Das Kommen des Herrn, Israel und die Gemeinde

Das Geheimnis

Die Kirche ist der Leib und die Braut Christi. Sie nimmt einen besonderen Platz im Handeln Gottes ein, sie hat einen himmlischen Charakter und eine himmlische Berufung. Dadurch unterscheidet sie sich von allem, was einen Bezug zum Alten Testament hat bzw. was darin über die Zeit vor und nach der Kirche vorhergesagt wurde. Sie wurde erst nach der Auferstehung Christi gegründet und ist mit Ihm als dem Auferstandenen zur Rechten Gottes verbunden. Weder existierte die Kirche zur Zeit des Alten Testaments, noch wurde sie vorhergesagt. Obwohl Gottes Absichten mit ihr „vor Grundlegung der Welt“ feststanden, waren sie „von den Zeitaltern und von den Geschlechtern“ verborgen bis die Zeit gekommen war, sie zu offenbaren.

Diese verborgenen Ratschlüsse Gottes werden in der Schrift als Geheimnisse bezeichnet. Wir verstehen unter einem Geheimnis etwas Unerklärliches, etwas, das außerhalb unseres Verständnisses liegt. In der Sprache des Neuen Testaments ist ein Geheimnis etwas, das eingeweihten Personen offenbart wurde, so wie z. B. die Zeichen eines Geheimbundes. Gott hatte also ein Geheimnis bewahrt, das uns mitgeteilt werden sollte. Ein Geheimnis, das Er im Alten Testament nicht einmal den bevorzugtesten Empfängern seiner Gedanken anvertraut hatte. Wie schön ist das! Kinder haben das Vorrecht, die Geheimnisse der Familie zu erfahren und die Frau darf Anteil an den innersten Gedanken ihres Mannes haben. Gott hat uns als seine Kinder angenommen; Christus hat uns als seine Braut erworben. Die Geheimnisse, die selbst den höchsten seiner Knechte und Freunde verborgen waren, werden nun dieser Kirche, die Gebein von seinem Gebein und Fleisch von seinem Fleisch ist, in Herz und Ohr eingehaucht.

Diese Geheimnisse beziehen sich zum Teil auf das Reich und zum Teil auf die Kirche. Dass es ein Reich der Himmel geben würde, wo das Böse Zutritt haben würde, war ein Geheimnis, das die Propheten nicht kannten. Dieses Geheimnis finden wir in dem Gleichnis von Weizen und Unkraut. Aber es gibt auch ein Geheimnis in Verbindung mit der Kirche oder Versammlung. Wir lesen, dass Gott „darauf gesehen hat, aus den Nationen ein Volk zu nehmen für seinen Namen“ (Apg 15,14). Es heißt, dass dies sein gegenwärtiges Werk sei. Im weiteren Bericht wird uns gezeigt, wie das mit seinen offenbarten Absichten übereinstimmt, denn Er hatte durch die Propheten ankündigen lassen, dass sein Name über den Nationen angerufen wird (Apg 15,17). Die Schriftstellen werden hier nur zitiert, um zu zeigen, dass Gott nie beabsichtigt hatte, seinen Segen auf Israel zu beschränken. Wenn wir weiter im Wort lesen, finden wir, dass es ein „Geheimnis“ gibt, das mit diesem Gegenstand verbunden ist und das im Alten Testament noch nicht bekannt gemacht wurde. Im Brief an die Römer schreibt der Apostel: „Denn ich will nicht, Brüder, dass euch dieses Geheimnis unbekannt sei, damit ihr nicht euch selbst für klug haltet: dass Israel zum Teil Verhärtung widerfahren ist, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist“ (Röm 11,25). Es war offenbart worden, dass Gott den Nationen gegenüber gnädig sein würde. Aber dass Gott die Juden für eine Zeit beiseitesetzen würde, um sich ein Volk aus den Nationen zu sammeln und dass bis zur völligen Erfüllung dessen der Segen Israels verzögert werden muss, war ein „Geheimnis“, worüber die alttestamentlichen Schriften schweigen. Da die Kirche nicht das Thema des Römerbriefes ist, wird sie in diesem Abschnitt nicht namentlich erwähnt, noch wird von ihrem Charakter gesprochen. Aber das Volk, das Gott sich aus den Nationen sammelt, sind Gläubige bzw. die Kirche, und bis deren Vollzahl erreicht ist, hat Gott Israel als unmittelbaren irdischen Gegenstand beiseitegesetzt.

