Betrachtung über Matthäus (Synopsis)

Kapitel 26

Betrachtung über Matthäus (Synopsis)

Der Herr hat seine Reden beendet. Er bereitet sich vor zum Leiden und zu seinem letzten und rührenden Abschied von seinen Jüngern bei Gelegenheit seines letzten Passahs auf der Erde, wo Er das einfache und köstliche Gedächtnismahl einsetzte, das uns in so inniger Weise seine Leiden und seine Liebe vor Augen stellt. Dieser Teil unseres Evangeliums erfordert nicht viel Erklärung, wahrlich nicht darum, weil er von geringerem Interesse wäre, sondern weil er weit mehr gefühlt als erklärt zu werden bedarf.

Mit welcher Einfachheit verkündigt der Herr das, was geschehen sollte (V. 2)! Schon sechs Tage vor dem Passah ist Er in Bethanien angekommen (Joh 12,1); und dort wohnte Er (mit Ausnahme des letzten Abendessens) bis zu seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane, wiewohl Er Jerusalem besuchte und dort sein letztes Mahl feierte.

Die Reden, die der Herr während dieser sechs Tage hielt, sowie seine Taten, wie z. B. die Reinigung des Tempels, haben wir bereits betrachtet. Dem 26. Kapitel geht voran die Offenbarung seiner Rechte als Emmanuel, König von Israel, dann die Offenbarung des Gerichts des großen Königs hinsichtlich des Volkes (ein Gericht, ausgedrückt in Gesprächen, auf die das Volk nichts zu erwidern vermochte), und endlich die Lage seiner Jünger während seiner Abwesenheit. Jetzt tritt seine Unterwerfung unter die Ihm bestimmten Leiden vor unsere Blicke, unter das Gericht, welches bald an Ihm ausgeführt werden sollte, das in Wirklichkeit aber nur die Ausführung der Ratschlüsse Gottes, Seines Vaters, und seines eigenen Liebeswerkes war.

Das finstere Gemälde der schrecklichen Sünde des Menschen, begangen in der Kreuzigung Christi, entrollt sich vor unseren Blicken. Doch der Herr selbst kündigt seinen Tod im Voraus an mit der Ruhe eines Mannes, der eben zu diesem Zweck gekommen war. Bevor die Beratung der Hohenpriester stattgefunden hatte, spricht Jesus schon davon als von einer bereits geordneten Sache: „Ihr wisst, dass nach zwei Tagen das Passah kommt; und der Sohn des Menschen wird überliefert, um gekreuzigt zu werden“ (V. 2). Dann versammeln sich die Priester, die Schriftgelehrten und Ältesten zur Feststellung ihrer Pläne, um sich der Person Jesu zu bemächtigen und sich seiner Person zu entledigen. Kurz, das Wort zeigt uns zunächst die wunderbaren Ratschlüsse Gottes und die Unterwerfung Jesu nach seiner Kenntnis dieser Ratschlüsse und der Umstände, die ihre Erfüllung herbeiführen sollten, und danach die gottlosen Überlegungen der Menschen, die nur die göttlichen Ratschlüsse zur Ausführung bringen. Ihr Beschluss, Ihn nicht am Tag des Festes gefangen zu nehmen, weil sie das Volk fürchteten (V. 5), war nicht der Beschluss Gottes, und deshalb schlägt er fehl: gerade an dem Fest sollte Jesus leiden.

Judas war nur das Werkzeug der Bosheit der Obersten des Volkes in der Hand Satans, der wiederum alles nur der Absicht Gottes entsprechend einzurichten vermochte. Es war, wie gesagt, der Wunsch der Obersten, die Gefangennahme Jesu zur Zeit des Festes zu vermeiden, und zwar wegen der Volksmenge, die Ihm (was schon bei dem Einzug in Jerusalem geschehen war) ihre Gunst hätte zuwenden können, wenn Er sich etwa auf sie berufen hätte. Sie setzten wohl voraus, dass Jesus das tun würde; denn die Bösen rechnen stets darauf, dass andere nach denselben Grundsätzen handeln, durch die sie selbst geleitet werden. Aus diesem Grund gelingt es ihnen auch so oft nicht, die Gerechten zu überlisten, weil diese einfältig sind. Es war der Wille Gottes, dass Jesus während des Festes leiden sollte. Aber Er hatte für das Herz Jesu eine liebliche Erquickung bereitet – eine Salbe, mehr für sein Herz als für seinen Leib; ein Umstand, der durch den Feind benutzt wurde, um Judas zum äußersten zu treiben und ihn mit den Hohenpriestern in Verbindung zu bringen.

