Botschafter des Heils in Christo 1865

Über das Erkennen des Willens Gottes

1 Wenn ein Kind im Allgemeinen gegen seinen Vater gleichgültig ist, und sich keine Mühe gibt, weder seine Gedanken noch seinen Willen kennen zu lernen, so ist leicht vorauszusehen, dass ein solches Kind in einem schwierigen Fall nicht wissen wird, wie es sich zu verhalten hat, um dem Vater Freude zu machen. Dahingegen wird z. B. eine Frau – um es auf dies Verhältnis anzuwenden – falls sie die Gefühle und den Geist einer wahren Gattin hat, wohl wissen, was ihrem Mann angenehm ist, selbst in solchen Fällen, worin er seinen Willen noch nicht kund getan hat. – Es gibt nun gewisse Dinge, worüber Gott in seinem Wort nur allgemeine Grundsätze niedergelegt hat, damit der Seelenzustand des Einzelnen geprüft werde. Und dieser Prüfung kann ein Gläubiger nicht entgehen; Gott wird es nimmer seinen Kindern erlauben. „Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.“ – Es sind uns also nicht für jede Sache in das Einzelne gehende Regeln gegeben, um den Willen Gottes zu erkennen; sondern diese Erkenntnis steht immer in Beziehung zu unserem Seelenzustand. Es kommt zwar oft vor, da wir sehr geneigt sind, hoch von uns selbst zu denken, dass wir uns einbilden, in dieser oder jener Sache den Willen Gottes zu erkennen, während Gott uns gar nichts darin zu sagen hat. Das Übel ist die Unruhe, die wir uns selbst in Betreff jener Sache machen. Gottes Wille aber in solchem Fall ist, stille zu sein und nichts zu tun.

Zu einer anderen Zeit suchen wir den Willen Gottes zu erkennen, wie wir uns in den Umständen, worin wir sind, verhalten sollen, während sein einziger Wille ist, uns gar nicht in jenen Umständen zu befinden; und wenn das Gewissen in Tätigkeit wäre, so würde die erste Wirkung davon sein, uns zu veranlassen, sie aufzugeben. Unser eigener Wille hat uns hineingebracht; und nichtsdestoweniger möchten wir den Trost genießen, von Gott darin geleitet zu werden – geleitet auf einem Weg, den wir uns selbst erwählt haben. Dies kommt sehr oft vor.

Andererseits aber können wir gewiss sein, dass es für uns, wenn wir uns nahe beim Herrn halten, nicht schwer sein wird, seinen Willen zu erkennen. Wohl mag es bei einem langen und tätigen Leben vorkommen, dass Gott uns in seiner Liebe nicht immer sogleich seinen Willen offenbart, um uns unsere Abhängigkeit fühlen zu lassen, falls die Neigung vorhanden ist, nach unserem eigenen Willen zu handeln; „doch wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.“ Daraus folgt aber, dass, wenn nicht der ganze Leib licht ist, das Auge nicht einfältig ist. Manche mögen sagen: Das ist ein armseliger Trost! Ich aber erwiderte: Es ist ein reicher Trost für alle, deren einziger Wunsch es ist, ein einfältiges Auge zu haben und mit Gott zu wandeln. Man kann sich diesem moralischen Gesetz des Christentums nicht entziehen. „Wenn jemand am Tag wandelt, so stößt er nicht an; denn er sieht das Licht dieser Welt; wenn aber jemand in der Nacht wandelt, so stößt er an“ (Joh 11,9). „Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Joh 8,12). Da ist immer derselbe Grundsatz. „Deshalb hören wir nicht auf, von dem Tag an, da wir es gehört haben, für euch zu beten und zu bitten, dass ihr mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlichem Verständnis erfüllt sein möget, um des Herrn würdig zu allem Wohlgefallen zu wandeln, in allem guten Werke fruchtbringend und wachsend durch die Erkenntnis Gottes“ (Kol 1,9–10). Die Verbindung dieser Dinge ist von großer Wichtigkeit für die Seele. Man muss den Herrn wohl kennen, um seiner würdig zu wandeln, und auf diese Weise wachsen wir in der Erkenntnis des Willens Gottes. „Und um dieses bitten wir, dass eure Liebe noch mehr und mehr in Erkenntnis und aller Einsicht reich werde, damit ihr prüft, was das Vorzüglichere sei, auf dass ihr untadelig und unanstößig seid auf den Tag Christi“ (Phil 1,10–11). Endlich steht geschrieben, dass „der Geistliche alle Dinge beurteilt und selbst von niemandem beurteilt wird“ (1. Kor 2,15).

