Das Kommen des Herrn, Israel und die Gemeinde

Eine allgemeine Auferstehung und ein allgemeines Gericht am Ende der Welt - was die Schrift nicht lehrt

So beweiskräftig und schlüssig, wie die im letzten Kapitel zitierten Abschnitte hinsichtlich einer separaten Auferstehung Gläubiger vor dem Ende der Welt erscheinen, wären sie doch für viele eine Quelle der Verwirrung, wenn verschiedene andere Stellen im Wort Gottes so verstanden werden, als lehrten sie Dinge, die diese Schriftstellen anscheinend nicht bestätigen. Es gibt gewisse Abschnitte, die gemeinhin als beweisgebend für eine allgemeine Auferstehung und Gericht am Ende der Welt angesehen werden. Sollte die gewöhnliche Auslegung dieser Abschnitte korrekt sein, kollidiert sie offensichtlich mit der Lehre, die wir in unseren letzten Kapiteln in Bezug auf eine gesonderte Auferstehung der „Toten in Christus“ abgeleitet haben. Ich schlage daher vor, diese Stellen einmal genau anzusehen. In der Schrift kann es keinen wirklichen Widerspruch geben und wenn wir uns vom Heiligen Geist leiten lassen, werden wir feststellen, dass entweder die bereits betrachteten Abschnitte fehlinterpretiert wurden oder, dass die Stellen, die angeführt werden, um eine gegenteilige Auslegung zu begründen, doch in vollkommener Übereinstimmung mit ihnen sind.

1. Eine der Stellen, die als Beweis für eine allgemeine Auferstehung zitiert wird, findet sich im Propheten Daniel: „Und in jener Zeit wird Michael aufstehen, der große Fürst, der für die Kinder deines Volkes steht; und es wird eine Zeit der Drangsal sein, wie sie nicht gewesen ist, seitdem eine Nation besteht bis zu jener Zeit. Und in jener Zeit wird dein Volk errettet werden, jeder, der im Buch geschrieben gefunden wird. Und viele von denen, die im Staub der Erde schlafen, werden erwachen: diese zu ewigem Leben und jene zur Schande, zu ewigem Abscheu. Und die Verständigen werden leuchten wie der Glanz der Himmelsfeste, und die, welche die Vielen zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne, immer und ewig“ (Dan 12,1–3). Wir müssen hier nicht über die Bedeutung des Abschnitts sprechen. Es reicht aus, hervorzuheben, dass, wenn er sich überhaupt auf eine Auferstehung der Toten bezieht, es sich nicht um eine allgemeine Auferstehung handeln kann. Die angeführten Verse bilden den Schluss einer Mitteilung an Daniel, in der die Ereignisse erklärt werden, die vor der Wiederherstellung und Herrlichkeit von Daniels Volk, den Juden, stattfinden müssen (Dan 10,16–12,4). Er bezieht sich ganz einfach auf die Juden und die erwähnte Zeit ist nicht das Ende der Welt, sondern die Errettung eines Volkes. Die Auferstehung, von der hier die Rede ist, sei sie wörtlich oder bildlich gemeint, findet nicht am Ende der Welt statt, sondern lange davor. Es ist keine allgemeine Auferstehung, sondern sie beschränkt sich auf Daniels Volk. Sie bezieht sich noch nicht einmal auf das ganze Volk, sondern gilt nur für „viele von denen“. Es gibt darin wohl kaum eine unwahrscheinlichere, ja unmöglichere Schlussfolgerung, als eine allgemeine Auferstehung am Ende der Welt. Es ist in der Tat so, dass, wenn diese Stelle hier wörtlich als Auferstehung aller Toten verstanden würde, wir hier einen der schlüssigsten Beweise dafür hätten, dass es sich um eine teilweise und keine allgemeine Auferstehung handelt, die zudem vor dem Ende der Welt und nicht am Ende der Welt stattfindet.