Im Alten Testament, wo Gottes Pläne mit der Erde gezeigt werden, finden wir genau das Gegenteil. Dort nehmen die Nationen den Zwischenraum in Gottes Handeln mit seinem irdischen Volk Israel ein und reizen sie zur Eifersucht. Das Neue Testament jedoch enthüllt Gottes himmlische Absichten. Hier ist daher das Hinzufügen zur Versammlung der Gegenstand all seiner Ratschlüsse, anstatt bloß eine Lücke in Gottes irdischen Plänen zu füllen. Im Alten Testament wird der Segen für die Nationen zwar erwähnt, steht jedoch in Verbindung mit Gottes Gedanken in Bezug auf Israel. Im Neuen Testament wiederum wird der Segen für Israel erwähnt, ist dort aber mit den Plänen Gottes für die Kirche verbunden. Das Alte Testament zeigt ein Volk, das der Gegenstand der Ratschlüsse Gottes „von Grundlegung der Welt an“ ist. Das Neue Testament aber zeigt ein Volk, das der Gegenstand der Ratschlüsse Gottes „vor Grundlegung der Welt“ ist (Mt 25,34; Eph 1,4). Gottes irdische Pläne beziehen sich auf das erstgenannte, seine himmlischen Pläne auf das letztgenannte. Da jedoch das himmlische Volk den ersten und höchsten Platz in Gottes Gedanken einnimmt, muss das irdische Volk eine Randposition einnehmen, bis Gottes Absichten mit seinem himmlischen Volk vollkommen erfüllt sind.

Man könnte jetzt fragen, ob denn nicht ebenso Juden hinzugebracht werden. Ist ihnen nicht genau wie allen anderen das Evangelium frei zugänglich? Warum heißt es, dass Israel teilweise Verhärtung widerfahren wird „bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist“? Das hängt damit zusammen, dass der Apostel hier von der Kirche als Haushaltung spricht. Sie wurde aufgrund der Verhärtung Israels eingeschaltet und ist mit Israels nationalem Segen unvereinbar. Unter dem Aspekt der Haushaltung entspricht die Kirche den Nationen, woran sich auch durch das Hinzukommen einzelner Israeliten nichts ändern wird. Wenn dem so ist, stehen sie auf dem gleichen Grund wie die Nationen. So sagt Petrus: „Sondern wir glauben, durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie auch jene“ (Apg 15,11); dadurch werden sie aus dem Volk herausgelöst. Das Christentum auf diese Weise betrachtet, ist also das Einbringen der Vollzahl der Nationen im Gegensatz zu Gottes zukünftigem Werk der Wiederherstellung und des Segens für Israel. Das ist das „Geheimnis“ des Römerbriefes.

Im Brief an die Kolosser spricht Paulus von einer „Verwaltung Gottes, die mir in Bezug auf euch gegeben ist, um das Wort Gottes zu vollenden: das Geheimnis, das von den Zeitaltern und von den Geschlechtern her verborgen war, jetzt aber seinen Heiligen offenbart worden ist, denen Gott kundtun wollte, welches der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses ist unter den Nationen, das ist: Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit“ (Kol 1,25–27). Das Geheimnis war daher erforderlich „um das Wort Gottes zu vollenden“. Es war die Gegenwart Christi in oder unter den Gläubigen, die Hoffnung der Herrlichkeit. Das Wort sagt nicht, dass das Geheimnis die Gegenwart Christi unter den Nationen sei, sondern „in euch“, d. h. in der Kirche. Die Gegenwart Christi unter den Juden war vorhergesagt worden, jetzt aber wird enthüllt, dass Er in einer Gemeinschaft außerhalb des Judentums gegenwärtig sein würde, wo es keinen Unterschied zwischen Juden und Nationen gibt. Dieses Geheimnis wird nun den Nationen offenbart.

