Einführende Vorträge zum Lukasevangelium

Kapitel 1

Einführende Vorträge zum Lukasevangelium

Die Vorrede zum Lukasevangelium ist genauso belehrend wie die Einführung in die beiden ersten Evangelien. Wohl jeder sorgfältige Leser nimmt wahr, dass wir nun ein ganz anderes Gebiet betreten, obwohl alles in gleicher Weise göttlich ist. Hier wird jedoch ausführlicher auf menschliche Gefühle und Beweggründe eingegangen. Ein gottesfürchtiger Mann schrieb von Gott inspiriert an einen anderen, der mehr über Jesus erfahren sollte. Dabei weist er nicht besonders auf seine Inspiration hin, als könnte sie eine zweifelhafte Sache sein. Im Gegenteil, es wird wie überall in der Bibel ohne ausdrückliche Erklärung vorausgesetzt, dass das geschriebene Wort das Wort Gottes ist. Die Absicht des Evangeliums besteht darin, einem Mitchristen – einem Mann von hoher Stellung, aber dennoch ein Jünger – einen vollen, genauen und sorgfältigen Bericht von dem Herrn Jesus zu geben. Obwohl der Schreiber gründliche Kenntnis über sein Thema besaß, konnte tatsächlich nur jemand einen solchen Bericht schreiben, der zu diesem Zweck vom Heiligen Geist inspiriert war. Lukas berichtet, dass es viele Denkschriften nach den Überlieferungen jener gab, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Diese Werke sind vergangen; sie waren menschlich. Sie wurden zweifellos in bester Absicht geschrieben. Ihre Schreiber waren auf keinen Fall Ketzer, welche die Wahrheit verdarben, sondern Menschen, die nach ihrer eigenen Weisheit das darlegen wollten, was Gott allein in rechter Weise bekannt machen konnte.

Gleichzeitig unterrichtet uns Lukas, der Schreiber dieses Evangeliums, von seinen Beweggründen, anstatt uns eine trockene und überflüssige Erklärung zur Art der Offenbarung, die er empfangen hat, zu geben. „Es (hat) auch mir gut geschienen“ (V. 3), steht im Gegensatz zu jenen vielen, die sonst noch geschrieben hatten. Sie hatten das Werk in ihrer Weise ausgeführt, er nach einer anderen, wie er sofort danach erklärt. Er bezieht sich natürlich nicht auf die Evangelien von Matthäus und Markus, sondern auf Berichte, die damals unter den Christen herumgereicht wurden. Es konnte nicht anders sein, als dass viele versuchen würden, Erzählungen über so wichtige und das Interesse beanspruchende Ereignisse zu veröffentlichen. Falls sie letztere nicht selbst miterlebt hatten, dann sammelten sie die Details von Augenzeugen, die den Herrn noch auf der Erde gekannt hatten. Diese Denkschriften waren im Umlauf. Wie der Heilige Geist den Schreiber dieses Evangeliums einerseits von den anderen unterscheidet, so verbindet Er ihn auch mit ihnen. Lukas sagt, dass jene sich auf solche Männer stützten, welche von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Er sagt aber nichts Derartiges von sich selbst, wie man vielleicht voreilig aus dem Ausdruck „auch mir“  schließen könnte. Denn er gibt offensichtlich eine ganz andere Quelle für seinen Umgang mit dem Thema an. Kurz gesagt, er äußert nicht, dass sich  sein Bericht auf Augenzeugen stützt. Dennoch spricht er von seiner Vertrautheit mit den Ereignissen von Anfang an, ohne uns zu sagen, wie er dazu kam. In Bezug auf die anderen schreibt er, dass sie es unternommen hätten, „eine Erzählung von den Dingen, die unter uns völlig geglaubt werden, zu verfassen, so wie es uns die überliefert haben, welche von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes gewesen sind“ (V. 1–2). Er unterstellt ihnen keine Unwahrheit, sondern bestätigt, dass ihre Lebensbeschreibungen aus der Überlieferung von Männern stammten, die Christus hienieden gesehen, gehört und Ihm gedient hatten. Aber er misst den zahlreichen Schreibern keinen göttlichen Charakter zu und teilt mit, dass für den Glauben und die Belehrung der Jünger eine vertrauenswürdigere Urkunde nötig ist. Er beansprucht, diese in seinem Evangelium zu geben. Seine eigene Befähigung für diese Aufgabe bestand darin, dass er eine genaue Kenntnis über alles hatte, und zwar von Anfang an. So konnte er an Theophilus schreiben: „Auf dass du die Zuverlässigkeit der Dinge erkennest, in welchen du unterrichtet worden bist“ (V. 4).

In dem Ausdruck „von Anfang an“  zeigt uns Lukas einen Unterschied zwischen seinem Evangelium und den Denkschriften, die unter den Christen kursierten. „Von Anfang an“  bedeutet, dass er einen Bericht schrieb, der vom Ursprung oder Anfang ausging. Der Ausdruck ist in unserer Übersetzung korrekt wiedergegeben. So finden wir im Lukasevangelium, wie er sein Thema mit besonders großer Ausführlichkeit verfolgt. Daher stellt er die Umstände, die dem Leben unseres Herrn vorausgingen und die Ihn sein ganzes Leben lang bis zu seiner Himmelfahrt begleiteten, eingehend vor den Leser.

