Betrachtungen über das vierte Buch Mose

Verschiedene Unterweisungen

Betrachtungen über das vierte Buch Mose

Wenn ihr in das Land kommt …!

Der Anfang dieses Kapitels ist besonders auffallend, wenn man ihn in Verbindung bringt mit dem Inhalt des 14. Kapitels. Dort schien alles finster und hoffnungslos zu sein. Mose musste dem Volk sagen: „Zieht nicht hinauf, denn der HERR ist nicht in eurer Mitte, dass ihr nicht vor euren Feinden geschlagen werdet.“ Und weiter hatte der Herr zu ihnen gesagt: „So wahr ich lebe, spricht der HERR, wenn ich euch nicht so tun werde, wie ihr vor meinen Ohren geredet habt! In dieser Wüste sollen eure Leichname fallen ... Wenn ihr in das Land kommen werdet, worin euch wohnen zu lassen ich meine Hand erhoben habe … Ihr aber, eure Leichname sollen in dieser Wüste fallen“ (14,28–32).

Aber kaum werfen wir einen Blick in das 15. Kapitel, so ist es, als sei gar nichts geschehen und als sei alles so ruhig und gewiss, wie nur Gott es machen kann. Wir lesen: „Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich zu ihnen: Wenn ihr in das Land eurer Wohnsitze kommt, das ich euch geben werde“ usw. Das ist eine der bemerkenswertesten Stellen in diesem Buch. Es gibt kaum eine Stelle, die charakteristischer wäre – nicht nur für das vierte Buch Mose, sondern für die ganze Bibel – als diese. Wenn wir den feierlichen Urteilsspruch lesen: „Ihr werdet nicht in das Land kommen“, und uns fragen, was das uns zu sagen hat, so erkennen wir: Der Mensch ist völlig nichtig und wertlos, alles Fleisch ist wie Gras“ – eine Lehre, die wir alle so langsam lernen.

Finden wir andererseits die Worte: „Wenn ihr in das Land eurer Wohnsitze kommt, das ich euch geben werde“, so lesen wir daraus die wundervolle Lehre, dass von dem Herrn Rettung kommt. In dem einen Ausspruch erfahren wir von der Schwäche des Menschen, in dem anderen von Gottes Treue. Wenn wir die Seite des Menschen sehen, dann ist das Urteil: „Ihr werdet gewiss nicht in das Land kommen.“ Aber wenn wir bei dieser Sache die Seite Gottes sehen, können wir den Satz umdrehen und sagen: „Ihr werdet gewiss hineinkommen.“

Das wird in dem Abschnitt deutlich, den wir hier vor uns haben, und das wird in der ganzen Bibel von Anfang bis Ende deutlich. Der Mensch versagt, aber Gott ist treu. Der Mensch verwirkt alles; aber Gott macht alles wieder gut. „Was bei Menschen unmöglich ist, ist möglich bei Gott“ (Lk 18,27). Müssen wir die ganze Heilige Schrift durchgehen, um das zu erklären und zu beweisen? Muss man auf die Geschichte Adams im Paradies hinweisen? Auf die Geschichte Noahs nach der Sintflut? Auf die Geschichte Israels in der Wüste, im Land Kanaan, unter dem Gesetz, unter dem levitischen Zeremoniell? Sollen wir uns bei dem Versagen des Menschen hinsichtlich des prophetischen, priesterlichen und königlichen Dienstes aufhalten? Sollen wir auf das Versagen der Versammlung als eines auf der Erde verantwortlichen Gefäßes hinweisen? Hat nicht der Mensch immer und in allem gesündigt? Leider ja!