Es ist jedoch nicht nur die Gegenwart Christi, die hier einer den Propheten unbekannten Versammlung zugesichert wird, sondern noch eine weitere, neue Sache. Seine Gegenwart, die von den Propheten vorhergesagt wurde, war keine Hoffnung der Herrlichkeit, sondern die Herrlichkeit. Wenn Christus über die Juden herrschen wird, wird Er ihre Herrlichkeit sein – „ein Licht zur Offenbarung für die Nationen und zur Herrlichkeit deines Volkes Israel“ (Lk 2,32). Aber hier sehen wir etwas vollkommen anderes. Anstatt die zu verherrlichen, bei denen Er Wohnung nimmt, gibt Er ihnen nur die „Hoffnung der Herrlichkeit“. Jetzt sind sie Glieder seines Leibes. Die Leiden dieses Leibes sind jedoch noch nicht vollendet und die Gläubigen werden dazu aufgerufen, sich mit seinen Leiden eins zu machen. Dabei haben sie allerdings die wunderbare und sichere Hoffnung, bald an seiner Herrlichkeit teilhaben zu können. Das war den alten Propheten nicht bekannt und ist ein weiteres Merkmal des Geheimnisses, das nun den Gläubigen offenbart wurde.

Wir werden hier einen Schritt weitergeführt als im Römerbrief. Dort ist das Geheimnis, dass Gott jüdische Segnungen beiseitegesetzt hat, bis Er ein Werk unter den Nationen getan hat, d. h. in einer Sphäre außerhalb seines irdischen Handlungsbereiches. Im Brief an die Kolosser wird ergänzt, dass Christus unter denen Wohnung nimmt (im geistlichen Sinn natürlich), die Gott als Ergebnis seines derzeitigen Werkes sammelt. Dabei verleiht Er ihnen keine momentane Herrlichkeit, sondern Er ist ihre Hoffnung auf eine zukünftige Herrlichkeit.

Im Epheserbrief wird das Geheimnis so beschrieben: „dass die aus den Nationen Miterben seien und Miteinverleibte und Mitteilhaber der Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium“ (Eph 3,6). Das wird das „Geheimnis des Christus“ genannt. Was lehrt es uns nun? Es wird oft so verstanden, als seien die Nationen durch das Evangelium in jüdische Segnungen gebracht. Das würde jedoch die Prophetie Lügen strafen. Die prophetischen Segnungen der Juden sind ausschließlich national und würden definitiv ausgelöscht werden, wenn es keinen Unterschied mehr zwischen Juden und Nationen gäbe. Abgesehen davon, wird an anderen Stellen der Schrift ausdrücklich davon gesprochen, dass die speziell jüdischen Segnungen verschoben werden, bis Gottes derzeitiges Werk, von dem hier die Rede ist, erfüllt worden ist. Dieser Abschnitt bedeutet also nicht – und kann es auch gar nicht bedeuten –, dass die Nationen durch das Christentum in die den Juden vorbehaltenen Segnungen gebracht wurden.

Lasst uns die Verse einmal etwas näher untersuchen. Den Nationen wird zugesichert, dass sie „Miterben und Miteinverleibte und Mitteilhaber der Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium“ seien. Wessen Miterben sind sie denn? Sie sind, wie wir aus anderen Stellen des Wortes Gottes wissen, Miterben und Miteinverleibte Christi; aber ist es das, was hier gemeint ist? Offensichtlich nicht, denn dann könnte nicht gesagt werden, dass sie Mitteilhaber „der Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium“ seien. In letztgenanntem Fall ist eindeutig die Teilhaberschaft mit den Juden gemeint und wenn sich ein Teil auf das gemeinsame Teil von Juden und Nationen bezieht, muss es bei den anderen genauso sein. Der Abschnitt sagt also, dass die Nationen Miterben der Juden sind, dass sie Teil eines Leibes mit den Juden sind und dass sie Mitteilhaber der Juden an Gottes Verheißungen in Christus durch das Evangelium sind.