Auch geht Lukas nicht eingehender als andere inspirierte Schreiber auf seinen inspirierten Charakter ein, denn diesen setzt die Heilige Schrift überall voraus. Zudem versucht er nicht, diesen zu erklären. Er sagt nicht, woher er sein volles Verständnis von all den Einzelheiten empfangen hat, die er mitteilt. Ein solcher Nachweis entspricht nicht der Handlungsweise inspirierter Schreiber. Sie schrieben „wie einer, der Gewalt (Autorität) hat“, so wie auch unser Herr „wie einer, der Gewalt hat“, lehrte und „nicht wie ihre Schriftgelehrten“ oder Überlieferungs-Fanatiker (Mt 7,29). Tatsächlich beansprucht Lukas für sich die vollste Bekanntschaft mit seinem Thema. Die Erwähnung dieses Anspruchs passt zu keinem anderen Evangelisten als nur zu Lukas. Er war ein Mann, der, obwohl inspiriert wie die übrigen, seinen Freund und Bruder mit „Menschenbanden zog“ (Hos 11,4). Die Inspiration steht in der Regel keineswegs im Widerspruch zur Individualität des Menschen. Noch weniger gilt das hier, wo Lukas von dem Sohn Gottes, als Mensch geboren von einer Frau, an einen anderen Menschen schreibt. Deshalb stellt er in der Vorrede seine eigenen Gedanken und Gefühle sowie das Material für sein Werk und das Ziel, das er im Auge hat, vor. Dieses ist das einzige Evangelium, welches an einen Menschen adressiert ist. Das gehört auf natürlichste Weise zu dem Charakter des Evangeliums und führt uns in denselben ein. Wir stehen im Begriff, unseren Herrn Jesus vor allem als Mensch – und zwar als einen wahren Menschen – vorgestellt zu finden. Wir sehen Ihn hier nicht so sehr als Messias – das ist Er natürlich auch – oder als Diener, sondern vielmehr als Mensch. Zweifellos ist Er auch als Mensch der Sohn Gottes; und Er wird auch schon im ersten Kapitel dieses Evangeliums so genannt. Er war auch als in diese Welt geboren der Sohn Gottes und nicht nur, bevor Er in diese Welt eintrat. Er ist der  ewige Sohn Gottes. Das Heilige, welches von der Jungfrau geboren wurde, sollte Sohn Gottes genannt werden. Das war sein Titel, auch nachdem Ihm ein Leib bereitet und Er von einer Frau, nämlich der Jungfrau Maria, geboren worden war. Letzteres zeigt natürlich in besonderer Weise vom Anfang des Evangeliums an, wie viel Wert in ihm der menschlichen Seite des Herrn Jesus gegeben wird. Alles, was sich in Jesus und in jedem seiner Werke und Worte offenbarte, entfaltete seinen göttlichen Charakter. Nichtsdestoweniger war Er Mensch; und hier wird Er in allen Umständen als ein Mensch gesehen. Daher war es von tiefstem Interesse, dass die Umstände irrtumsfrei aufgezeichnet wurden, wie dieser wunderbare Mensch in die Welt eintrat und auf der Erde umherzog. Der Geist Gottes lässt sich herab, durch Lukas am Anfang jene Personen zu schildern, die den Herrn umgaben. Später spricht er von den verschiedenen Ereignissen bis zu seiner Himmelfahrt, in denen das Herz Jesu angesprochen wurde. Es gibt allerdings noch einen anderen Grund, warum Lukas so eigenartig beginnt. Er ist vor allen anderen der Evangelist, der in seiner Darstellungsweise dem großen Apostel der Nationen ähnelt. Er war ja auch ein Begleiter des Paulus, wie wir in der Apostelgeschichte sehen. Paulus nennt ihn einen seiner Mitarbeiter (Phlm 24). So finden wir Lukas, wie er unter der Leitung des Heiligen Geistes in derselben kennzeichnenden Weise handelt wie der Apostel Paulus in seinem Dienst und seinem Zeugnis. Beide wirkten nach dem charakteristischen Grundsatz: „Dem Juden zuerst als auch dem Griechen“ (Röm 1,16).