Bethanien, das in unseren Gedanken mit den letzten Augenblicken der Ruhe und des Friedens in dem Leben unseres Heilandes verknüpft ist, und wo Martha und Maria und Lazarus, der Auferstandene, wohnten, – Bethanien nimmt Jesum zum letzten Male auf 1. Das Herz Jesu, jederzeit bereit, sich in Liebe zu ergießen, und immer beengt in einer sündhaften Welt, die diese Liebe nicht erwiderte und nicht zu erwidern vermochte – dieses Herz, das uns in seinen Beziehungen zu der geliebten Familie in Bethanien ein Beispiel vollkommener und doch menschlicher Liebe gibt, für die es überaus köstlich war, erwidert und geschätzt zu werden – dieses Herz findet eine gesegnete, wenn auch nur vorübergehende Zufluchtsstätte in Bethanien. Die Nähe des Kreuzes, wo Er sein Antlitz einem Kieselstein gleichmachen musste, vermochte seinem Herzen weder die Freude noch die Süßigkeit dieser Gemeinschaft zu rauben, machte sie vielmehr feierlich und rührend. Indem Er das Werk Gottes vollbrachte, hörte Er nicht auf, Mensch zu sein; es gefiel Ihm, in allem uns anzugehören. Jerusalem konnte Er nicht mehr anerkennen, aber dieses Heiligtum (Bethanien) schützte Ihn für einen Augenblick vor der rohen Hand des Menschen. Hier konnte Er kundtun, was Er als Mensch stets war. Mit Recht sollte die Handlung jener Frau, das in gewissem Maß zu schätzen wusste, was Er fühlte 2 – deren Liebe instinktmäßig wahrnahm, wie die Feindschaft wider den Gegenstand ihrer Liebe immer höher stieg, und die dadurch gedrängt wurde, sich kundzugeben – mit Recht sage ich, sollte eine Handlung, die den Wert ausdrückte, den seine Kostbarkeit und Gnade für ihr Herz besaß, in der ganzen Welt erzählt werden (V. 6–13). Das Schauspiel oder Zeugnis, das sich hier vor unseren Blicken vollzieht, bringt uns den Herrn fühlbar nahe und weckt in unseren Herzen ein heiligendes Gefühl, indem es sie mit seiner vielgeliebten Person verbindet. Sein tägliches Leben war eine fortwährende Seelenspannung, die im Verhältnis stand zu der Stärke seiner Liebe; es war ein Leben der Aufopferung inmitten der Sünde und des Elends.

Angesichts der Macht des Bösen, die jetzt ihren freien Lauf haben sollte, und indem die Liebe, die an Ihm hing, sich unter diese Macht beugte, weil sie infolge des Sitzens zu seinen Füßen eine wahre Kenntnis seiner Person besaß – ja, angesichts dieser konnte und wollte Er für einen Augenblick jene Hingabe für Ihn anerkennen, die durch das hervorgerufen wurde, welchem seine Seele in göttlicher Vollkommenheit sich unterwerfen wollte. Er konnte dem, was eine von Gott bewirkte Zuneigung schweigend ausübte, einen verständlichen Ausdruck geben, ihm seine wahre Bedeutung beilegen 3.

Der Leser wird wohl daran tun, diese Szene rührender Herablassung und innigen Herzensergusses sorgfältig zu betrachten. Von Kap. 21 bis zum Ende des 25. Kapitels haben wir gesehen, wie Jesus, Emmanuel, der König und allerhöchste Richter, über alles sein Urteil aussprach. Er war fertig mit dem, was Er zu sagen hatte. In dieser Beziehung war seine Aufgabe hienieden erfüllt. Er nimmt jetzt den Platz des Opfers ein. Er hat nur noch zu leiden und kann sich frei dem Genuss einer rührenden Liebe hingeben, die aus einem Ihm ergebenen Herzen hervorströmt. Allerdings konnte Er den Honig nur kosten und musste dann weitergehen; aber Er kostet ihn und weist eine Liebe nicht zurück, die sein Herz zu schätzen wusste und auch schätzte.

