Geh nach Ninive
Eine Auslegung des Buches Jona

Einleitung

Geh nach Ninive

Die Geschichte des Propheten Jona ist nicht nur bekannt, sondern sie gehört zu den Begebenheiten der Bibel, die häufig kritisiert und belächelt werden. Viele Kinder kennen die Geschichte von Jona und dem großen Fisch, doch Erwachsene zweifeln häufig an ihrem Wahrheitsgehalt. Schon sehr früh begann der Spott über dieses kleine Bibelbuch. Entweder behauptete man, die ganze Geschichte sei das Phantasieprodukt eines antiken Schriftstellers und Jona habe nie existiert, oder man unterstellte ihm, er habe seine Geschichte nur geträumt. Man hat sie eine volkstümliche Legende, eine Fiktion oder eine Allegorie auf mythischer Grundlage genannt. Dabei werden vor allem drei Dinge bezweifelt:

  1. die historische Existenz Jonas,
  2. die Tatsache, dass ein Fisch ihn lebendig verschluckte und drei Tage später wieder frei gab
  3. die Tatsache, dass eine Großstadt wie Ninive aufgrund der Predigt Jonas Buße tat.

Bibeltreue Christen halten allen Angriffen zum Trotz daran fest, dass sich die Geschichte so ereignet hat, wie sie in der Bibel geschrieben ist. Sie ist keine Fabel und kein Märchen, sondern ein Teil des „Wortes der Wahrheit“ unseres Gottes. Jona ist keine sagenhafte Gestalt und sein Buch kein Produkt dichterischer Phantasie. A. C. Gaebelein zitiert einen Gelehrten, der bemerkt hat, „dass es weniger Glauben erfordert, die Wahrheit dieser schlichten Episode aus Jonas Lebensgeschichte zu akzeptieren, als den zahlreichen Hypothesen Glauben zu schenken, die ersonnen worden sind, um sie ihrer übernatürlichen Merkmale zu berauben“.1

Das Buch Jona ist mehr als eine interessante Geschichte. Es ist Gottes inspiriertes Wort. „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich...“ (2. Tim 3,16). Der Herr Jesus selbst bezieht sich auf den Propheten Jona und bestätigt sowohl das Wunder seiner Bewahrung im Bauch des Fisches als auch die Tatsache, dass die Bewohner von Ninive Buße getan haben (Mt 12,40.41). Somit haben wir ein doppeltes Zeugnis für den Wahrheitsgehalt der Begebenheit: zum einen das Buch Jona selbst und zum anderen die Bestätigung durch den Herrn Jesus. Wer daran zweifelt, dass sich die Dinge tatsächlich so ereignet haben, macht sowohl Gott als auch den Herrn Jesus zum Lügner.

Das Buch Jona hat eine Botschaft für jeden, der es liest. Es hat eine prophetische Bedeutung und ist gleichzeitig sehr praktisch. Es ist eine alte Geschichte, trotzdem verdient sie es nicht, in irgendeiner Schublade des Vergessens zu verschwinden. Dazu ist sie viel zu lebendig und zeitnah. Ihre Botschaft hat bis heute nichts an Frische und Aktualität verloren.

Das große Hauptanliegen des Buches ist, dass wir die Gnade und Barmherzigkeit Gottes kennenlernen. Jona lernte Gott so kennen. Die Schiffsleute erlebten Ihn in einem gewissen Sinn auch: indem sie gerettet wurden. Und schließlich wandten sich die Gnade und Barmherzigkeit Gottes den Leuten von Ninive zu. Ihre Buße und ihre Annahme bei Gott zeigen, dass die Gnade Gottes schon im Alten Testament über die Grenzen Israels hinausging. Jona ist der einzige Prophet im Alten Testament, der den Auftrag bekam, in ein fremdes Land zu gehen und Heiden eine Botschaft von Gott zu sagen. Verschiedene Propheten haben wohl über die Nationen geweissagt, Jona ist jedoch der einzige, der einen konkreten Auftrag bekam, zu den Heiden zu gehen und im Auftrag Gottes zu ihnen zu reden.

Man könnte deshalb als Überschrift über das Buch folgendes Zitat aus dem Römerbrief setzen: „Oder ist Gott der Gott der Juden allein? Nicht auch der Nationen? Ja, auch der Nationen“ (Röm 3,29).