Das ist die eine Seite des Gemäldes, die finstere und demütigende Seite. Aber Gott sei gepriesen, es gibt auch eine lichtvolle und ermutigende Seite. Wenn es heißt: „Ihr werdet gewiss nicht“, so heißt es auch: „Ihr werdet gewiss.“ Und warum? Weil Christus auf diese Erde gekommen ist, und in ihm ist für die Verherrlichung Gottes und für das ewige Glück des Menschen alles gesichert. Es ist Gottes ewiger Ratschluss, „alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus“ (Eph 1,10). Worin auch immer der erste Mensch versagt hat – es gibt nichts, was der zweite Mensch nicht wiedergutmachen wird. Er ist das Haupt der neuen Schöpfung und der Erbe aller Verheißungen, die dem Abraham, Isaak und Jakob im Blick auf das Land und die dem David in Bezug auf den Thron gegeben worden sind. Die Herrschaft wird auf seinen Schultern ruhen. Er wird der Träger der Herrlichkeit sein. Er ist der Prophet, der Priester und der König. Mit einem Wort, Christus stellt alles wieder her, was Adam verloren hat, und bringt noch viel mehr, als Adam je besaß. Wenn wir also den ersten Adam und seine Werke betrachten, so heißt das Urteil: „Ihr werdet gewiss nicht“; ihr werdet nicht im Paradies bleiben, ihr werdet nicht die Regierung behalten, ihr werdet nicht die Verheißung erlangen, ihr werdet nicht in das Land hineinkommen, ihr werdet nicht den Thron einnehmen, ihr werdet nicht das Reich betreten.

Doch wenn wir unseren Blick auf den zweiten Adam und seine Werke richten, so sehen wir, dass das „Nicht“ für immer aus jedem Satz verschwindet, denn in Christus Jesus sind alle Verheißungen Gottes Ja und Amen, „Gott zur Herrlichkeit durch uns“. Es gibt kein „Nein“, wenn es sich um Christus handelt. Alles ist „ja“, alles ist göttlich festgesetzt und geordnet, und weil es so ist, hat Gott sein Siegel darauf gedrückt, das Siegel seines Geistes, den alle Gläubigen jetzt besitzen. „Denn der Sohn Gottes, Jesus Christus, der unter euch durch uns gepredigt worden ist, durch mich und Silvanus und Timotheus, wurde nicht Ja und Nein, sondern es ist Ja in ihm. Denn so viele der Verheißungen Gottes sind, in ihm ist das Ja und in ihm das Amen, Gott zur Herrlichkeit durch uns. Der uns aber mit euch befestigt in Christus und uns gesalbt hat, ist Gott, der uns auch versiegelt hat und das Pfand des Geistes in unsere Herzen gegeben hat“ (2. Kor 1,19–22).

So müssen also die ersten Zeilen unseres Kapitels im Licht des ganzen Buches Gottes gesehen werden. Sie stimmen überein mit der gesamten Geschichte der Wege Gottes mit dem Menschen in dieser Welt. Israel hatte jedes Anrecht auf das Land verwirkt. Sie verdienten nichts Besseres, als dass ihre Leiber in der Wüste fielen. Und es ist die große und wunderbare Gnade Gottes, dass Er trotzdem mit ihnen davon sprechen konnte, dass sie in das Land kommen würden, und dass Er ihnen für ihr Leben und Handeln darin Anweisungen gab.

Nichts könnte gesegneter und ermutigender sein. Gott erhebt sich über alle Fehler und Sünden des Menschen. Unmöglich kann eine einzige Verheißung Gottes unerfüllt bleiben. Konnte das Betragen der Nachkommen Abrahams in der Wüste den ewigen Ratschluss Gottes vereiteln oder die Erfüllung der bestimmten und bedingungslosen Verheißung an die Väter verhindern? Unmöglich! Das hilft uns, den ersten Satz unseres Kapitels zu erklären, der mit bemerkenswerter Kraft und Schönheit auf die demütigenden Begebenheiten in Kapitel 14 folgt. Dort scheint die Sonne Israels hinter finsteren Wolken unterzugehen; hier aber geht sie mit vollem Glanz wieder auf, indem sie die große Wahrheit offenbart und bestätigt, dass die Gnadengaben und die Berufung Gottes unbereubar sind (Röm 11,29). Mag auch ein ungläubiges Geschlecht tausendmal murren und sich empören, so wird Gott doch erfüllen, was Er verheißen hat.

