spur des Todes musste verschwinden, sobald Er gebot. Seiner Macht ist alles unterworfen; alles ist durch Ihn besiegt, sowohl der Tod, als auch der, welcher die Macht des Todes hat, der Teufel. Die Seinen bleiben stets in seiner Gewalt, mögen sie leben oder entschlafen sein. Sie bleiben immer in seiner Hand und Er kann sie jeden Augenblick zu sich rufen. Jedes Hindernis ist für immer beseitigt, um mit Ihm an seiner Herrlichkeit Teil zu nehmen. Ja, es ist eine solche Macht des Lebens in Ihm, dass wir nicht einmal nötig haben, zu sterben. Er kann uns plötzlich, in einem Nu, verwandeln und das Sterbliche die Unsterblichkeit anziehen lassen (1. Kor 15). Und dies wird in jenem glückseligen Augenblicke seiner Ankunft geschehen, wo die Lebenden verwandelt, die Entschlafenen auferweckt und mit jenen zusammen dem Herrn entgegengerückt werden in die Luft, um allezeit bei dem Herrn zu sein (1. Thes 4). O welch eine Sicherheit, welch ein Trost für alle, die an Ihn glauben! Sie sind für immer vom Tod und von allem, was damit in Verbindung steht, völlig befreit; sie sind für immer errettet, für immer sichergestellt in seinen treuen Händen. Weder die Versuchungen der Wüste, noch der Tod, weder Hohes, noch Tiefes vermag sie von Ihm und seiner Liebe zu trennen. O möchte dies köstliche Bewusstsein stets unsere Herzen beleben und erfreuen!

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