Es ist also der Wille Gottes – und ein sehr köstlicher Wille – dass wir seinen Willen nur nach unserem eigenen geistlichen Zustand zu unterscheiden vermögen; und es ist nicht selten der Fall, dass Gott durch die Umstände uns richtet, während wir meinen, die Umstände richten zu müssen. Unsere Sache ist allezeit, uns nahe beim Herrn zu halten. Gott wäre nicht gut, wenn Er uns erlaubte, ohne dieses seinen Willen zu erkennen; und wer ihn ohne dieses zu erkennen sucht, der sucht verkehrt. Wohl möchte man es ganz bequem finden, gleichsam einen Befehlshaber des Gewissens zu haben, und somit der Offenbarwerdung und der Züchtigung unseres moralischen Zustandes überhoben zu sein; aber es verhält sich nicht also, und dies sehen wir alle Tage. Wie oft kommt es nicht vor, dass ein Christ über etwas im Zweifel und in Verlegenheit ist, während ein anderer, der geistlicher ist, darin so klar sieht, wie am Tag, und sich, da er nicht die geringste Schwierigkeit sieht, über jenen wundert; bis er endlich gewahrt, dass diese vermeintliche Schwierigkeit nur in dem Seelenzustand des Ersteren liegt. „Wer diese Dinge nicht hat, ist blind und kurzsichtig“ (2. Pet 1,9).

Was nun die Umstände betrifft, so glaube ich, dass man von ihnen geleitet werden kann. Wir finden dies selbst im Wort Gottes bestätigt. Sie nennt es, „Zaum und Gebiss ins Maul legen“ (Ps 32,9). „Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du wandeln sollst; ich will dich mit meinen Augen leiten“ (V 8). Dies ist das Vorrecht und die Verheißung für den, der Glauben hat. Man muss aber dem Herrn recht nahe sein, um den Wink seiner Augen zu verstehen; jedoch hat Er verheißen, uns also zu leiten, und Er ist treu. Zugleich warnt Er uns, nicht wie Rosse und Maultiere zu sein, die kein Verständnis haben, weder von dem Willen, noch von den Wünschen und Gedanken ihres Meisters, und deshalb mit einem Zaum und Gebiss geleitet werden müssen. Allerdings ist dies besser, als anzustoßen und zu fallen, oder sich an dem zu stoßen, der uns führt; aber es ist ein trauriger Zustand; und das nennt man, „von den Umständen geleitet werden.“ Von Seiten Gottes ist es immer Erbarmen, dass Er es tut; aber auf unser er Seite steht es traurig, wenn es nötig ist. Doch müssen wir wohl beachten, dass zwischen dem Erkennen des Willens Gottes in den Umständen und dem Geleitetwerden durch die Umstände ein großer Unterschied ist. Wer sich von ihnen leiten lässt, handelt in Bezug auf den Willen Gottes nur blindlings. Seine Handlungsweise hat gar keine moralische Grundlage; es zwingt ihn eine äußere Macht. Wohl kann es oft vorkommen, dass ich im Voraus über eine Sache nicht einen bestimmten Entschluss fassen kann, da ich nicht weiß, welche Umstände eintreten können; sobald aber diese Umstände da sind, unterscheide ich mit völliger und göttlicher Gewissheit über den Weg des Willens Gottes, sowie über die Absicht des Geistes. Dies erfordert einen hohen Grad von Geistlichkeit, und heißt, nicht durch die Umstände, sondern von Gott in den Umständen geleitet zu werden, indem ich Ihm nahe genug bin, sobald die Umstände vorhanden sind, zu urteilen, was ich zu tun habe.