Jona, der Botschafter Gottes

Der historische Jona

Jona lebte zu einer sehr kritischen Zeit in der Geschichte Israels. Nachdem der König Salomo gestorben war, wurde wegen seiner Untreue das Königreich Israels in ein Nordreich (die zehn Stämme, auch Israel genannt) und ein Südreich (die zwei Stämme Juda und Benjamin) geteilt. Danach begannen Jahrhunderte, die von geistlichem und moralischem Verfall gekennzeichnet waren. Beide Reiche wichen immer mehr von Gottes Willen ab. Während es im Südreich verschiedene Erweckungen gab, setzte sich der Abwärtstrend im Norden scheinbar ungebremst fort. Gott sandte wiederholt Propheten, um sein Volk zur Buße und zur Umkehr zu bewegen – jedoch vergeblich. Unter den Propheten, die im Nordreich wirkten, waren Männer wie Elia und Elisa, Amos und Hosea und auch Jona. Andere Propheten, unter ihnen Jesaja, Micha, Nahum, Habakuk, Zephanja und Jeremia, wurden nach Juda geschickt.

In 2. Könige 14,25 wird Jona zum ersten Mal erwähnt. Dort lesen wir: „Er [Jerobeam] stellte die Grenze Israels wieder her ... nach dem Wort des HERRN, des Gottes Israels, das er geredet hatte durch seinen Knecht Jona, den Sohn Amittais, den Propheten, der von Gat-Hepher war.“ Das macht erstens klar, dass Jona ein „Knecht Gottes“ war, zweitens, dass er ein „Prophet Gottes“ war, und drittens, dass sein Vater Amittai hieß. Das Buch Jona bestätigt, dass er in Gat- Hepher2 wohnte.

Gat-Hepher liegt in der Nähe von Nazareth. Jona lebte viele Jahrhunderte vorher dort, wo unser Herr einmal aufwachsen sollte. Wir werden noch sehen, dass es Parallelen, aber vor allem deutliche Unterschiede zwischen Jona und Jesus gibt. Ob Jona in Gat-Hepher geboren wurde, wissen wir nicht, jedenfalls lebte er dort. Wann genau das war, wissen wir ebenfalls nicht, aber seine Weissagung wurde durch Jerobeam II., den Sohn von Joas, erfüllt. Jona muss also kurz vor oder während seiner Regierung gelebt haben. Jerobeam II. regierte von 793–753 v. Chr. über die zehn Stämme Israels. Das war etwa 150 Jahre, nachdem Salomo gelebt hatte. Jerobeam II. war ein König, der nicht mit Gott rechnete. Dennoch schenkte Gott seinem Volk Israel in dieser Zeit Barmherzigkeit und eine Zeit relativen Wohlstands. Er war offensichtlich ein energischer und tüchtiger Regent. Jona hatte im Auftrag Gottes eine gewisse Belebung vorausgesagt, die dann tatsächlich eintraf.

Der Prophet Elisa starb während der Regierungszeit des Vaters von Jerobeam II. (2. Kön 13,14). Es ist also denkbar, dass Jona und Elisa sich gekannt haben. Auch der Prophet Hosea muss ein Zeitgenosse Jonas gewesen sein.

Im Neuen Testament wird Jona als historische Persönlichkeit ausdrücklich bestätigt. Der Herr Jesus spricht selbst von ihm und erwähnt die beiden großen Wunder des Buches Jona. Er spricht von dem Fisch, in dem Jona war, und von der Bekehrung der Leute in Ninive: „Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht begehrt ein Zeichen, und kein Zeichen wird ihm gegeben werden als nur das Zeichen Jonas, des Propheten. Denn so wie Jona drei Tage und drei Nächte in dem Bauch des großen Fisches war, so wird der Sohn des Menschen drei Tage und drei Nächte in dem Herzen der Erde sein. Männer von Ninive werden aufstehen im Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen, denn sie taten Buße auf die Predigt Jonas hin; und siehe, mehr als Jona ist hier“ (Mt 12,39–41; vgl. Lk 11,29–32).

Jona, der Knecht Gottes

Es überrascht uns vielleicht, dass Jona als „Knecht Gottes“ bezeichnet wird. Er selbst nennt sich in seinem Buch nicht so. Dennoch ist es Gott offensichtlich wichtig, dass Jona an anderer Stelle diesen Titel erhält (2. Kön 14,25). Ein Knecht ist jemand, der nicht seinen eigenen Willen tut, sondern den Willen dessen, der die Befehlsgewalt über ihn hat. Jona war – ähnlich wie Markus im Neuen Testament – ein untreuer Knecht geworden. Er folgte seinem eigenen Willen und ging eigene Wege. Deshalb musste Gott sehr ernst mit ihm handeln, bevor er das tat, was Gott ihm gesagt hatte.

Der Kontrast zu dem vollkommenen Knecht Gottes – unserem Herrn Jesus – ist augenscheinlich. Er tat immer – zu jeder Zeit und in allen Umständen – den Willen dessen, der Ihn gesandt hatte.

Für uns wollen wir lernen, treue Knechte Gottes zu sein, die nicht ihrem eigenen Willen folgen, sondern dem Willen unseres Gottes.