Das kann entweder dadurch geschehen, dass die Nationen unter jüdische Segnungen gebracht werden, oder dass Juden und Nationen gemeinsam einen völlig anderen Segen empfangen. Wie wir bereits gesehen haben, kann es ersteres nicht sein, denn die Natur der jüdischen Segnungen und die ausdrückliche Lehre des Wortes Gottes lassen den Gedanken nicht zu, dass die Nationen gleichberechtigt an den Segnungen teilhaben, die den Juden verheißen wurden. In diesem Fall werden wir jedoch nicht reinen Schlussfolgerungen überlassen, auch wenn es sich hier um etwas ganz Offensichtliches handelt. Aus dem unmittelbaren Zusammenhang erfahren wir, worum es bei diesem Leib geht, in dem sowohl Juden als auch Nationen einverleibt sind. Wir stellen fest, dass es kein anderer als der Leib Christi selbst ist. „Denn er ist unser Friede, der aus beiden eins gemacht und abgebrochen hat die Zwischenwand der Umzäunung, nachdem er in seinem Fleisch die Feindschaft, das Gesetz der Gebote in Satzungen, weggetan hatte, damit er die zwei, Frieden stiftend, in sich selbst zu einem neuen Menschen schüfe“ (Eph 2,14.15). Zuvor lesen wir in diesem Brief, dass „wir auch ein Erbteil erlangt haben“ (Eph 1,11).

Was will uns der Apostel denn nun sagen? Welches Geheimnis enthüllt er hier? Nachdem er von einem Erbe und einem Leib gesprochen hat – das Erbe haben wir in Christus und in dem Leib sind wir mit Christus verbunden – fährt er fort und sagt, dass die Nationen das Erbe und den Leib und die wunderbaren Verheißungen des Evangeliums zusammen mit den Juden haben, indem sie Miterben, Miteinverleibte und Mitteilhaber der Verheißungen sind. Die Nationen werden nicht Teilhaber der jüdischen Hoffnung, sondern Juden und Nationen haben dieselbe Hoffnung, die sich stark von der Hoffnung Israels unterscheidet. An welcher Stelle heißt es, dass das jüdische Volk mit Christus einen Leib bildet? Das ist keinesfalls eine prophetische Hoffnung, sondern ein Geheimnis, das nun zum ersten Mal bekannt wird. Und wie können Menschen überhaupt zu einem Leib zusammengefügt werden? Indem die aus den Nationen zu Juden werden? Weit gefehlt! Die niedergerissene Zwischenwand der Umzäunung ist die jüdische Unterscheidung und wenn man sagen könnte, dass sich eine Seite der anderen genähert habe, dann wäre es wohl eher so, dass sich die Juden den Nationen anpassten als umgekehrt. Tatsächlich gibt es auf keiner Seite eine solche Annäherung. Beide werden aus ihrem vorherigen Status herausgenommen und in einen völlig anderen gebracht. Beide Gruppen, Juden und Nationen, haben weiterhin Bestand in der Welt, aber Gott hat aus beiden eine Anzahl Personen herausgenommen und zu einer neuen Klasse zusammengeführt, den Leib Christi, in dem alle Unterschiede aufgehoben sind. Für Gott gibt es daher folgende drei Gruppen: die Juden, die Nationen und die Versammlung Gottes (1. Kor 10,32).