2. Ein anderer Abschnitt, von dem angenommen wird, dass er eine allgemeine Auferstehung und ein allgemeines Gericht lehrt, ist das Gleichnis von Weizen und Unkraut. Der Vers, aus dem diese Lehre gezogen wird, ist: „Lasst beides (Weizen und Unkraut) zusammen wachsen bis zur Ernte, und zur Zeit der Ernte werde ich den Schnittern sagen: Lest zuerst das Unkraut zusammen und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen; den Weizen aber sammelt in meine Scheune“ (Mt 13,30). Es folgt die Erklärung: „Er aber antwortete und sprach: Der den guten Samen sät, ist der Sohn des Menschen, der Acker aber ist die Welt; der gute Same aber, dies sind die Söhne des Reiches, das Unkraut aber sind die Söhne des Bösen; der Feind aber, der es gesät hat, ist der Teufel; die Ernte aber ist die Vollendung des Zeitalters, die Schnitter aber sind Engel. Wie nun das Unkraut zusammengelesen und im Feuer verbrannt wird, so wird es in der Vollendung des Zeitalters sein. Der Sohn des Menschen wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle Ärgernisse zusammenlesen und die, welche die Gesetzlosigkeit tun; und sie werden sie in den Feuerofen werfen: Dort wird das Weinen und das Zähneknirschen sein. Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in dem Reich ihres Vaters“ (Mt 13,37–43).

Dass dieser Abschnitt ausgelegt wird, als beschreibe er ein allgemeines Gericht am Ende der Welt, ist zum Teil die Ursache und zum Teil die Konsequenz der unglücklichen Fehlübersetzung des Wortes „Zeitalter“, was oft mit dem Begriff „Welt“ wiedergegeben wurde. Die Vollendung des Zeitalters ist etwas vollkommen anderes als das Ende der Welt und es kann nur zu Missverständnissen führen, wenn man Ereignisse verwechselt, die in ihrem Charakter grundlegend gegensätzlich sind. Es war ein Ausdruck, den die Juden sehr gut verstanden und der das Ende ihrer Unterwerfung unter die Nationen und die Ablehnung Gottes beschreibt – die Zeit betreffend, in der Daniels Fragen gestellt und seine prophetischen Aussagen gemacht wurden. Dieser Ausdruck wird auch immer in dieser Bedeutung von den Jüngern verwendet, wenn sie fragten: „Was ist das Zeichen deiner Ankunft und der Vollendung des Zeitalters?“ (Mt 24,3). Es gibt keine einzige Situation, wo er korrekt als Bezug auf das Ende der Welt verstanden werden kann. Im Gegenteil, es ist der Beginn einer anderen Epoche, der schönsten und herrlichsten in der Geschichte der Welt.

Es ist jedoch nicht nur der verwendete Ausdruck, der es uns untersagt, das hier beschriebene Geschehen als Ereignis am Ende der Welt zu interpretieren. Wenn es sich um eine allgemeine Auferstehung handelt, warum wird nichts darüber gesagt, dass jemand aufersteht? Sicherlich ist das Fehlen dieses überaus bedeutenden Teils des Bildes Beweis genug, dass die hier vorgestellte Szene nicht die finale Auferstehung mit anschließendem Gericht meint, sondern ein ganz anderes Ereignis. Aber welches Ereignis denn? Wenn wir uns anschauen, welche Auswirkungen das Kommen des Herrn hat, werden wir keine Schwierigkeiten haben, die vollkommene Übereinstimmung zwischen diesem Gleichnis und den Dingen, die zu dieser Zeit passieren werden, anzuerkennen. Der Moment war noch nicht gekommen, das Geheimnis seines Kommens für die Seinen – noch vor seiner Offenbarung für die Welt – kundzutun (1. Thes 4,13–18). Außerdem geht es hier um eine öffentliche Darstellung gegenüber der Welt und nicht darum, bei Christus im Vaterhaus zu sein. In diesem Licht betrachtet, stellen wir uns nun die Frage, was wir über das Kommen des Herrn gelernt haben. Für die Bösen wird Christus in Begleitung von Engeln seiner Macht in flammendem Feuer kommen und Vergeltung üben. Was die Gläubigen betrifft, so werden diese offenbar werden mit Ihm in Herrlichkeit, auf dass Er „verherrlicht (werde) in seinen Heiligen“ und „bewundert ... in allen denen, die geglaubt haben“ (2. Thes 1,10). Im Gleichnis sind die Engel Diener des Gerichts, die Gerechten werden leuchten wie die Sonne und die Ungerechten werden in einen Feuersee geworfen. Man kann wohl schwerlich die exakte Übereinstimmung zwischen dem Gleichnis und der lehrmäßigen Aussage übersehen.