Andererseits können wir hier die Wirkung einer tiefen Liebe zum Herrn wahrnehmen. Diese Liebe atmet notwendigerweise die Luft, in der der Geist des Heilandes sich in jenem Augenblick befand. Die Frau, die Ihn salbte, war über die Einzelheiten dessen, was kommen sollte, nicht unterrichtet, auch war sie keine Prophetin. Aber das Herannahen der Stunde der Finsternis wurde von einer, deren Herz auf Jesum gerichtet war, gefühlt 4. Die verschiedenen Formen des Bösen enthüllten sich vor Ihm und zeigen sich in ihren wahren Farben; und unter dem Einfluss eines Meisters, Satans, gruppieren sie sich um den einzigen Gegenstand, gegen den diese Vereinigung der Bosheit zu richten der Mühe wert war, und der ihren wahren Charakter völlig ans Licht stellte.

Doch dieselbe Vollkommenheit Jesu, welche die Feindschaft der Juden hervorrief, rief in Maria die innigste Liebe wach; und sie ließ diese Vollkommenheit sozusagen in ihrer Liebe zurückstrahlen. Und wie jene Vollkommenheit durch die Feindschaft in Tätigkeit gesetzt und ans Licht gebracht wurde, so auch ihre Liebe. So konnte denn das Herz Christi nicht anders als dieser Liebe entgegenkommen. Infolge jener Feindschaft wurde Jesus nur umso mehr der Gegenstand der Beschäftigung für ein Herz, das, ohne Zweifel von Gott geleitet, instinktmäßig fühlte, was vorging. Für Jesum war die Zeit des Zeugnisses und selbst die der Erklärung seiner Beziehungen zu allem, was Ihn umgab, vorüber. Sein Herz war frei, um sich der guten, wahren und geistlichen Zuneigungen, deren Gegenstand Er war, zu erfreuen, und die, was immer ihre menschliche Form sein mochte, ihren göttlichen Ursprung deutlich darin zeigten, dass sie sich an den Gegenstand knüpften, auf welchen in diesem feierlichen Augenblick die ganze Aufmerksamkeit des Himmels gerichtet war. Jesus selbst war sich Seiner Stellung bewusst. Seine Gedanken waren auf seinen Heimgang gerichtet. Solange Er seine Macht ausübte, verbarg und vergaß Er sich. Jetzt aber unterdrückt und verworfen und gleich einem Lamm zur Schlachtbank geführt, fühlte Er, dass Er der wahre und rechtmäßige Gegenstand der Gedanken derer war, die Ihm gehörten, aller derer, welche Herzen hatten, zu schätzen, was Gott schätzt. Sein Herz war von den kommenden Ereignissen erfüllt (siehe die Verse 2,10, 13,18 u. 21).

Doch noch einige Worte mehr über die Frau, die Jesus salbte. In auffallender Weise wird uns in ihr gezeigt, was das Ergebnis ist, wenn das Herz in Liebe auf den Herrn gerichtet ist. Mit Ihm beschäftigt, fühlt sie seine Lage. Sie fühlt, was Ihn bewegt, und dies setzt ihre Liebe in Tätigkeit gemäß der besonderen Hingabe, die diese Lage ihr einflößt. Wenn der Hass gegen Ihn bis zu dem Entschluss stieg, Ihn zu ermorden, wuchs dementsprechend in ihr der Geist der Hingabe. Infolgedessen tat sie mit dem feinen Gefühl, welches die Hingabe verleiht, genau das, was seiner Liebe angemessen war. Die arme Frau hatte keine klare Einsicht hierüber; allein sie tat gerade das, was passend war. Ihre Wertschätzung der Person Jesu, der so unendlich kostbar für sie war, machte sie scharfsichtig betreffs dessen, was in seinem Geist vorging. In ihren Augen war Christus mit der ganzen Bedeutsamkeit seiner Umstände bekleidet, und sie schüttet das über Ihn aus, was ihrer Liebe Ausdruck gab. Als Frucht dieses Gefühls steht ihr Tun in Übereinstimmung mit den Umständen; und obwohl ihre Handlung nur dem unbewussten Triebe ihres Herzens entsprang, legt Jesus ihr doch den ganzen Wert bei, den seine vollkommene Einsicht ihr beimessen konnte, indem Er die Gefühle ihres Herzens und die kommenden Begebenheiten zugleich umfasste.