Jona, der Prophet

Jona wird in dem Buch selbst nicht Prophet genannt,3 wohl aber in 2. Könige 14,25. Der Herr Jesus bestätigt, dass er ein Prophet war (Mt 12,39). Nun nimmt man landläufig an, dass ein Prophet jemand ist, der zukünftige Dinge voraussagt. Ohne Frage ist das in vielen Fällen so, allerdings ist es nicht das entscheidende Merkmal eines Propheten. Ein Prophet ist vielmehr jemand, der für einen anderen spricht. In 1. Mose 20,7 kommt das Wort zum ersten Mal in der Bibel vor. Dort wird Abraham ein Prophet genannt, der für Abimelech zu Gott reden sollte. Dann wird Aaron als Prophet bezeichnet, der für seinen Bruder Mose zu Pharao reden sollte (2. Mo 7,1). In der Regel benutzte Gott die Propheten, um zu seinem Volk zu reden. Ein Prophet rüttelt auf. Er weist im Auftrag Gottes auf Fehlverhalten hin. Er ermahnt und kündigt Gericht an. Zugleich ermuntert und motiviert er auch – je nachdem, wie es erforderlich ist. Häufig sind die Aussagen von Propheten in die Zukunft hin orientiert, aber eben nicht immer.4

Bevor Jona berufen wurde, nach Ninive zu gehen, war er bereits als Prophet in Israel bekannt. Seine positive Weissagung war in den Tagen Jerobeams II. eingetroffen, was ihm bestimmt keine Nachteile eingebracht hatte. Er war kein „Anfänger“ und kein „Neuling“, sondern ein erfahrener Prophet, der wahrscheinlich in hohem Ansehen stand.

Wenn Gott einem Propheten einen Auftrag gibt, ist das nicht immer eine positive Botschaft. Der erste Auftrag an Jona war angenehm. Er wird sich gefreut haben, diese Nachricht übermitteln zu können. Doch nun wollte Gott ihn gebrauchen, um eine Gerichtsbotschaft zu predigen – und das nicht in seinem eigenen Land, sondern im Land eines potenziellen Staatsfeindes Israels. Die Situation war also völlig anders. Jona schreckte vor diesem Auftrag zurück. Das Ende des Buches macht klar, dass Jona wusste, dass Gott den Nationen gegenüber gnädig war, und genau das passte ihm nicht. Für uns wollen wir daraus lernen, jeden Auftrag Gottes – ob angenehm oder unangenehm – treu zu tun.

Jona, der Sohn Amittais aus Gat-Hepher

Der Name Jona bedeutet „Taube“. In dieser Welt gilt die Taube häufig ein Symbol des Friedens. In der Bibel steht die Taube zuerst als Bild für die Reinheit und Unschuld. Einige Stellen zeigen jedoch, dass sie ebenfalls mit Ruhe und Frieden verbunden sein kann (z. B. Ps 55,7; Jes 38,14; Jer 48,28). In 1. Mose 8,8 wird die Taube zum ersten Mal erwähnt. Gott hatte das Gericht über die Erde bringen müssen, weil sich die Menschen verderbt hatten. Doch im Gericht gab es Gnade. Noah sandte eine Taube aus der Arche, um zu sehen, ob die Wasser der Flut genügend gesunken waren. Als die Taube nicht zurückkehrte, wusste Noah, dass das Gericht ein Ende hatte und die Erde wieder bewohnbar war.

Jona sollte ein Botschafter Gottes sein, doch er verfehlte seine Berufung. Bei ihm stimmten die Voraussetzungen nicht: Ihn kennzeichneten weder reine Beweggründe noch innere Ruhe und Frieden.

Jona lebte in Gat-Hepher, und das lag im Erbteil des Stammes Sebulon im Norden Israels. Es ist bemerkenswert, was wir in dem Segen Moses dazu lesen: „Und von Sebulon sprach er: Freue dich, Sebulon, deines Auszugs“ (5. Mo 33,18). Scheinbar war es die Aufgabe Sebulons, auszugehen. Der Prophet, den Gott einmal erwecken würde (5. Mo 18,15), unser Herr, wuchs gerade im Land Sebulon – in Nazareth – auf. Anders als Jona war Er völlig gehorsam und ging dahin, wo Gott Ihn haben wollte. Er ging aus in die Welt, um den Samen des Wortes auszustreuen.

Jona wurde seinem Auftrag zunächst nicht gerecht. Er ging zwar aus, allerdings in eine völlig andere Richtung. Er war nicht durch Gehorsam gekennzeichnet, sondern durch Ungehorsam und Eigenwille. Wir finden bei ihm nicht Freude, sondern Ärger und Missmut.

Für uns wollen wir lernen, dass wir dann, wenn Gott uns einen Auftrag gibt, gehorsam sind und den Auftrag mit Freude ausführen – egal wohin dieser uns führt.