Obwohl also unser Evangelium im Wesentlichen einen nichtjüdischen Charakter trägt, indem es an einen Nichtjuden gerichtet und von einem Nichtjuden geschrieben ist, beginnt es mit einer Ankündigung Christi, die jüdischer ist als irgendeine in den anderen Evangelien. Ähnlich handelte auch Paulus in seinem Dienst. Er fing bei den Juden an. Doch bald verwarfen die Juden zunehmend das Wort und erwiesen sich als unwürdig des ewigen Lebens. Daraufhin wandte Paulus sich an die Nichtjuden. Das gilt auch für unser Evangelium. Es ähnelt so sehr den Schriften des Apostels, dass einige der frühen christlichen Schreiber annahmen, hier die Erklärung für einen Ausdruck des Paulus zu finden, der erst viel später richtig verstanden wurde. Ich erwähne diese Ansicht hier nicht, weil ich sie in irgendeiner Weise für richtig halte, denn sie ist völlig falsch. Sie zeigt uns jedoch, dass man schon damals, allerdings verdeckt durch den Irrtum, etwas von dieser Wahrheit ahnte. Die Menschen damals dachten, dass Paulus, wenn er von „meinem [oder „unser“] Evangelium“ sprach (Röm 16,25; 2. Kor 4,3), das Lukasevangelium meinte. Glücklicherweise kennen die meisten meiner Hörer die wahre Bedeutung dieses Ausdrucks gut genug, um einen so seltsamen Irrtum zu entlarven. Aber er zeigt doch, dass selbst die unverständigsten Menschen wahrnehmen mussten, wie im Lukasevangelium eine Art des Denkens und ein Strom der Gefühle vorherrschen, die in weiten Zügen mit dem Zeugnis des Paulus harmonieren. Es handelt sich indessen keineswegs um das, was der Apostel Paulus  sein Evangelium oder „das Geheimnis des Evangeliums“ (Eph 6,19) nennt. Das letztere war sicherlich die große sittliche Grundlage, auf der das erstere ruhte. Auf jeden Fall stimmten sie gut miteinander überein; und das eine bereitete das andere vor. Folglich finden wir zunächst, wie Christus in reichster Gnade dem gottesfürchtigen jüdischen Überrest vorgestellt wird, bevor Lukas ausführlich berichtet, wie Gott den eingeborenen Sohn in diese Welt einführt. Dabei bestand Gottes Absicht darin, die ganze menschliche Rasse mit Christus in Verbindung zu bringen und insbesondere den Weg für seine großartigen Pläne und Ratschlüsse hinsichtlich der Nichtjuden vorzubereiten. Nichtsdestoweniger rechtfertigte sich Gott zunächst in seinen Wegen und zeigte, dass Er bereit war, jede Verheißung an die Juden zu erfüllen.

Wir finden deshalb in den ersten beiden Kapiteln des Lukasevangeliums eine Rechtfertigung Gottes in der Person des Herrn Jesus, durch welchen Er alle seine alten Zusagen an Israel hätte erfüllen können. Insofern stimmt die ganze Szene mit diesen Gefühlen Gottes gegen Israel überein. Wir sehen einen Priester – gerecht nach dem Gesetz. Trotzdem ist seine Frau ohne jene Nachkommen, welche die Juden als Zeichen der Gunst Gottes erwarteten. Aber jetzt besuchte Gott die Erde in Gnade. Engelerscheinungen waren damals selten. Hin und wieder wirkten sie als Zeichen des Mitleids Gottes mit den Elenden (Joh 5). Jedoch als Zeugen der herrlichen Wege Gottes waren sie lange nicht mehr gesehen worden. Nun hingegen, als Zacharias seinen Priesterdienst ausübte, erschien ihm ein Engel und verkündete ihm die Geburt eines Sohnes, des Vorläufers des Messias. Das Verhalten des Zacharias offenbarte, wie stark sogar in den Gottesfürchtigen Israels der Unglaube wirkte. Gott strafte ihn mit Stummheit, doch seine Gnade hörte nicht auf. Dieses Geschehen war allerdings nur der Vorbote von noch kostbareren Ereignissen. Und der Engel des Herrn wurde auf einen zweiten Botengang gesandt, um jene allerälteste Vorhersage aus dem gefallenen Paradies wieder aufzugreifen. Es handelte sich um die gewaltigste Verheißung Gottes, die alle anderen Prophezeiungen an die Stammväter sowie durch die Propheten weit übertraf und welche in der Tat die Erfüllung aller Verheißungen Gottes in sich schloss. Er kündete der Jungfrau Maria eine Geburt an, die in keinster Weise natürliche Voraussetzungen hatte. Dennoch sollte ein wirklicher Mensch geboren werden. Dieser Mensch war der Sohn des Höchsten, der auf dem schon so lange Zeit leeren Thron seines Vaters David sitzen sollte.

Das war die Botschaft. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass noch gesegnetere und tiefgründigere Wahrheiten als die vom Thron Israels in jener Ankündigung enthalten waren. Allerdings kann ich mich nicht ausführlicher damit beschäftigen, wenn wir heute Abend bei der Betrachtung unseres Evangeliums ein Stück vorankommen wollen. Es genügt, wenn ich sage, dass wir so alle Beweise der Gunst Gottes an Israel und die Treue gegen seine Verheißungen, sowohl in dem Vorläufer des Messias als auch in der Geburt des Messias selbst, vorgestellt bekommen. Danach folgt die liebliche Lobeserhebung der Mutter unseres Herrn; und kurze Zeit später wird die Zunge dessen, der mit Stummheit geschlagen worden war, gelöst. Zacharias kann wieder sprechen und preist zuallererst den Herrn für seine Gnade.

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