Doch dieses Zeugnis der Zuneigung und Hingabe an Jesum bringt den Eigennutz und die Herzlosigkeit der übrigen an den Tag. Sie tadeln die arme Frau – ein betrübender Beweis davon, um nichts von Judas 5 zu sagen, wie verkehrt es ist zu denken, dass die Erkenntnis dessen, was Jesum betrifft, notwendigerweise eine derselben angemessene Zuneigung in unseren Herzen erwecken müsse. Gleich danach geht Judas hinaus und verständigt sich mit den unglücklichen Priestern, um ihnen Jesum für den Preis eines Sklaven zu überliefern.

Mit Vers 16 endet der besprochene Gegenstand: die Kenntnis, welche Christus Gott gemäß von dem hatte, was Ihm begegnen sollte, die Verschwörung der Priester, die von dem Herrn wohlgefällig angenommene Liebe der armen Frau, die selbstsüchtige Kaltherzigkeit der Jünger und endlich der Verrat des Judas.

Der Herr verfolgt seinen Weg der Liebe; und wie Er den Beweis der Liebe jener armen Frau angenommen hatte, so gibt Er jetzt seinen Jüngern einen Liebesbeweis; der für unsere Seelen von unendlichem Wert ist. Er setzt das Gedächtnis des wahren Passahs ein. Er sendet seine Jünger aus, um für die Feier des Festes zu Jerusalem Vorbereitungen zu treffen, und bezeichnet Judas als den, der Ihn den Juden überliefern werde (V. 17–25). Man wird bemerken, dass der Herr hier nicht einfach seiner Kenntnis des Verräters Ausdruck gibt (Er kannte Judas, als Er ihn berief), sondern Er sagt: „Einer von euch wird mich überliefern“ (V. 21). Das war es, was sein Herz bewegte; und Er wünschte, dass auch das Herz seiner Jünger davon bewegt werden möchte.

Dann weist Jesus darauf hin, dass es ein gestorbener Heiland ist, dessen sich die Seinigen erinnern sollen. Es handelt sich nicht mehr um einen lebenden Messias (alles das war vorüber), auch nicht mehr um die Erinnerung an die Befreiung Israels aus der Sklaverei Ägyptens. Christus, und zwar der gestorbene Christus, begann eine ganz neue Ordnung von Dingen; Seiner, des auf Erden Gestorbenen, sollen sie gedenken. Dann lenkt Jesus ihre Aufmerksamkeit auf das Blut des Neuen Bundes und deutet darauf hin, dass dieses Blut noch für andere als nur für die Juden bestimmt sei, ohne diese anderen jedoch zu nennen. „Es wird vergossen für viele.“ Auch dient dieses Blut nicht allein, wie auf dem Berg Sinai, zur Bestätigung des Bundes, dem sie treu zu sein verpflichtet waren, sondern es wurde vergossen zur Vergebung der Sünden. Das Mahl des Herrn stellt daher die Erinnerung an den gestorbenen Jesus dar, der durch seinen Tod mit der Vergangenheit gebrochen, die Grundlage des Neuen Bundes gelegt, die Vergebung der Sünden erwirkt und den Heiden die Tür geöffnet hat. Im Abendmahl erblicken wir Jesum nur in seinem Tod. Sein Blut ist von seinem Leib getrennt; Er ist gestorben. Es ist weder der auf Erden lebende noch der im Himmel verherrlichte Christus. Er ist von den Seinigen getrennt, was ihre Freuden auf der Erde betrifft; aber sie sollen Ihn erwarten als den Genossen des Glückes – denn es hat Ihm wohlgefallen, ein Solcher zu sein –, das Er ihnen für bessere Tage gesichert hat: „Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken, bis zu jenem Tag, da ich es neu 6 mit euch trinken werde in dem Reich meines Vaters“ (V. 29). – Da nun aber diese Bande auf Erden zerrissen waren, wer anders als Er konnte den Kampf bestehen? Alle würden Ihn verlassen; die Zeugnisse des Wortes sollten erfüllt werden. Es stand geschrieben: „Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden zerstreut werden“ (V. 31).