Etwas später schreibt der Apostel im gleichen Brief: „Denn wir sind Glieder seines Leibes, [von seinem Fleisch und von seinen Gebeinen]. ‚Deswegen wird ein Mensch den Vater und die Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und die zwei werden ein Fleisch sein‘. Dieses Geheimnis ist groß; ich sage es aber in Bezug auf Christus und auf die Versammlung“ (Eph 5,30–32). Hier wird das Geheimnis ausdrücklich als die Einheit Christi mit der Kirche beschrieben, dass sie „ein Fleisch“ sind, so dass Gläubige „Glieder seines Leibes, [von seinem Fleisch und von seinen Gebeinen]“ sind.

In welchem Licht man die Kirche daher auch betrachten mag, von ihr wird als von einem Geheimnis gesprochen:

  • das Werk, das Gott unter den Nationen tut in der Zeit der Verwerfung Israels
  • der Ort, wo Christus im geistlichen Sinn Wohnung nimmt
  • die Hoffnung kommender Herrlichkeit
  • der Leib, in dem Juden und Nationen auf einer völlig neuen Grundlage vereint sind
  • die Braut, die mit Christus zu einem Fleisch verbunden ist

Es handelt sich um etwas völlig Neues, ein Geheimnis das „von den Zeitaltern und von den Geschlechtern her verborgen war“. Es ist ein Geheimnis, das außerhalb von Gottes irdischem Handlungsbereich liegt und dessen Offenbarung denen vorbehalten ist, die Gott in himmlischer Herrlichkeit in eine Beziehung zu seinem Sohn gebracht hat, denen Er Dinge kundgetan hat, die „kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz aufgekommen“ sind.

Aber war dieses Geheimnis vor den alttestamentlichen Propheten tatsächlich verborgen? Sagt nicht Paulus, dass es sowohl den Propheten als auch den Aposteln offenbart worden ist? Erwähnt er nicht ausdrücklich, dass es in den Schriften der Propheten bekannt gemacht wurde? Lasst uns einmal seine Worte genauer betrachten. Er spricht von der „Offenbarung des Geheimnisses, das ewige Zeiten hindurch verschwiegen war, jetzt aber offenbart und durch prophetische Schriften, nach Befehl des ewigen Gottes, zum Glaubensgehorsam an alle Nationen kundgetan worden“ ist (Röm 16,25.26). So erwähnt er auch sein „Verständnis in dem Geheimnis des Christus ..., das in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden ist, wie es jetzt offenbart worden ist seinen heiligen Aposteln und Propheten im Geist“ (Eph 3,4.5). Sicherlich wird kein vernünftiger Mensch diese Stellen lesen, ohne dabei festzustellen, dass die prophetischen Schriften und die Propheten, von denen hier die Rede ist, nicht die des Alten Testaments sind. Diese Stelle zeigt eindeutig, dass das Geheimnis damals noch nicht bekannt war. Es handelt sich demnach um Propheten, die zu dieser Zeit lebten und um prophetische Schriften, die zu dieser Zeit verfasst wurden – kurz gesagt: gemeint sind die Propheten und prophetischen Schriften des Neuen Testaments.

Das ist also das Geheimnis der Kirche, das nun zum ersten Mal offenbart wird. Es gibt zweifellos noch andere Geheimnisse, die im Neuen Testament enthüllt werden, z. B. das „Geheimnis der Gesetzlosigkeit“, die derzeitige, verhüllte Form des Bösen, deren volle und ungehinderte Entfaltung von Jesaja, Daniel und anderen alttestamentlichen Schreibern vorhergesagt wurde. Dann gibt es das „Geheimnis der Gottseligkeit“, die völlige Offenbarung Gottes in der Person seines Sohnes im Gegensatz zu den teilweisen Offenbarungen, die es zuvor gab; Gott, der „offenbart worden ist im Fleisch, ist gerechtfertigt im Geist, gesehen von den Engeln, gepredigt unter den Nationen, geglaubt in der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit“ (1. Tim 3,16). Es gibt das Geheimnis des Kommens Christi speziell für die Seinen: „Wir werden [zwar] nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune; denn posaunen wird es, und die Toten werden auferweckt werden unverweslich, und wir werden verwandelt werden“ (1. Kor 15,51.52). In diesen wie auch in anderen Fällen, wo dieser Begriff gebraucht wird, handelt es sich um neue Offenbarungen, die zu dem himmlischen Charakter der Kirche oder dem derzeitigen Handeln Gottes passen, das als Unterbrechung des im Alten Testament vorhergesagten Ablaufs irdischer Ereignisse betrachtet werden kann.

Aber das Geheimnis, das eigens dem Apostel Paulus anvertraut wurde, ist das, was wir gerade betrachtet haben: das Geheimnis der Kirche als Leib und Braut Christi. Warum, so könnte man fragen, wurde das als Geheimnis bewahrt? Weil es eine himmlische Sache ist, der Gegenstand himmlischer Ratschlüsse Gottes, während die alttestamentlichen Prophetien das Ziel hatten, seine irdischen Ratschlüsse bekannt zu machen. Das ist sehr wichtig, da es zeigt, wie sehr sich die Kirche außerhalb der Welt befindet. Sie hat einen anderen Ursprung, wurde zu einer anderen Zeit offenbart, hat eine andere Hoffnung und gehört zu einer anderen Sphäre. Sie erbt nicht etwa die Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen und Prophezeiungen, sondern bildet den größtmöglichen Gegensatz dazu. Der Unterschied zwischen beidem ist so groß, dass sie nicht nebeneinander existieren können. Während Gottes Absichten mit der Erde offen dargelegt wurden, war das Geheimnis der Kirche verborgen. Als das Geheimnis der Kirche enthüllt wurde, waren die Absichten mit der Erde aufgeschoben. Die Kirche ist mit Christus im Himmel verbunden, Israel ist mit Ihm auf der Erde verbunden. Die Kirche kennt Ihn in seinen Leiden und seinem Ausharren; Israel wird Ihn in seiner Erhabenheit und Macht kennen. Die Kirche erfreut sich an Ihm als ihrem Bräutigam, Israel wird sich über Ihn als ihr Herrscher freuen. Das ist unser gesegnetes Los, unser himmlisches Teil im Gegensatz zu dem in höchstem Maß begünstigten irdischen Volk. Leider sind wir weit davon entfernt, uns dieser wunderbaren Stellung immer bewusst zu sein!

Wie sehr wir das auch geringschätzen mögen, der Apostel Paulus tat dies nicht. Er ging den Menschen nach, war erfüllt davon, dem Sünder die einfache Wahrheit der Gnade vorzustellen. Dieser wunderbare Gegenstand, „das Geheimnis des Christus“, war in seinen Gedanken und in seinem Herzen allgegenwärtig. Wenn er für die Befestigung der Heiligen betete, tat er das „nach der Offenbarung des Geheimnisses“. Wenn er sie aufforderte „vereinigt in Liebe und zu allem Reichtum der vollen Gewissheit des Verständnisses“ zu sein, dann geschah dies „zur Erkenntnis des Geheimnisses Gottes“. Wenn er sie bat, für ihn zu beten, dann „damit Gott uns eine Tür des Wortes auftue, das Geheimnis des Christus zu reden“. Sein Verständnis des wahren Charakters der ihm anvertrauten Wahrheit kam daher, dass Gott ihm „durch Offenbarung das Geheimnis kundgetan“ hatte. Das Geheimnis ist, dass die Kirche der Leib und die Braut Christi ist, die bereits jetzt mit Ihm vereint ist durch den Heiligen Geist, der auf die Erde gesandt wurde. Sie wartet darauf, dass diese wunderbare Einheit äußerlich sichtbar wird, „Christus, unser Leben, offenbart werden wird“ und wir „mit ihm offenbart werden in Herrlichkeit“. Wenn unsere Herzen mehr im Einklang mit den Gedanken Gottes wären und die Liebe Christi mehr empfinden würden, würde uns dieser wunderbare Gegenstand sicher mit nie endender Anbetung und Freude erfüllen!

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