Hier ist zu allen Zeiten der göttliche Ruheort des Glaubens, der gewisse und sichere Hafen für die Seele inmitten des Schiffbruchs aller menschlichen Pläne und Unternehmungen. Alles zerfällt unter der Hand des Menschen in Stücke; aber Gott in Christus bleibt. Gott hat Christus auferweckt, und alle, die an ihn glauben, stehen auf einem neuen Boden. Sie sind mit dem auferstandenen und verherrlichten Haupt in Verbindung gebracht, und das ist ihr Platz für immer. Diese wunderbare Verbindung kann niemals aufgelöst werden. Alles ist gesichert auf einer Grundlage, die keine Macht der Erde oder der Hölle erschüttern kann.

Ein Gemälde des wiederhergestellten Israel

In dem vorliegenden Abschnitt wird uns ein schönes Bild gezeigt. Wir sehen Gelübde, freiwillige Opfer, Friedensopfer und den Wein des Reiches, und zwar alles das gegründet auf die unumschränkte Gnade, die uns im ersten Vers entgegenstrahlt. Es ist ein schönes Beispiel, ein herrliches Bild des zukünftigen Zustandes Israels. Es erinnert uns an die wunderbaren Gesichte am Ende des Buches Hesekiel. Der Unglaube, das Murren, die Empörung, alles ist vorbei und vergessen. Gott zieht sich gleichsam in seine ewigen Ratschlüsse zurück und schaut von dort aus auf die Zeit, da sein Volk ihm ein Opfer in Gerechtigkeit darbringen und seine Gelübde bezahlen wird und wo die Freuden des Reiches ihre Herzen für immer erfüllen werden (V. 3–13).

Sehr charakteristisch ist der Platz, der in diesem Kapitel dem „Fremden“ angewiesen wird. „Und wenn ein Fremder bei euch weilt, oder wer in eurer Mitte ist bei euren Geschlechtern, und er opfert dem HERRN ein Feueropfer lieblichen Geruchs, so soll er ebenso tun, wie ihr tut. Was die Versammlung betrifft, so soll einerlei Satzung für euch sein und für den Fremden, der bei euch weilt; eine ewige Satzung bei euren Geschlechtern: Wie ihr, so soll der Fremde sein vor dem HERRN. Einerlei Gesetz und einerlei Recht soll für euch sein und für den Fremden, der bei euch weilt“ (V. 14–16).

Welch ein Platz für den Fremden! Welch eine Lehre für Israel! Der Fremde wird mit Israel auf denselben Boden gestellt: „Wie ihr, so soll der Fremde sein“, und zwar „vor dem HERRN“. In 2. Mose 12,48 lesen wir: „Und wenn ein Fremder bei dir weilt und das Passah dem HERRN feiern will, so werde alles Männliche bei ihm beschnitten, und dann komme er herzu, es zu feiern.“ Aber in 4. Mose 14 wird die Beschneidung gar nicht erwähnt. Warum? Bedeutete das, dass sie jemals außer Acht gelassen werden konnte? Nein, aber dass sie hier nicht erwähnt wird, hat seine besondere Bedeutung. Israel hatte alles verwirkt. Das aufrührerische Geschlecht sollte beiseitegesetzt und abgeschnitten werden; aber Gottes ewiger Ratschluss in Gnade muss bestehen bleiben, und alle seine Verheißungen müssen erfüllt werden. Ganz Israel wird errettet werden, es wird das Land besitzen, es wird reine Opfer darbringen, seine Gelübde erfüllen und die Freuden des Reiches genießen, und zwar auf dem Boden der unumschränkten Gnade. Und auf demselben Boden darf auch der „Fremde“ kommen: „Wie ihr, so soll der Fremde sein vor dem HERRN.“

Will der Israelit dem widersprechen? Dann muss er sich 4. Mose 13 und 14 ansehen. Und wenn er das, was darin enthalten ist, wirklich in sich aufgenommen hat, dann lese er aufmerksam Kapitel 15 und denke darüber nach. Er wird dann sicher den „Fremden“ nicht mehr zurückstoßen wollen, weil er bereit sein wird, zuzugeben, dass er selbst alles der Gnade verdankt und dass dieselbe Gnade, die ihn erreicht hat, auch den Fremden erreichen kann. Er wird sich freuen, dass er zusammen mit dem Fremden aus der Quelle des Heils trinken darf, die durch die unumschränkte Gnade des Gottes Jakobs aufgetan wurde.

Dieser Teil unseres Buches erinnert lebhaft an die tiefgehenden Ausführungen in Römer 9 bis 11 über die Wege Gottes, wie Er sie fügt, besonders an den Teil am Ende von Römer 11. „Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar. Denn wie ihr [die Fremden] einst Gott nicht geglaubt habt, jetzt aber unter die Begnadigung gekommen seid durch deren Unglauben, so haben auch jetzt diese an eure Begnadigung nicht geglaubt, damit auch sie unter die Begnadigung kommen [d. h. dass sie wie die Fremden auf den Boden der Gnade gestellt werden]. Denn Gott hat alle zusammen in den Unglauben eingeschlossen, um alle zu begnadigen [Juden und Heiden, Israel und den Fremden]“ (Röm 11,29–32).

Sünden aus Versehen und Sünden aus Vermessenheit

Die Verse 22 bis 31 in unserem Kapitel geben uns Anweisungen über die Sünden aus Versehen und aus Vermessenheit – eine sehr ernste und wichtige Unterscheidung. Für jene ist nach der Güte und Barmherzigkeit Gottes genügend vorgesorgt. Der Tod Christi wird in diesem Teil des Kapitels nach seinen zwei großen Seiten dargestellt, nämlich als Brandopfer und als Sündopfer, d. h. nach der Seite, die sich auf Gott, und nach derjenigen, die sich auf uns bezieht. Ferner sehen wir hier den ganzen Wert, den Wohlgeruch seines vollkommenen Lebens und Dienstes als Mensch in dieser Welt, wie es durch das Speisopfer und Trankopfer dargestellt wird. Im Brandopfer sehen wir Versöhnung entsprechend der Hingabe Christi an Gott und des Wohlgefallens, das Gott an ihn hat; im Sündopfer sehen wir Versöhnung, wie sie im Hinblick auf das, was der Sünder bedarf, und auf die Hässlichkeit der Sünde in den Augen Gottes geschehen ist. Zusammengenommen stellen die beiden Opfer den Versöhnungstod Christi in seiner ganzen Tragweite dar. Das Speisopfer ist ein Bild des vollkommenen Lebens Christi und der Wirklichkeit seiner menschlichen Natur, wie sie sich in allen Einzelheiten seines Weges und Dienstes in dieser Welt offenbarte, und das Trankopfer schließlich stellt seine vollkommene Hingabe an Gott vor.

Wir wollen jetzt nicht auf die reichen und wunderbaren Belehrungen eingehen, die in den verschiedenen Opfern enthalten sind. Den Leser, den das interessiert, verweise ich auf die „Gedanken zum dritten Buch Mose“. Ich möchte hier nur darauf aufmerksam machen, dass die Ansprüche Gottes es erfordern, dass wir auch von den aus Versehen begangenen Sünden Kenntnis nehmen. Wir könnten meinen, dass man über solche Sünden hinwegsehen kann. Doch Gott denkt nicht so. Seine Heiligkeit darf nicht auf das Maß unserer Einsicht beschränkt werden. Die Gnade hat für Sünden aus Versehen Vorsorge getroffen; aber die Heiligkeit verlangt, dass solche Sünden gerichtet und bekannt werden. Jedes aufrichtige Herz wird Gott dafür preisen. Denn was würde aus uns werden, wenn die Vorkehrungen der göttlichen Gnade nicht genügten, um den Ansprüchen der göttlichen Heiligkeit zu entsprechen? Und sie würden es sicherlich nicht tun, wenn sie nicht über den Bereich unserer Einsicht hinausgingen.

Obwohl das im Allgemeinen zugegeben wird, hört man leider doch oft Gläubige ihre Unwissenheit entschuldigen, bzw. sie rechtfertigen Untreue und Irrtum mit Unwissenheit. Doch in solchen Fällen muss man meistens fragen: Warum sind wir über irgendetwas in unserem Leben oder über die Anrechte Christi auf uns in Unwissenheit? Nehmen wir an, wir werden vor eine Frage gestellt, die ein Urteil und eine bestimmte Handlungsweise von uns verlangt; können wir uns der Verantwortlichkeit für unser Verhalten dadurch entziehen, dass wir Unwissenheit vorschützen? Wird Gott erlauben, dass wir der Frage auf eine solche Weise ausweichen? Nein, eine solche Ausflucht wird niemals genügen. Warum sind wir unwissend? Haben wir alle Mittel angewandt, um der Sache auf den Grund zu kommen und zu einer richtigen Lösung der Frage zu gelangen? Denken wir daran, dass die Ansprüche der Wahrheit und Heiligkeit das von uns verlangen! Auch wir selbst sollten mit nichts Geringerem zufrieden sein.

Wir machen leider oft auch dort Unwissenheit geltend, wo es richtiger wäre, von Gleichgültigkeit zu sprechen. Das ist sehr traurig. Wenn unser Gott in seiner unendlichen Güte auch für die Sünden aus Versehen Vorsorge getroffen hat, so ist das doch wirklich kein Grund, sich hinter dem Vorwand der Unwissenheit zu verschanzen. Es gibt genug Belehrungen – wir müssen nur die Energie haben, sie zu benutzen.

Die Ansprüche Christi und die Autorität der Heiligen Schriften werden immer mehr beiseitegesetzt. Wir müssen deshalb darauf achten, dass das Wort Gottes den ihm gebührenden Platz in unseren Herzen findet und dass das Gewissen in allen Dingen durch seine Autorität geleitet wird. Ein zartes Gewissen ist etwas sehr Kostbares – ein Gewissen, das sich der Wirksamkeit des Wortes Gottes wirklich auftut und sich seinen klaren Anweisungen ohne eine Frage unterwirft. Wenn das Gewissen in diesem Zustand ist, so ist stets eine regulierende Kraft da, die auf unser Leben und unseren Charakter einwirkt. Man kann das Gewissen mit dem Regulator einer Uhr vergleichen. Es kann sein, dass die Zeiger der Uhr unrichtig stehen; aber solange der Regulator seinen Einfluss auf die Feder ausübt, ist es nicht schwer, den Stand und Gang der Zeiger zu berichtigen. Wenn aber dieser Einfluss aufhört, muss die ganze Uhr auseinander genommen werden. So ist es auch mit dem Gewissen. Solange es ein empfindsames Gefühl für das durch den Heiligen Geist angewandte Wort behält, ist eine sicher leitende Kraft erkennbar. Aber wenn es träge und hart wird, wenn es sich weigert, vor einem „So spricht der Herr!“ sich zu beugen, dann ist wenig oder gar keine Hoffnung mehr vorhanden. Dann entsteht ein Fall, der demjenigen ähnlich ist, den unser Kapitel berichtet: „Aber die Seele, die mit erhobener Hand etwas tut, von den Einheimischen und von den Fremden, die schmäht den HERRN; und diese Seele soll ausgerottet werden aus der Mitte ihres Volkes, denn das Wort des HERRN hat sie verachtet und sein Gebot gebrochen; diese Seele soll gewiss ausgerottet werden: Ihre Ungerechtigkeit ist auf ihr“ (V. 30.31).

Das war keine Sünde aus Versehen, sondern Sünde aus Vermessenheit und böser Absicht, für die nichts übrig blieb als das strenge Gericht Gottes. „Denn wie Sünde der Wahrsagerei ist Widerspenstigkeit und der Eigenwille wie Abgötterei und Götzendienst“ (1. Sam 15,23). Das sind ernste Worte für eine Zeit wie die gegenwärtige, wo der Wille des Menschen sich mit so außerordentlicher Kraft entwickelt. Man hält es für männlich, seinen Willen zu behaupten; aber die Schrift lehrt das Gegenteil. Die beiden großen Elemente menschlicher Vollkommenheit (oder vollkommener Menschheit) sind Abhängigkeit und Gehorsam. In dem Maß, wie jemand davon abweicht, weicht er auch von dem wahren Geist und der wahren Stellung eines Menschen ab. Wenn wir daher das Leben des einzig vollkommenen Menschen – des Menschen Christus Jesus – sehen, so erkennen wir von Anfang bis Ende, wie diese beiden großen Charakterzüge vollkommen entfaltet sind. Er verließ keinen Augenblick die Stellung vollkommener Abhängigkeit und unbedingten Gehorsams.

Christus ist unser Vorbild. Wir, die wir das Leben Christi haben, sind berufen, beständig in der Abhängigkeit und im Gehorsam zu leben. Das ist Wandel im Geist. Das ist der sichere und glückliche Weg des Christen. Unabhängigkeit und Ungehorsam sind immer miteinander verbunden; aber sie sind völlig unchristlich und unmenschlich. Wir sehen diese beiden Dinge in dem ersten Menschen, so wie wir das Gegenteil davon in dem zweiten finden. Adam wollte unabhängig sein. Er war nicht zufrieden damit, Mensch zu sein und auf dem allein wahren Platz eines Menschen zu bleiben, in dem wahren Geist eines Menschen zu leben, und deshalb wurde er ungehorsam. Unabhängigkeit und Ungehorsam kennzeichnen die ganze Geschichte der gefallenen Menschheit. Man mag sie betrachten, wo man will, ob vor oder nach der Sintflut, ob ohne Gesetz oder unter Gesetz, ob bei den Heiden, Juden und Muslimen oder bei den Namenchristen – überall findet man nichts als Unabhängigkeit und Ungehorsam. Und was ist das Ende der Geschichte des Menschen in dieser Welt? In welchem Charakter erscheint der Mensch da? Als „König, der nach seinem Gutdünken handelt“ (Dan 11,36) und als „der Gesetzlose“.

Der Herr gebe uns Gnade, diese Dinge recht zu erwägen! Streben wir nach einem demütigen und gehorsamen Geist! Gott hat gesagt: „Auf diesen will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist, und der da zittert vor meinem Wort“ (Jes 66,2). Möchten diese Worte in unsere Ohren und Herzen dringen, und möge das beständige Gebet unserer Seele sein: „Auch von übermütigen [Taten] halte deinen Knecht zurück; lass sie mich nicht beherrschen!“ (Ps 19,14). 1

Schändung des Sabbat

Das vorliegende Kapitel schließt mit der Geschichte des Sabbatschänders und der Verordnung über die „Schnur aus blauem Purpur“.

„Und als die Kinder Israel in der Wüste waren, da fanden sie einen Mann, der am Sabbattag Holz auflas. Und die, die ihn fanden, als er Holz auflas, brachten ihn zu Mose und zu Aaron und zu der ganzen Gemeinde. Und sie setzten ihn in Gewahrsam, denn es war nicht genau bestimmt, was ihm getan werden sollte. Da sprach der HERR zu Mose: Der Mann soll gewiss getötet werden; die ganze Gemeinde soll ihn außerhalb des Lagers steinigen. Da führte ihn die ganze Gemeinde vor das Lager hinaus, und sie steinigten ihn, dass er starb, so wie der HERR dem Mose geboten hatte“ (V. 32–36).

Das war sicherlich eine aus Vermessenheit begangene Sünde. Ihr Kennzeichen ist vor allem das Trotzen gegen ein klares und bestimmtes Gebot Gottes. Das aber macht sie unentschuldbar. Angesichts eines göttlichen Gebotes kann keine Unwissenheit vorgeschützt werden.

Aber warum musste der Mann in Gewahrsam gelegt werden? Aus folgendem Grund: Obwohl das Gebot klar und bestimmt war, war doch seine Übertretung nicht im Voraus angenommen und eine Strafe dafür bestimmt worden. Menschlich gesprochen, hatte der HERR von dem Menschen nicht die Torheit erwartet, dass er seine Ruhe unterbrechen würde, und Er hatte daher auch für einen solchen Vorfall keine Anordnung getroffen. Man braucht nicht zu erwähnen, dass Gott das Ende von Anfang an kennt; aber in dieser Angelegenheit hatte Er absichtlich den Fall so lange unentschieden gelassen, bis ein Anlass die Entscheidung verlangte. Leider kam der Anlass bald; denn der Mensch ist zu allem fähig. Er hat kein Herz für die Ruhe Gottes. Am Sabbat ein Feuer anzuzünden war nicht nur eine unmittelbare Übertretung des Gebotes, sondern offenbarte auch, dass man den Gedanken des Gesetzgebers völlig fremd gegenüberstand: Man brachte in den Tag der Ruhe etwas hinein, was ein Bild des Gerichts ist. Das Feuer ist ein Bild des Gerichts, und als solches stand es im unmittelbaren Gegensatz zu der Ruhe des Sabbats. Es blieb daher nichts anderes übrig, als dem, der den Sabbat gebrochen hatte, mit Gericht zu begegnen; denn „was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten“ (Gal 6,7).