Nichtsdestoweniger wollte Er vor ihnen her nach Galiläa gehen, um als ein auferstandener Heiland seine Beziehungen zu diesen Armen der Herde da wieder anzuknüpfen, wo Er sich schon während seines Lebens mit ihnen einsgemacht hatte (V. 32). Diese Zusage ist sehr bemerkenswert, weil der Herr seine früheren Beziehungen zu ihnen und zu dem Reich in einer neuen Form wieder aufnimmt.

Man beachte hier, dass der Herr, so wie Er bis ans Ende des 25. Kapitels alle Klassen von Personen gerichtet hatte, jetzt den Charakter seiner Beziehungen zu allen denen zeigt, mit welchen Er solche unterhielt. Mag es sich um die Frau, um Judas oder um die Jünger handeln – ein jeder nimmt seinen Platz dem Herrn gegenüber ein. Das ist alles, was wir hier finden. Besaß Petrus so viel natürliche Energie, um ein wenig weiter zu gehen, so geschah es nur, um einen umso tieferen Fall da zu tun, wo allein der Herr aufrecht bleiben konnte.

Und jetzt (V. 36 u. f.) geht der Herr in die Einsamkeit, um seinem Vater die seiner wartenden Leiden im Gebet vorzutragen. Doch während Er sich zu diesem Zweck zurückzieht, nimmt Er drei seiner Jünger mit sich, damit sie in diesem feierlichen Augenblick mit Ihm wachen möchten. Es sind dieselben drei, die auf dem Berg der Verklärung bei Ihm gewesen waren: Petrus, Jakobus und Johannes. Wie sie seine Herrlichkeit im Reich gesehen hatten, so sollten sie jetzt auch seine Leiden sehen. Er geht ein wenig weiter, fällt auf sein Antlitz und betet. Sie aber schlafen ein, wie sie es auch auf dem Berg getan hatten.

Dieser Vorgang wird uns in Heb 5,7 geschildert. Noch trank Jesus den Kelch nicht, aber er stand vor seinen Augen. Am Kreuz trank Er ihn, als Er für uns zur Sünde gemacht war und seine Seele sich von Gott verlassen fühlte; hier hingegen sehen wir die Macht Satans, der den Tod als Schrecken gebraucht, um den Herrn dadurch zu überwältigen. Wir werden bei der Betrachtung des Lukasevangeliums näher auf diesen Gegenstand eingehen, in dem dieser Evangelist die Leiden des Heilandes mehr im Einzelnen schildert, weil er sich in besonderer Weise mit dem Sohn des Menschen beschäftigt. Wir sehen hier die Seele Jesu im Vorgefühl der Schrecken des Todes, wie nur Er dieselben kennen konnte; und der Tod hatte noch nicht seinen Stachel verloren. Wir wissen, wer die Gewalt des Todes hat, und noch besaß der Tod den vollen Charakter des Soldes der Sünde, des Fluches und des Gerichts Gottes. Aber Jesus wacht und betet. Indem Er als Mensch infolge seiner Liebe diesem Sturm preisgegeben war, wacht Er angesichts der mächtigsten Versuchung, der Er je ausgesetzt werden konnte; und anderseits stellt Er seinem Vater die Angst seines Herzens vor. Seine Gemeinschaft mit dem Vater war hier nicht unterbrochen, wie groß auch seine Angst sein mochte. Diese Angst trieb Ihn nur umso mehr in gänzlicher Unterwerfung und völligem Vertrauen zu seinem Vater hin. Sollten wir aber errettet, sollte Gott in Ihm, der unsere Sache auf sich genommen hatte, verherrlicht werden, so durfte der Kelch nicht an Ihm vorübergehen. Und seine Unterwerfung ist vollkommen.