Was nun gewisse Eindrücke betrifft, so kann sie Gott in unserem Geist hervorrufen, und Er tut es auch; doch in solchem Fall ist der Wille Gottes in Betreff einer Sache so klar wie die Sonne am Mittag. Wenn wir um Kenntnis seines Willens bitten, so kann Gott gewisse fleischliche Einflüsse entfernen, und anderen geistlichen Einflüssen einen größeren Raum in der Seele gestatten; auch kann Er uns die Wichtigkeit einer Pflicht fühlen lassen, die wir vielleicht durch das Eingenommensein von einem gewünschten Gegenstand gänzlich vergessen hatten. Ähnliches kann aber auch zwischen zwei Personen vorkommen. Vielleicht hat der eine nicht Unterscheidungsgabe genug, um selbst das Gute in einer Sache zu erkennen; sobald aber ein anderer ihn darauf aufmerksam macht, sieht er es völlig ein. Die Eindrücke nun, die von Gott kommen, bleiben aber nicht immer bloße Eindrücke, sondern sind meist so klar, wie der helle Tag. Und ich zweifle nicht daran, dass Gott sie oft in unserem Geist hervorbringt, wenn wir mit Ihm wandeln und auf seine Stimme hören.

Ein Fall, wo jemand ohne Kenntnis des Willens Gottes handelt, sollte bei einem Gläubigen nie vorkommen. Da ist die einzige Regel, die man geben kann, nie zu handeln, wenn man den Willen Gottes nicht kennt. Wenn man aber dennoch handelt, so ist man den Umständen Preis gegeben, obwohl Gott auch dann noch alles zu unserem Besten lenken kann. Aber warum handeln, wenn wir den Willen Gottes nicht kennen? Ist denn die Notwendigkeit zum Handeln so dringend? – Wenn wir aber bei einer Handlung völlig gewiss sind, dass wir den Willen Gottes tun, so soll ein Hindernis uns weder bestürzt machen, noch aufhalten, sondern nur einfach eine Glaubensprüfung für uns sein. Wenn wir nicht nahe genug beim Herrn wandeln, so mögen wir vielleicht Glauben genug haben, um das Richtige zu erkennen, aber doch nicht Glauben genug, um im Gefühl unseres Nichts die Kraft zu besitzen, es auch zu tun.

Wenn wir unseren eigenen Willen tun, oder nachlässig sind in unserem Wandel, so kann uns Gott in seiner Barmherzigkeit durch ein Hindernis warnen lassen; und wenn wir darauf achten, so werden wir nicht weitergehen, während „der Narr seinen Weg verfolgt und gestraft wird.“ Gott kann auch erlauben, dass, während wir sehr tätig sind, Satan uns ein Hindernis in den Weg legt, damit wir in der Abhängigkeit des Herrn erhalten werden; aber Gott kann dem Satan nur erlauben, seine Wirksamkeit auf das Fleisch auszuüben. Wenn wir nicht wachsam sind, und uns von Gott entfernen, so fügt uns Satan Böses zu; anders aber ist es nur eine Glaubensprüfung, um uns vor einer Gefahr oder einem Fallstrick zu warnen – vor etwas, das uns in unseren eigenen Augen erheben könnte. Es dient alsdann zu unserer Züchtigung. Gott erlaubt also dem Satan, den Geist zu betrüben und dem Fleisch Leiden zu bereiten, damit der inwendige Mensch vor dem Bösen bewahrt bleibe. Ist es das nicht, so sind es wahrscheinlich unsere Wenn und Aber, die uns aufhalten, oder es sind die Folgen unserer Nachlässigkeit die dem Satan die Tür geöffnet haben, um uns durch Zweifel und scheinbare Schwierigkeiten zwischen Gott und uns zu beunruhigen, indem wir nicht mehr klarsehen. „Denn wer aus Gott geboren ist, bewahrt sich, und der Arge wird ihn nicht antasten.“