Eine Quaste und eine blaue Schnur

„Und der HERR sprach zu Mose und sagte: Rede zu den Kindern Israel und sprich zu ihnen, dass sie sich eine Quaste an den Zipfeln ihrer Oberkleider machen, bei ihren Geschlechtern, und dass sie an die Quaste des Zipfels eine Schnur aus blauem Purpur setzen; und es soll euch zu einer Quaste sein, dass ihr, wenn ihr sie anseht, euch an alle Gebote des HERRN erinnert und sie tut, und dass ihr nicht umherspäht, eurem Herzen und euren Augen nach, denen ihr nachhurt; damit ihr euch an alle meine Gebote erinnert und sie tut, und eurem Gott heilig seid. Ich bin der HERR, euer Gott, der ich euch aus dem Land Ägypten herausgeführt habe, um euer Gott zu sein; ich bin der HERR, euer Gott“ (V. 37–41).

Der Gott Israels wollte, dass sein Volk sich beständig an seine heiligen Gebote erinnerte. Deshalb gab Er die schöne Verordnung über die Schnur von blauem Purpur, die dazu bestimmt war, ein himmlisches Erinnerungszeichen an den Zipfeln ihrer Kleider zu sein, damit das Wort Gottes immer in ihren Gedanken und Herzen blieb. Sooft ein Israelit die Schnur von blauem Purpur sah, sollte er an den HERRN denken und sich daran erinnern, dass er allen Verordnungen seines Gottes von Herzen gehorsam sein sollte.

Das war der große praktische Zweck der Schnur von blauem Purpur. Doch ein Blick auf Matthäus 23,5 zeigt uns, wie traurig der Mensch diese göttlichen Einrichtungen gebraucht hat. „Alle ihre Werke aber tun sie, um sich vor den Menschen sehen zu lassen; denn sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten groß.“ So wurde gerade das, was Gott angeordnet hatte, um den Menschen an ihn und an den Gehorsam gegen sein kostbares Wort zu erinnern, zu einem Mittel der Selbsterhebung und des religiösen Stolzes. Anstatt an Gott und sein Wort zu denken, dachten jene Leute nur an sich selbst und an jenen Platz, den sie in der Achtung ihrer Mitmenschen einnahmen. „Alle ihre Werke tun sie, um sich vor den Menschen sehen zu lassen.“ Kein Gedanke an Gott! Der Zweck der ursprünglichen Einsetzung war vollständig verloren, während die äußere Form zu eigennützigen Zwecken bewahrt wurde.

Fußnoten

  • 1 Wir möchten besonders die jungen Leser daran erinnern, dass das einzig wirksame Bewahrungsmittel gegen Sünden aus Versehen die Erforschung des Wortes, und dasjenige gegen Sünden aus Vermessenheit Unterordnung unter das Wort ist. Wir alle haben es nötig, daran zu denken, aber unsere jungen Brüder besonders. Es gibt unter den jungen Christen dieser Tage einen starken Hang, sich dem Strom des gegenwärtigen Zeitlaufs zu überlassen und seinen Geist aufzunehmen. Daher gibt es so viel Unabhängigkeit, so viel eigenen Willen, Ungehorsam gegen die Eltern, Widerwillen gegen jede Aufsicht, Hartnäckigkeit, Hochmut, Selbstvertrauen, anmaßendes Benehmen, Einbildung, Sich-Weiser-Dünken als die Alten – alles Dinge, die in den Augen Gottes so hässlich und dem Geist des Christentums völlig zuwider sind. Wir möchten alle unsere jungen Freunde herzlich bitten, sich vor diesen Dingen zu hüten und nach Demut zu streben. Möchten wir uns daran erinnern, dass Gott dem Hochmütigen widersteht, dass Er aber dem Demütigen Gnade gibt!
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