In welch zarter Weise erinnert Er den Petrus an sein falsches Vertrauen 7, indem Er ihn seine Schwäche fühlen lässt (V. 40. 41); aber Petrus war zu sehr von sich eingenommen, um Nutzen daraus zu ziehen. Er erwacht von seinem Schlaf; aber sein Selbstvertrauen ist nicht erschüttert. Zu seiner Heilung bedurfte es einer traurigeren Erfahrung.

Jesus nimmt also den Kelch, aber Er nimmt ihn aus der Hand seines Vaters; denn es war sein Wille, dass Er ihn trinke. Indem Er so sich gänzlich seinem Vater übergibt, nimmt Er diesen Kelch weder aus der Hand seiner Feinde noch aus der Hand Satans (wiewohl diese die Werkzeuge waren). Er empfängt ihn allein aus der Hand seines Vaters, nach der Vollkommenheit, in welcher Er sich in dieser Hinsicht dem Willen Gottes, dem Er alles übergeben, unterworfen hatte. Es war der Wille des Vaters. Wenn wir daher nur den Willen Gottes suchen, der alle Dinge leitet, so entrinnen wir den Nebenursachen und den Versuchungen des Feindes. Nahen Trübsale und Prüfungen, so nehmen wir dieselben nur von Gott an.

Die Jünger brauchen jetzt nicht länger zu wachen, die Stunde ist gekommen. Jesus sollte in die Hände der Menschen überliefert werden; damit war alles gesagt. Judas macht Ihn kenntlich durch einen Kuss. Jesus aber geht der Menge entgegen und tadelt Petrus, weil er mit fleischlichen Waffen zu widerstehen sucht (V. 45–55). Hätte Christus entrinnen wollen, So hätte Er um zwölf Legionen Engel bitten können und würde sie bekommen haben: allein alles musste erfüllt werden 8. Es war die Stunde seiner Unterwerfung unter die Wirkung der Bosheit des Menschen und der Macht der Finsternis, und die Stunde des Gerichtes Gottes über die Sünde. Er ist das Lamm für die Schlachtbank. Jetzt verlassen Ihn alle Jünger, und Jesus übergibt sich der Menge, indem Er ihr vorstellt, was sie tut. Und obwohl, vor Kajaphas geführt, niemand beweisen kann, dass Er schuldig sei, will Er doch die Wahrheit nicht verleugnen. Er bekennt die Herrlichkeit seiner Person als Sohn Gottes und erklärt, dass sie den Sohn des Menschen von nun an nicht mehr in der Sanftmut Dessen sehen würden, der das zerstoßene Rohr nicht zerbricht, sondern vielmehr sitzend zur Rechten der Macht und kommend auf den Wolken des Himmels (V. 57–64).

Nach Ablegung dieses Zeugnisses wird Jesus verurteilt um deswillen, was Er zum Bekenntnis der Wahrheit von Sich selbst sagt. Die falschen Zeugen hatten keinen Erfolg. Die Hohenpriester und die Obersten des Volkes sind seines Todes schuldig zufolge ihrer persönlichen Verwerfung des Zeugnisses, das Er von der Wahrheit ablegte. Er war die Wahrheit; sie standen unter der Macht des Vaters der Lügen und verwarfen den Messias, den Heiland seines Volkes (V. 65+66). Deswegen sollten sie Ihn nicht mehr sehen, es sei denn als Richter. Sie verspotten und beschimpfen Ihn. Ach! ein jeder nimmt, wie wir gesehen haben, seinen Platz ein – Jesus den des Schlachtopfers, die anderen den des Verrats, der Verwerfung, des Verlassens und der Verleugnung des Herrn! Welch ein Bild! Welch ein feierlicher Augenblick! Wer konnte in ihm bestehen? Christus allein konnte festen Schrittes hindurchgehen, und Er ging hindurch als ein Schlachtopfer. Als solches musste Er von allem entblößt werden, und zwar in der Gegenwart Gottes. Alles andere verschwand, ausgenommen die Sünde, die Ihn in diese Lage gebracht hatte; und durch Gnade schwand auch diese vor der wirksamen Kraft seines Opfers.