Es würde aber auch manche, für uns unlösbare Frage nicht vorhanden sein, wenn wir uns nicht in einer solchen Lage befänden, wenn wir vorher in einem guten Seelenzustand gewesen wären und eine wahre Geistlichkeit uns bewahrt hätte. In solchem Fall nun ist es vor allem nötig, dass wir uns über die ganze Sache demütigen. Zugleich müssen wir untersuchen, ob wir in der Schrift nicht einen Grundsatz finden, der uns leiten könnte; und dazu bedarf es einzig und allein einer wahren Geistlichkeit.

Die einfache Regel, das zu tun, was Jesus in denselben Umständen getan haben würde, ist da, wo man sie anwenden kann, ganz gut. Aber befinden wir uns immer in denselben Umständen, worin sich der Herr befunden haben würde? – Ferner ist es oft nützlich, mit Aufrichtigkeit zu untersuchen, woher der Wunsch kommt, dieses oder jenes zu tun. Ich habe gefunden, dass dies in der Hälfte der Schwierigkeiten, die einem Christen begegnen können, die Entscheidung gibt. Zwei Drittel der übrigen Hälfte sind die Folge unserer Übereilungen Und unserer früheren Sünden.

Wenn eine Sache von Gott kommt, und nicht vom Fleisch, so haben wir uns in Betreff ihrer Ausführung nur einfach an Gott zu wenden, der uns gewiss nicht ohne Leitung darin lassen wird. Es ist also von großer Wichtigkeit, die Beweggründe zu wissen, die uns in dieser oder jener Sache leiten. Und diese würden völliger an den Tag kommen, wenn wir unser Leben mehr in brünstiger Liebe vollbrachten, oder wenn unsere Liebe völliger in Tätigkeit wäre, oder in der Gegenwart Gottes ausgeübt würde, wo wir dann sehr oft finden würden, dass auf unserer Seite nur Selbstsucht war.

Vielleicht könnte jemand sagen: Wenn es sich aber bei einer Sache weder um Liebe noch um Gehorsam handelt? Dann erwidere ich, dass man einen Grund zum Handeln zeigen muss; denn wenn es nur unsere Eigenliebe ist, so denke man ja nicht, dass die Weisheit Gottes sich unserem Willen fügen wird. Auch dies ist eine Quelle von einer zahlreichen Klasse von Schwierigkeiten, die Gott nimmermehr lösen wird. In solchem Fall wird Er uns in seiner Gnade den Gehorsam lehren, und uns zeigen, wie viel Zeit wir in unserer eigenen Tätigkeit verloren haben. Endlich möchte ich noch das Wort des Psalmisten hinzufügen: „Er leitet die Sanftmütigen im Recht und führt die Demütigen seinen Weg“ (Ps 25,9).

Übrigens mögen wir nicht vergessen, dass die Weisheit Gottes uns in den Wegen des Willens Gottes leitet, und dass, wenn unser eigener Wille in Tätigkeit ist, Gott sich nicht unter denselben beugen wird. Das ist das Wesentlichste. Es ist das Geheimnis des Lebens Christi. Ich kenne keinen anderen Grundsatz, dessen sich Gott bedienen könnte, obwohl Er vergibt und alles zu unserem Besten lenkt. Der Platz eines Türhüters ist, an der Tür zu warten; und indem er dieses tut, tut er den Willen seines Herrn. Auch können wir versichert sein, dass Gott mehr in uns tut, als wir für Ihn; und was wir tun, ist nur insoweit für Ihn, als Er selbst es in uns gewirkt hat ...

Fußnoten

  • 1 Gedanken aus einem französischen Briefe
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