Ninive im Land Assur

Jona hatte eine Botschaft für die Menschen in Ninive, eine Stadt, die Gott ganz bewusst ausgewählt hatte. Ninive war der Nabel der damaligen Welt – sowohl politisch als auch wirtschaftlich und kulturell. Es war die Metropole damaliger Tage, die größte und mächtigste Stadt überhaupt. Es ist zum Verständnis der Tragweite des Auftrags Gottes wichtig, das Umfeld zur Kenntnis zu nehmen, denn Assyrien war zur Zeit Jonas eine Weltmacht und damit eine Bedrohung für alle Nachbarländer – auch für Israel.

Ninive war eine sehr alte Stadt. Ihr Ursprung wird bereits in 1. Mose 10 berichtet. Es war Nimrod, der zuerst Babel und dann Ninive im Land Assur baute (1. Mo 10,11). Die Stadt lag – strategisch sehr günstig – am Fluss Tigris und muss gewaltige Ausmaße gehabt haben. Ihre Stadtmauer soll eine Höhe von 30 Metern Höhe gehabt haben und wurde von rund 1.500 Türmen geschützt. Reichtum und Wirtschaft florierten in dieser Metropole. Der Prophet Nahum, der deutlich später als Jona lebte, schreibt dazu: „Denn unendlich ist der Vorrat, der Reichtum an allerlei kostbaren Geräten“ (Nah 2,10). „Du hast deine Kaufleute zahlreicher gemacht als die Sterne des Himmels“ (Nah 3,16). Wie so oft gab es in Ninive gleichzeitig große Sittenlosigkeit und Unmoral, Götzendienst und Okkultismus: „... wegen der vielen Hurereien der anmutigen Hure, der Zauberkundigen, die Nationen mit ihren Hurereien und Familien mit ihrer Magie verkaufte“ (Nah 3,4).

Anhand archäologischer Funde hat man nachgewiesen, dass das Assyrische Reich zur Zeit Jonas aufgrund von Pestepidemien, Missernten, Überschwemmungen und auch militärischen Misserfolgen deutlich geschwächt war. Erst unter Tiglat-Pileser III. (746–727 v. Chr.) erlebte das Assyrische Reich einen neuen Aufschwung, der letztlich dann auch zur Eroberung des Nordreiches Israels führte (722 v. Chr.). Genau in diese Schwächeperiode hinein kam der Ruf Gottes an Jona, nach Ninive zu gehen.

Das Buch Jona

Ein besonderes Buch

Das Buch Jona zählt zu den so genannten „kleinen Propheten“5. Beim Lesen fallen uns mindestens zwei Besonderheiten sofort ins Auge:

  1. Obwohl das Buch zu den „Propheten“ zählt, enthält es – abgesehen von der kurzen Gerichtsbotschaft an die Bewohner von Ninive (Kap 3,4) – keine einzige Weissagung, die noch in Erfüllung gehen müsste. Streng genommen könnte man sogar sagen, dass die einzige Prophezeiung Jonas nicht einmal in Erfüllung gegangen ist. Dennoch bezeichnet der Herr Jesus Jona ausdrücklich als einen „Propheten“ (Mt 12,39; vgl. 2. Kön 14,25). Das Buch Jona ist tatsächlich eine Prophezeiung (Weissagung) – allerdings weniger durch Worte als vielmehr durch Jonas eigene Geschichte und seine Erfahrungen6. Seine Geschichte ist Prophetie. Die Botschaft des Propheten Jona beschränkt sich keineswegs auf die Drohung, dass Ninive in vierzig Tagen untergehen sollte. Es ist seine Geschichte, aus der wir lernen.
  2. Das Buch Jona ist das einzige Buch des Alten Testaments, das eine ausschließliche Botschaft für die Nationen hat. Das macht das Buch besonders. Im Alten Testament kümmert Gott sich im Allgemeinen um sein Volk Israel und redet zu ihm, hier jedoch hat Er eine Botschaft an die Nationen – und übt Gnade. Im Neuen Testament ist es gerade umgekehrt. Dort spricht Gott im Allgemeinen nicht zu dem Volk Israel, sondern zu den Gläubigen der Haushaltung der Gnade. Doch wie im Alten Testament gibt es auch im Neuen Testament eine Ausnahme. Der Brief des Jakobus richtet sich ausdrücklich „an die zwölf Stämme, die in der Zerstreuung sind“7 (Jak 1,1). Das Buch Jona lehrt uns, dass Gott in der Zeit Israels die Nationen nicht vergisst. Der Brief von Jakobus lehrt uns, dass Gott in der Haushaltung der Nationen sein altes Volk Israel nicht vergisst.

Es ist im Übrigen ein Beweis für das Handeln Gottes in Allmacht, dass Er dafür Sorge trug, dass dieses Buch in den Kanon des Alten Testaments aufgenommen wurde. Der Inhalt konnte den Juden nie wirklich gefallen, denn sie sahen immer mit einer gewissen Arroganz auf die umliegenden Völker, die für sie die „Unbeschnittenen“ waren. Diese Enge im Denken ist Gott völlig fremd. W. Kelly schreibt: „Gott ist nie eng. Wir Menschen sind es. Unsere Weisheit liegt darin, dass wir aus unserer eigenen Kleinheit herauskommen und in die weiten Gedanken Gottes gebracht werden.“8

Der Autor des Buches

Der Autor des Buches ist Jona selbst. Er zählt damit zu den frühen schreibenden Propheten9 (wahrscheinlich nach Joel und etwa zeitgleich mit Hosea und Amos). Auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, dass Jona der Verfasser ist, kann es daran keinen Zweifel geben. Obwohl es überwiegend in der dritten Person geschrieben ist, gibt es Passagen, die nur von dem geschrieben werden konnten, der es selbst erlebt hatte (dazu zählen z. B. die Erfahrungen im Bauch des Fisches in Kapitel 2). Das Buch ist in Erzählform geschrieben und hat wesentliche Merkmale eines literarischen Erfahrungsberichts.

Dabei schreibt Jona sehr selbstkritisch. Er versucht nicht, seine Fehler zu vertuschen. Im Gegenteil: Ähnlich wie David in einigen seiner Psalmen schreibt er in seinem Buch offen über seine Fehler. Im Gegensatz dazu kommen alle anderen erwähnten Personen und Begleiterscheinungen relativ gut weg:

  • Die Seeleute scheuen sich, Jona ins Meer zu werfen.10
  • Der König von Ninive und seine Leute nehmen die Botschaft Jonas an und tun Buße.
  • Der Fisch spuckt Jona aus, und selbst die Naturgewalten gehorchen ihrem Schöpfer.

Das zeigt, dass der Verfasser Jona am Ende offensichtlich mit Gott ins Reine gekommen war, sonst hätte er so nicht geschrieben. Es beeindruckt uns, wie der Mann, der Gott mehrfach widersprochen hat, am Ende Gott das letzte Wort lässt. Es beeindruckt uns auch, dass Gott im Neuen Testament nicht von den Fehlern Jonas spricht, wohl aber dreimal von dem „Zeichen Jonas“ (Mt 12,39; 16,4; Lk 11,29).

Die Bedeutung des Buches Jona

Das Buch Jona ist ein prophetisches Buch und enthält doch zugleich eine Vielzahl von praktischen Belehrungen für uns. Im Lauf der Betrachtung wollen wir in erster Linie auf die praktische (moralische) Belehrung für uns achten. Dennoch wollen wir die prophetische (typologische) Bedeutung nicht übersehen.

Prophetische (typologische) Bedeutung

J. N. Darby schreibt: „Wir finden in der Geschichte Jonas eine Darstellung der Geschichte der Juden, ... in gewisser Hinsicht sogar derjenigen des Messias, nur dass Christus sich in Gnade in die Stellung eines Zeugens auf dieser Erde begab und sich in dieser Stellung stets als vollkommen erwies.“11

Dieses Zitat macht deutlich, dass wir in der prophetischen Sichtweise der Ereignisse im Buch Jona zwei Seiten unterscheiden:

  1. Im Blick auf die Geschichte Israels: Seltsamerweise wird das Buch Jona am großen Versöhnungstag von den Juden gelesen, obwohl sie in Jona eigentlich ein Stück ihrer eigenen Geschichte sehen müssten. Israel war das auserwählte Volk Gottes. Sie sollten von den Völkern abgesondert leben. Doch dabei sollten sie ein Zeugnis für Gott sein. Sie hätten eine „Taube“ für die Nationen sein sollen, also ein für Gott gereinigtes Volk und gleichzeitig hätten sie mit Ihm in Harmonie und Frieden leben sollen. Dann wären sie ein Zeugnis für die umliegenden Völker gewesen.12 Sie sollten von ihrem Gott sprechen. Doch sie haben es nicht getan und sind wie Jona „weggelaufen“. Jona wollte nicht akzeptieren, dass eine heidnische Stadt so begünstigt wurde und unter Gottes Gnade kam. Als Folge davon wurde er ins Meer geworfen und fand sich im Bauch des Fisches wieder. Darin erkennen wir ein Bild von Israel, das über viele Jahrhunderte hinweg unter die Nationen zerstreut war. Sowohl in geistlicher als auch in nationaler Hinsicht glichen sie einem Toten. Doch so wie Jona im Bauch des Fisches ein „Fremdkörper“ war, ist das Volk Israel in den fast 2000 Jahren seiner „Zerstreuung“ immer ein „Fremdkörper“ unter den Völkern gewesen. Der Tag wird kommen, wo Israel nicht nur national, sondern auch geistlich wiederhergestellt sein wird und dann dem Auftrag Gottes, Zeugen für die Nationen zu sein, entsprechen wird (vgl. Jes 43,8–11). Sie gleichen Toten, die aus ihrem Grab auferstehen werden (vgl. Jes 26,19; Hos 6,1.2).
    In der Zeit der Abwesenheit Israels wendet Gott sich den Nationen zu (im Bild der Schiffsleute) und erbarmt sich über sie. Das ist das Thema von Paulus in Römer 11. Gott lässt aus dem Schlechten der Menschen etwas Gutes hervorkommen. Eigentlich hätte das Schiff wegen Jonas Untreue sinken müssen. Aber Gott hat Erbarmen. Er führt es anders. Paulus schreibt den Römern, dass der „Verlust“ Israels der „Reichtum“ der Nationen ist (Röm 11,12). Die Heiden kommen und fragen nach der Rettung Gottes, während Israel verstockt ist. Am Ende fürchten die Seeleute Gott und bringen Ihm ein Schlachtopfer.
  2. Im Blick auf den Herrn Jesus: Obwohl es uns auf den ersten Blick ganz anders erscheinen mag, lernen wir im Buch Jona etwas über die Herrlichkeit unseres Herrn. Die angeführten Zitate aus dem Neuen Testament zeigen das ganz klar. Der Herr Jesus bezieht die drei Tage Jonas im Bauch des Fisches auf seinen Tod und seine Auferstehung. Das ist das „Zeichen Jonas“. So wie Jona für einige Tage völlig von der Bildfläche verschwand, so war unser Herr vor seiner Auferstehung in den „unteren Teilen der Erde“ (Eph 4,9). Er sagt: „Denn so wie Jona drei Tage und drei Nächte in dem Bauch des großen Fisches war, so wird der Sohn des Menschen drei Tage und drei Nächte in dem Herzen der Erde sein“ (Mt 12,40). Sein Tod und seine Auferstehung sind die Grundlage für die Rettung der Nationen und der Juden. Aus diesem Grund ist es legitim, das Gebet Jonas in Kapitel 2 auf unseren Herrn anzuwenden.13
    Allerdings weist unser Herr darauf hin, dass Er mehr als Jona ist. Er sagt ganz deutlich: „Und siehe, mehr als Jona ist hier“ (Mt 12,41; Lk 11,32). Es gibt Parallelen zwischen den beiden, die Kontraste sind allerdings ebenso deutlich sichtbar: 14
  • Jona war zunächst ein unbrauchbarer Zeuge. Er war ungehorsam und musste erst von Gottzubereitet werden. Der Herr Jesus war immer gehorsam. Er tat den Willen Gottes von Herzen und ist „der treue Zeuge“ (Off 1,5).
  • Jona hatte eine Botschaft des Gerichts. Unser Herr hatte, als Er auf diese Erde kam, eine Botschaft zum Heil (Joh 3,17).
  • Jona predigt einer einzigen Stadt. Der Herr Jesus kam zu allen, die das Heil Gottes nötig haben (Tit 2,11).
  • Jona war unwillig, wenn er an den Segen für die Heiden dachte. Er gönnte ihnen die Gnade nicht. Der Herr Jesus hingegen kam freiwillig. Er hatte ein Verlangen danach, dass alle Menschen unter den Segen Gottes kommen sollten. Er war der „Heiland der Welt“ (Joh 4,42; 1. Joh 4,14).
  • Jona schlief im Schiff den Schlaf eines verhärteten Menschen und schwieg, bis das Los ihn traf. Der Herr Jesus schlief auch im Sturm ein, als Er jedoch geweckt wurde, war Er sofort für seine Jünger da (Mk 4,38–40). Er hatte Mitleid mit ihrer Not.
  • Jona „opferte“ sich für andere. Sein vermeintlicher Tod bedeutete die Rettung für die Seeleute. Sein „Opfer“ war allerdings eine Folge seiner eigenen Sünde. Er hatte den Tod verdient. Bei unserem Herrn war das anders. Er hat sich als der Unschuldige für solche geopfert, die schuldig waren. Jona war schuldig und starb für Unschuldige. Jesus war unschuldig und starb für Schuldige (1. Pet 3,18).
  • Jona starb nicht wirklich, während der Herr Jesus tatsächlich in den Tod gehen musste. Er hat den Tod „geschmeckt“ (Heb 2,9).

Petrus schreibt, dass der Heilige Geist durch die Propheten des Alten Testaments „von den Leiden, die auf Christus kommen sollten, und von den Herrlichkeiten danach zuvor zeugte“ (1. Pet 1,11). Das Buch des Propheten Jona macht da keine Ausnahme.

Praktische (moralische) Bedeutung

Jona war ein Prophet wider eigenen Willen. Seine Geschichte enthält eine Vielfalt von praktischen Lektionen, die wir im Lauf unserer Betrachtung zu Herzen nehmen wollen. Wir lernen etwas von der Eigenart des menschlichen Herzens kennen, das sich – auch bei Gläubigen – oft nur schwer dem Willen Gottes unterwirft. Das eigene Wohlergehen scheint uns oft wichtiger zu sein als das Heil der Menschen. Wir erhalten praktische Hinweise für unseren Dienst. Außerdem bekommen wir einen Einblick in innere Kämpfe von Menschen. Aus allem können wir viel lernen.

Zwei Lektionen sind augenscheinlich:

  1. Als Christ kann man Gott nicht einfach weglaufen – Er holt uns wieder ein!
  2. Gott gibt seinen Leuten einen Auftrag – auch wenn sie versagen!

Hinzu kommt eine wichtige Lektion, die unabhängig von der Geschichte Jonas immer wahr ist: Gott ist ein Heiland-Gott, der will, dass alle Menschen errettet werden (1. Tim 2,4). Die Botschaft von Ihm und dem einen Mittler, Jesus Christus, soll alle Menschen erreichen. Bevor der Herr Jesus nach vollbrachtem Werk in den Himmel zurückkehrte, gab Er seinen Jüngern einen wichtigen Auftrag. Sie sollten in die Welt gehen und den Menschen das Evangelium verkündigen. Dieser Auftrag wird – in unterschiedlicher Ausprägung – im Neuen Testament fünfmal erwähnt. Alle vier Evangelien sprechen davon (Mt 28,19–20; Mk 16,15; Lk 24,47–49; Joh 20,21) und in Apostelgeschichte 1 wird der Auftrag noch einmal genannt. Wir nennen ihn manchmal mit Recht den Missionsbefehl des Herrn Jesus. Nicht jeder hat den Auftrag, in ferne Länder zu gehen, aber jeder hat den Auftrag, von Jesus als dem Retter zu sprechen. Diesen Auftrag ernst zu nehmen, ist eine der Kernbotschaften des Propheten Jona für unsere Zeit. Die Welt, in der wir leben, gleicht nämlich in mancher Hinsicht dem damaligen Ninive. Wir lernen, wo es Hindernisse in unseren Herzen geben könnte und wie es möglich ist, dass Gott uns dennoch gebrauchen kann. In diesem Sinn rüttelt die Botschaft des Propheten Jona uns auf und weist uns den Weg, um treue Zeugen für unseren Herrn zu sein.

Gliederung

Wir folgen der Kapiteleinteilung und gliedern den Text wie folgt:

  • Kapitel 1: Jonas Berufung, sein Ungehorsam und die Folgen
  • Kapitel 2: Jonas Gebet und die Rettung Gottes
  • Kapitel 3: Jonas Predigt in Ninive und ihre Folgen
  • Kapitel 4: Jonas Zorn und Gottes Antwort

Gott im Buch Jona

Wie überall in der Bibel lernen wir etwas über unseren Gott. Er wird uns in diesem Buch unter zwei Titeln oder Namen vorgestellt, nämlich als „Gott“ (Elohim) und als „HERR“ (Jahwe). Als „Gott“ steht Er besonders in seiner Schöpferallmacht und Souveränität vor uns, in der Er sich erstens um alle seine Geschöpfe kümmert und in der Er zweitens alles führt und leitet. Der Name „HERR“ hat mehr mit seiner Beziehung zu Menschen und besonders zu seinem Volk auf dieser Erde, Israel, zu tun. Wenn es um den Charakter Gottes geht, möchte ich auf vier Punkte hinweisen:

  1. Gott ist heilig und gerecht. Er nimmt alles wahr, was auf dieser Erde geschieht. Das galt für die Sünde seines Knechtes Jona ebenso wie für die Bosheit Ninives. Gott wird das Böse richten, wenn die Menschen nicht Buße tun.
  2. Gott ist allmächtig und hat alles in der Hand. Es ist nicht nur das „große Wunder“, dass Er den Fisch zur richtigen Zeit an den richtigen Ort dirigiert und Jona überlebt, sondern es gibt eine Reihe von Wundern, die zeigen, dass es im Leben des Menschen keine Zufälle gibt und dass Gott alles im Griff hat. Er ist herrlich und groß:
     - Gott ruft einen Sturm (Kap 1,4).
     - Gott lässt das Los auf Jona fallen (Kap 1,7).
     - Gott bestellt einen großen Fisch (Kap 2,1).
     - Gott lässt Jona ausspeien an Land (Kap 2,11).
     - Gott bestellt den Wunderbaum (Kap 4,6).
     - Gott bestellt den Wurm (Kap 4,7).
     - Gott bestellt den schwülen Ostwind (Kap 4,8).
  3. Gott ist langmütig und gnädig. Er will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er lebe. Und Er gibt sich Mühe um den, der in Not ist. Er kümmert sich liebevoll um Jona, Er wendet den Schiffsleuten Gnade zu, dass sie nicht umkommen, und Er erweist sich Ninive gegenüber als barmherzig und gnädig. Mit einem Hinweis darauf endet das ganze Buch.
  4. Gott hat ein besonderes Augenmerk auf diejenigen, die Ihm angehören, und Er erzieht sie. Gottes Erziehungswege sind nicht immer angenehm. Das musste Jona hautnah erfahren. Doch Gott schafft es, wie einmal jemand gesagt hat, „auf den krummen Linien unseres Lebens gerade zu schreiben“. Er lässt aus dem Ungehorsam Jonas ein „Zeichen“ für die Nationen werden, und Er bringt seinen irrenden Diener wieder auf die Spur. Er ist derjenige, der letztlich immer zu seinem Ziel kommt.

Fußnoten

  • 1 A. C. Gaebelein: Der Prophet Jona
  • 2 Gat-Hepher lag in Galiläa. Das war genau die Gegend, in der unser Herr Jesus aufgewachsen ist. Damit ist klar, dass die Hohenpriester und Pharisäer irrten, als sie zu Nikodemus sagten: „Forsche und sieh, dass aus Galiläa kein Prophet aufsteht“ (Joh 7,52). Entweder waren sie in Unkenntnis darüber, oder sie ignorierten diesen Propheten aufgrund seiner Botschaft an die Nationen ganz bewusst. Beides ist jedenfalls nicht zu entschuldigen.
  • 3 Das mag daran liegen, dass Jona das Buch selbst geschrieben hat und diesen Titel deshalb vermeidet. Er war ein „Prophet gegen seinen eigenen Willen“, d. h., er war kein gutes Sprachrohr Gottes und nennt sich deshalb nicht so.
  • 4 Der neutestamentliche Dienst von Propheten – der „Dienst der Weissagung“ – ist ebenfalls ein Dienst von Gott an die Menschen. „Wer aber weissagt, redet den Menschen zur Erbauung und Ermahnung und Tröstung“ (1. Kor 14,3). Gott benutzt Brüder (oder im privaten Bereich auch Schwestern), um uns seine Gedanken in einer bestimmten Situation mitzuteilen. Da wir das Wort Gottes vollständig besitzen, werden heute keine neuen Wahrheiten mehr offenbart, sondern die Wahrheit wird auf die persönliche oder auch gemeinsame Lebenspraxis angewandt.
  • 5 Dass sie „kleine Propheten“ genannt werden, hat nichts damit zu tun, dass ihre Botschaft weniger wichtig wäre als die der so genannten „großen Propheten“. Es geht einfach darum, dass sie weniger Text beinhalten, d. h. in ihrem Umfang deutlich kleiner sind.
  • 6 Wir finden etwas Ähnliches in den Kapiteln 3–6 des Buches Daniel. Auch dort werden geschichtliche Dinge berichtet, die doch gleichzeitig eine prophetische Bedeutung haben (vgl. auch Jes 36-39).
  • 7 Anders als Petrus schreibt Jakobus nicht nur an gläubige Christen aus den Juden, sondern ausdrücklich an die zwölf Stämme, d. h. an alle aus dem Volk Israel, die von dem Brief Kenntnis bekamen.
  • 8 W. Kelly: Lectures on the minor Prophets
  • 9 Am Rand sei bemerkt, dass auch der Brief von Jakobus einer der ersten Briefe ist, die in der Zeit des Neuen Testaments geschrieben wurden.
  • 10 Da hatten die Nationen zur Zeit des Herrn Jesus deutlich weniger Skrupel, Ihn zu töten, auch wenn die eigentlichen Drahtzieher die Juden waren.
  • 11 J. N. Darby: Betrachtung über den Propheten Jona (Synopsis)
  • 12 Die Berufung des Volkes Israel geht bereits auf die Zusagen an den Urvater Israels zurück. Gott hatte zu Abraham gesagt, dass er und seine Nachkommen ein Segen für die umliegenden Völker sein sollten (vgl. 1. Mo 18,18; 22,18).
  • 13 Die Ähnlichkeit von Kapitel 2 mit verschiedenen Stellen aus den Psalmen ist augenscheinlich. Wir werden bei der Betrachtung von Kapitel 2 darauf zurückkommen.
  • 14 Vgl. hierzu ausführlicher bei A. C. Gaebelein (Der Prophet Jona) und J. N. Voorhoeve (Das Buch Jona).
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