Petrus, auf sich selbst vertrauend, wankt jetzt. Als ein Gefährte Jesu erkannt, lügt und schwört er und verleugnet seinen Herrn; und alsdann, von der Ohnmacht des Menschen gegenüber dem Feind seiner Seele und der Sünde schmerzlich überführt, geht er hinaus und weint bitterlich (V. 69–75). Seine Tränen konnten seine Schuld nicht tilgen, und während sie einerseits ein Beweis einer durch die Gnade bewirkten Herzensaufrichtigkeit waren, bezeugten sie anderseits jene Ohnmacht, die durch Aufrichtigkeit des Herzens nicht behoben werden kann 9.

Fußnoten

  • 1 Die Salbung des Herrn fand nicht im Haus der Martha statt, sondern in dem Haus Simons, des Aussätzigen; Martha diente, und Lazarus lag mit zu Tische. Das macht die einsichtsvolle Handlung der Maria noch mehr zu einer rein persönlichen.
  • 2 Wir finden keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Jünger jemals verstanden haben, was Jesus zu ihnen sagte.
  • 3 Christus kam dem Herzen der armen Frau in der Stadt, die eine Sünderin war, entgegen und teilte ihr Gottes Gedanken mit. Er kommt hier dem Herzen der Maria entgegen, rechtfertigt und befriedigt ihre Liebe und tut kund, welchen Wert ihre Handlung nach den Gedanken Gottes hatte. Er kam dem Herzen der Maria Magdalena am Grab entgegen, für welche die Welt ohne Ihn nur ein leerer Raum war, und sprach Gottes Gedanken in ihren höchsten Formen der Segnung aus. Das sind die Folgen des innigen Hangens an Christus.
  • 4 Die Feindschaft der Obersten Israels war den Jüngern bekannt. „Rabbi“, hatten sie zu Ihm gesagt, „eben suchten die Juden dich zu steinigen, und wiederum gehst du dahin?“ Und nachher sagt Thomas - ein schönes Zeugnis für die Liebe dessen, der später seinen Unglauben hinsichtlich der Auferstehung Jesu offenbarte: „Lasst auch uns gehen, damit wir mit ihm sterben.“ Das Herz der Maria fühlte ohne Zweifel diese Feindschaft, und in dem Maß, wie diese zunahm, wuchs auch ihre Anhänglichkeit an den Herrn.
  • 5 Das Herz des Judas war die Quelle dieses Bösen; aber die übrigen Jünger fielen in die Schlinge, weil ihre Herzen nicht mit Christo beschäftigt waren.
  • 6 „Neu“ bedeutet hier nicht „aufs neue“ (neon), sondern „in einer neuen Weise“ (kainon).
  • 7 Es ist wunderbar, den Herrn in dem ganzen Seelenkampf des Vorgefühls des Kelches zu sehen, indem Er diesen Kelch hier noch nicht trinkt, sondern ihn nur seinem Vater vorstellt, zu sehen, wie Er sich trotzdem zu seinen Jüngern wendet und in Ruhe und Gnade, als wenn Er noch in Galiläa wäre, zu ihnen spricht, und wie Er dann wiederum zu dem schrecklichen Geisteskampf zurückkehrt, der vor seiner Seele stand. In Matthäus ist Er das Schlachtopfer, und so begegnet seine Seele jeglicher Erschwerung des Leidens ohne einen einzigen erleichternden Umstand.
  • 8 Man beachte hier, welchen Platz der Herr in diesem feierlichen und schmerzlichen Augenblick den Schriften gibt: es musste so geschehen, denn so stand es geschrieben (V. 54). Sie sind das Wort Gottes.
  • 9 Beim Vergleichen der Evangelien wird man finden, dass der Herr während der Nacht bei Kajaphas verhört wurde, als Petrus Ihn verleugnete. Erst am Morgen versammelten sie sieh wieder und erhielten von dem Herrn auf die an Ihn gerichtete Frage das Bekenntnis, auf welches hin sie Ihn zu Pilatus führten. Während der Nacht waren nur die Leiter tätig; aber am Morgen fand eine förmliche Versammlung des Synedriums statt.
Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel