Einführende Vorträge zum Lukasevangelium

Kapitel 19

Einführende Vorträge zum Lukasevangelium

Als Er in Jericho einzog, wurde der Oberzöllner Zachäus unwiderstehlich von dem Verlangen gepackt, diese wunderbare Person, den Sohn des Menschen, zu sehen. Nichts durfte ihn aufhalten. Weder seine persönliche Unzulänglichkeit noch die Volksmenge, die sich dort befand, sollten die Ausführung seines Herzenswunsches, den Herrn Jesus anzuschauen, verhindern. Er kletterte deshalb auf einen Maulbeerfeigenbaum am Weg; und Jesus, der sehr gut den Wunsch des Zachäus kannte und den Glauben, der in ihm, wenn auch schwach, wirkte, lud sich sofort zum Erstaunen und zur Freude des Zachäus in dessen Haus ein. „Zachäus, steige eilends hernieder, denn heute muss ich in deinem Hause bleiben. Und er stieg eilends hernieder und nahm ihn auf mit Freuden“ (V. 5–6). Da begannen alle zu murren. So war es immer, sowohl am Anfang als auch am Ende. „Zachäus aber stand und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und wenn ich von jemand etwas durch falsche Anklage genommen habe, so erstatte ich es vierfältig“ (V. 8). Er war wirklich ein gewissenhafter Mann. Dieses Verhalten kennzeichnete ihn, denn er versprach nicht, in Zukunft so handeln zu wollen, sondern erwähnte seine damalige Gewohnheit. Er war das, was die Leute einen gerechten und guten Menschen nennen, obwohl er ein Oberzöllner und sogar ein reicher Oberzöllner war. Dabei sind diese beiden Tatsachen eigentlich schwer in Einklang zu bringen. Hier gab es einen Zöllner, der, wenn er durch Unachtsamkeit oder irgendein Versehen jemand anderem Unrecht getan hatte, keinen Zwang benötigte, um vierfältig zu erstatten. Das war seine Gewohnheit. Unser Herr schnitt ihm jedoch jedes Wort ab. Nach dem Gesichtspunkt einer menschlichen Gerechtigkeit war alles gut. Sein Verhalten bewies, dass Zachäus sich darin übte, auf seine Weise ein Gewissen ohne Anstoß zu haben. Dies liegt also keineswegs außerhalb des Gesichtsfelds des Lukasevangeliums; denn tatsächlich finden wir nur in letzterem diesen Bericht. Unser Herr zeigte jedoch, dass jetzt nicht die Zeit war, an solche Dinge zu denken oder davon zu sprechen. „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, dieweil auch er ein Sohn Abrahams ist; denn der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist“ (V. 9–10). Welch unendlich große Segnung! War es die rechte Zeit, von sich selbst zu reden? Nicht der gerechte Wandel eines Menschen und das Reden davon stand zur Debatte. In Wirklichkeit war der Mensch verloren; doch der Sohn des Menschen war gekommen, um seine Bürde zu tragen. Diese große und herrliche Tatsache verdrängte alles andere. Was immer zu irgendeiner Zeit im Menschen gewirkt haben mochte – alles verschwindet in der Gegenwart des Sohnes des Menschen, der den Verlorenen sucht und errettet. Was könnte uns eine lebendigere, wahrhaftigere und gesegnetere Schilderung von dem ersten Kommen des Herrn Jesus Christus mit der Gnade Gottes, welche das Heil brachte, darstellen?

Unmittelbar danach, und, wenn ich nicht falsch liege, in ausdrücklicher Verbindung zum Vorherigen, folgt das Gleichnis vom Edelmann, der in ein fernes Land zog, um für sich ein Königreich zu empfangen und dann zurückzukehren. Es irrten sich demnach alle, die erwarteten, dass das Königreich Gottes unmittelbar bevorstand. Es war nicht so. Christus stand im Begriff, in den Himmel zu gehen, um dort von Gott das Reich zu empfangen und nicht aus der Hand des Menschen und in dieser Welt. Das Gleichnis ist demnach ganz offensichtlich ein Bild von der Rückkehr des Herrn bei seinem zweiten Kommen, nachdem Er ein Reich empfangen hat. Entscheidend war nicht der Besitz von Macht oder die Gutwilligkeit des Menschen, sondern der Empfang des Reiches von Gott. Der Herr zeigte dann weiter, dass in der Zwischenzeit seine Knechte berufen sind, zu arbeiten, bis Er kommt. Er rief seine zehn Knechte, übergab ihnen zehn Pfunde und sprach zu ihnen: „Handelt, bis ich komme“ (V. 13). Sodann finden wir ein anderes  Bild. Seine Bürger hassten Ihn. Nichts könnte sorgfältiger ausgearbeitet sein als dieses Gleichnis. Die Beziehung des Herrn zum Reich bei seinem zweiten Kommen wird in einen Gegensatz gestellt zu der Gnade, die im ersten Teil dieses Kapitels ausfloss. Mit diesem Hauptgedanken beginnt das Gleichnis. Als Nächstes sehen wir die Stellung der Knechte, die verantwortlich sind, das zu nutzen, was der Herr gibt. Das ist ein anderer großer Gesichtspunkt, der hier gezeigt wird. Wir sehen nicht, wie im Matthäusevangelium, dass der Herr den verschiedenen Knechten unterschiedliche Gaben gibt, was natürlich auch wahr ist. Hier werden die Knechte sittlich geprüft, indem jeder dieselbe Summe empfängt. Dadurch erwies sich noch mehr als in dem anderen Beispiel, mit welchem Eifer ein jeder arbeitete. Sie begannen mit gleichen Voraussetzungen. Was war das Ergebnis? In der Zwischenzeit wird der Hass in den Bürgern offenbar, welche die ungläubigen Juden darstellen, die sich auf der Erde häuslich eingerichtet haben. „Als er zurückkam, nachdem er das Reich empfangen hatte, da hieß er diese Knechte, denen er das Geld gegeben, zu sich rufen, auf dass er wisse, was ein jeder erhandelt hätte. Der erste aber kam herbei und sagte: Herr, dein Pfund hat zehn Pfunde hinzugewonnen“ (V. 15–16). Ähnlich war es auch bei den anderen. Zuletzt hören wir von einem, welcher sagt: „Herr, siehe, hier ist dein Pfund, welches ich in einem Schweißtuch verwahrt hielt; denn ich fürchtete dich“ (V. 20–21). Er hatte kein Vertrauen zur Gnade des Herrn. In der Folge sah er sich vom Herrn, den er als einen strengen Mann betrachtete, mit Strenge behandelt. Der Unglaube findet genauso seine Antwort wie der Glaube. „Euch geschehe nach eurem Glauben“, hören wir den Herrn sagen (Mt 9, 29); aber, ach, auch das Umgekehrte gilt! Es geschieht dem Menschen nach seinem Unglauben.

Wir erkennen hier außerdem einen bemerkenswerten Unterschied hinsichtlich der Belohnungen. Es heißt nicht: „Gehe ein in die Freude deines Herrn“ (Mt 25, 23), sondern der eine empfängt zehn Städte, der andere fünf und so weiter. Dem Ängstlichen und Untreuen wird im Gegensatz dazu sein Pfund weggenommen. Auch die Feinde werden vorgestellt. (Der untreue Knecht wird nicht „Feind“ genannt, obwohl er zweifellos kein Freund des Sohnes ist und nach dem Grundsatz der Gerechtigkeit behandelt wird.) Die offenen Widersacher werden auf den Schauplatz geführt. Der Herr bezeichnet die Menschen, die nicht wollten, dass Er über sie herrsche, als seine Feinde und sagt über sie: „Bringet (sie) her und erschlaget sie vor mir“ (V. 27). So liefert dieses Gleichnis einen vollständigen Überblick über die allgemeinen Ergebnisse des zweiten Kommens des Herrn für die Bewohner der Welt sowie über die Arbeit und den Lohn der Knechte, die Ihm inzwischen treu gedient haben.

Als nächstes lesen wir vom Einzug in Jerusalem. Wir brauchen nicht bei den Einzelheiten seines Rittes auf dem Eselsfüllen zu verweilen. Doch das, was Lukas kennzeichnet, beansprucht für einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit. „Und als er schon nahte und bei dem Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit lauter Stimme freudig Gott zu loben über alle die Wunderwerke, die sie gesehen hatten, indem sie sagten: ‚Gepriesen sei der König, der da kommt im Namen des Herrn!‘ Friede im Himmel und Herrlichkeit in der Höhe!“ (V. 37–38). So wirkte der Heilige Geist in ihnen und ließ sie einen Schritt, und zwar einen großen Schritt, in der göttlichen Erkenntnis voranschreiten über das Lied der Engel am Anfang des Evangeliums hinaus. Bei der Geburt Jesu hatten diese berechtigterweise gesungen: „Friede auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen!“ (d. h. Gottes Wohlgefallen) (Lk 2, 14). Dieses Lied wurde eingeleitet mit: „Herrlichkeit Gott in der Höhe!“  Hier finden wir einen auffallenden Wechsel oder eher eine Umkehrung. Die „Herrlichkeit in der Höhe“  ist das Ergebnis und nicht die Einleitung; und anstelle von „Friede auf Erden“, der zweifellos bald als Frucht zu sehen sein wird und nach den Gedanken Gottes von Anfang an die Erwartung ausmachen sollte, singen die Jünger inzwischen – und vollkommen angemessen – von „Friede im Himmel“. Es ging jetzt nicht um Friede auf Erden. Der Grund ist klar. Die Erde war dazu noch nicht bereit, denn sie stand im Begriff, ungerecht zu urteilen und dafür gerichtet zu werden. Jesus befand sich unmittelbar davor, hinausgeworfen und getötet zu werden. In den Herzen war Er wirklich schon völlig verworfen worden. Aber in Kürze sollte Er noch in ganz andere Leiden eintreten, nämlich Leiden bis zum Tod am Kreuz. Die Wirkung dessen, was herannahte, war also nicht Friede für die Erde in der gegenwärtigen Zeit, sondern unumstößlicher Friede im Himmel. Daher können wir verstehen, wie der Herr durch seinen Geist am Anfang und am Ende seines Weges das Lied der Jünger und Engel leitete. Das Lied der Letzteren drückte die allgemeinen Gedanken und Absichten Gottes aus – die sittlichen Folgen, die aus dem Tod des fleischgewordenen Sohnes Gottes entspringen sollten.

Danach wurden die murrenden Pharisäer abgewiesen, welche wünschten, dass die Jünger wegen ihres Liedes getadelt würden. Doch wenn sie es nicht gesungen hätten, dann hätten die Steine schreien müssen. Der Herr verteidigte die Schuldlosen.

Es folgt jene ergreifende Szene, die für das Lukasevangelium so passend und kennzeichnend ist: Jesus weint über Jerusalem. Hier weinte Er nicht am Grab des Mannes, den Er liebte und den Er kurze Zeit später aus dem Grab herausrufen wollte (Joh 11). Das Weinen im Johannesevangelium stand in Verbindung mit dem Tod, der Lazarus angerührt hatte. Darum ist es viel persönlicher. Wir sehen den wunderbaren Anblick dessen, der sich seiner göttlichen Macht, den Tod zu verbannen und das Leben einzuführen, durchaus bewusst war. Nichtsdestoweniger empfand Er in Gnade nicht um eine Spur weniger, sondern vielmehr umso stärker die Macht des Todes. Keine Person, die ausschließlich Mensch war, konnte sie jemals so fühlen; dennoch musste sie ein wahrer Mensch sein, um sie fühlen zu können. Niemals gab es einen Menschen, der solch ein Empfinden von dem Tod hatte, wie Jesus; denn Er war Leben, dessen Kraft, vereint mit vollkommener Liebe, die Macht des Todes so fühlbar machte. Der Tod fühlt den Tod nicht; das vermag allein das Leben. Darum weinte Er, der wie niemand sonst das Leben war (und nicht nur Leben besaß), in der Gegenwart des Todes. Er seufzte am Grab tief im Geist. Seine Macht, den Tod zu verbannen, schwächte keineswegs seine Gefühle über den Tod ab. Wenn schon der sterbliche Mensch etwas davon empfindet, dann trat das fleischgewordene Wort, der Gottmensch, im Geist völlig in dieses Empfinden ein, und zwar umso mehr, weil Er sowohl Gott als auch Mensch war. Hier haben wir jedoch eine andere Szene. Er weinte über gerade jene Stadt, die im Begriff stand, Ihn hinauszuwerfen und zu kreuzigen. O, das ist eine Wahrheit, die wir tief in unseren Herzen als Schatz hüten sollten! Er weinte in göttlicher Gnade über das schuldige Jerusalem, welches die ihm entgegengebrachte Barmherzigkeit und seinen eigenen Heiland – Ihn, den Herr-Gott – verwarf. Er sagte seine Verwüstung und Zerstörung voraus, weil es die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannt hatte. Sein Besuch des Tempels und dessen Reinigung werden nur kurz erwähnt, ebenso sein tägliches Lehren. Doch die Führer der Priester und des Volkes trachteten danach, Ihn zu vernichten. Sie wussten aber nicht wie, weil das ganze Volk Ihm anhing, um Ihn zu hören.

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