3. Eine andere Schriftstelle, von der oft angenommen wird, dass sie eine allgemeine Auferstehung und Gericht am Ende der Welt beschreibt, finden wir in Matthäus 24 und 25 in den letzten beiden Abschnitten der Unterredung unseres Herrn mit seinen Jüngern. Die erste Stelle (Mt 25,14–30) zeigt den Herrn Jesus als den Herrn, der nach seiner Abwesenheit zurückkehrt und von seinen Knechten Rechenschaft über die ihnen anvertrauten Talente fordert. In der zweiten Stelle (Mt 25,31–46) sehen wir Ihn auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen und Gericht über die Nationen ausüben. Wir wollen nun einmal untersuchen, ob eine oder gar beide Szenen zeigen, dass es ein allgemeines Gericht für die am Ende der Welt aus ihren Gräbern Auferstandenen gibt.

Als erstes fällt auf, dass sich diese beiden Szenen in ihrem Charakter derart unterscheiden, dass man sie nicht einfach als Darstellung ein und desselben Ereignisses betrachten kann. Im ersten Gleichnis werden die Personen individuell beurteilt, im zweiten gibt es zwei große Gruppen. Im ersten Gleichnis geht es um die Treue in der Verwaltung eines anvertrauten Gutes, im zweiten ist es das Verhalten gegenüber einer Personengruppe, die als „diese meine Brüder“ bezeichnet werden.

Diesem drängt sich unmittelbar ein weiterer Gedanke auf: Warum sollten diese Ereignisse bei einer allgemeinen Auferstehung am Ende der Welt stattfinden, wenn es nicht den geringsten Hinweis auf die Toten, eine Auferstehung oder das nahende Ende der Welt gibt? Die einzige Antwort, die es auf diese Frage gibt, ist, dass die allgemein übliche Auslegung der Schrift den Betrachtern keine Wahl ließ. Unter der Annahme, dass Christus nur am Ende der Welt kommt und dass dann alle auferstehen und gerichtet werden, müssen diese Szenen zu dieser Zeit stattfinden, denn es gibt keinen anderen Zeitpunkt, wo sie stattfinden könnten. Solche aber, die bereits verstanden haben, dass Christus vor dem Ende der Welt kommen wird, werden wohl kaum einem Gleichnis ein so gewaltiges Ereignis wie eine allgemeine Auferstehung zuordnen, wenn die Schrift überhaupt keine Aussage dazu macht. Sie werden stattdessen eine andere Erklärung suchen, die das Wort Gottes nicht derart fehlinterpretiert.

Dem Gleichnis der Talente folgt das des Verwalters und der Jungfrauen. Das Gleichnis des Verwalters zeigt, welche Folgen Sorgfalt oder Nachlässigkeit in der Erwartung des Kommens des Herrn haben. Das Gleichnis der Jungfrauen verdeutlicht uns, dass wir Öl, d. h. wahres geistliches Leben, in unseren Lampen haben müssen. In dem Gleichnis der Talente sehen wir die Verantwortung derer, die durch den Namen Christi in seinen Dienst berufen wurden. So wie der böse Knecht entzweigeschnitten wurde und die nachlässigen Jungfrauen draußen bleiben mussten, so wird der unnütze Knecht in die äußerste Finsternis geworfen, während die fleißigen Knechte in die Freude ihres Herrn eingehen. Alle drei Gleichnisse werden beim Kommen des Herrn erfüllt, wenn man sie in ihren beiden Aspekten betrachtet. Der treue Verwalter, die Jungfrauen mit Öl und die fleißigen Knechte, alle empfangen ihren Lohn. Irrlehrer jedoch werden entlarvt und zurückgelassen oder den schrecklichen Gerichten ausgesetzt, die über diese Welt kommen werden, wenn Christus in Herrlichkeit erscheint. Somit ist dieses Gleichnis völlig unpassend als Beschreibung einer allgemeinen Auferstehung. Stattdessen haben wir hier, in vollkommener Übereinstimmung mit dem Rest der Schrift, ein Bild von dem, was beim zweiten Kommen des Herrn stattfindet.

Es gibt einen weiteren nennenswerten Punkt der Übereinstimmung. Im Lukasevangelium wird dasselbe Gleichnis erzählt, es gibt jedoch einen Unterschied in den Belohnungen. Der Knecht, der zehn Pfunde gewonnen hat, wird Herrscher über zehn Städte, der mit fünf Talenten über fünf Städte (Lk 19,12–27). Lesen wir jemals von Gläubigen, die zu Herrschern über himmlische Städte gemacht werden? Nein, wir lesen jedoch, dass Gläubige mit Christus über die Erde herrschen werden, und zu diesem Zustand passt dieses Gleichnis ausgezeichnet. Das Bild stimmt auch mit anderen Teilen des Wortes Gottes überein, in denen beschrieben wird, was beim zweiten Kommen des Herrn geschehen wird: Nachdem die Gläubigen zuerst entrückt und danach mit Christus in Macht offenbar wurden, erhält schließlich jeder seine Belohnung nach dem Maß seines Glaubens. Die Ungläubigen aber werden hinausgetan und gerichtet. Man mag sich vielleicht fragen, ob, wenn dem so wäre, ein Dialog wie der im Gleichnis stattfinden könnte. Ein Gleichnis ist jedoch keine Tatsache, sondern nur eine fiktive Erzählung, die zur Veranschaulichung eines Prinzips dienen soll. Der Dialog ist Teil dieses Bildes, in dem menschliche Überlegungen Gottes Gedanken gegenübergestellt werden. Wer würde wohl das Flehen der törichten Jungfrauen oder die Antwort des Bräutigams wörtlich nehmen? Wer nimmt an, dass der Wortwechsel zwischen dem Richter und denen zur Rechten und denen zur Linken im nachfolgenden Gleichnis wirklich erfolgt? Und wer hat je gedacht, dass die Worte, die der reiche Mann in seiner Qual sprach oder die Worte Abrahams tatsächlich ausgesprochen wurden? Im vor uns liegenden Gleichnis werden daher, genau wie in den soeben angeführten Gleichnissen, Gedanken und Wünsche des Herzens in Worte gefasst. Die Szene beschreibt daher kein reales Ereignis, sondern es handelt sich um eine Geschichte, die die Handlungsprinzipien Gottes und der Menschen illustriert.

Der letzte Teil von Matthäus 25 bezieht sich auf das Gericht, das Christus über die Nationen der Erde halten wird, wenn Er in königlicher Herrlichkeit erscheinen und sie „mit eisernem Zepter zerschmettern, wie ein Töpfergefäß sie zerschmeißen“ (Ps 2,9) wird. Es stellt den Herrn Jesus vor, der in richterlicher Gewalt kommt. Das Gericht besteht jedoch aus verschiedenen Teilen. In der Offenbarung finden wir nur das Gericht über das Tier und den falschen Propheten und deren Anhänger. Andere Teile des Gerichts finden wir an anderen Stellen berichtet. Im Buch Joel lesen wir, dass der Herr „die Gefangenschaft Judas und Jerusalems wenden“ wird und Er wird „alle Nationen versammeln und sie in die Talebene Josaphat hinabführen; und ich werde dort mit ihnen rechten über mein Volk und mein Erbteil Israel, das sie unter die Nationen zerstreut haben“ (Joel 4,1.2). Die Betrachtung, ob diese Schilderungen wörtlich oder bildlich gemeint sind, lassen wir einmal außen vor und vergleichen diese einmal mit der in Matthäus beschriebenen Szene. „Wenn aber der Sohn des Menschen kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen; und alle Nationen werden vor ihm versammelt werden“ (Mt 25,31.32).

Es stellt sich die Frage, wer mit „alle Nationen“ denn nun gemeint ist. Der Ausdruck „Nationen“ meint „Völkerschaften“ und wird üblicherweise verwendet, um diese Gruppe von den Juden zu unterscheiden. In dieser Szene sind nun aber nicht, wie allgemein angenommen wird, zwei Gruppen, sondern drei: die Schafe, die Böcke und „diese meine Brüder“. Diese Personen, die Brüder Christi genannt werden, sind weder Schafe noch Böcke noch unterliegen sie dem Gericht. Wegen ihres Verhaltens gegenüber diesen „Brüdern“, die hungrig und durstig, Fremdlinge, nackt, krank und gefangen waren – ein verfolgtes, verworfenes Volk – werden die Nationen gerichtet. Wie sehr stimmt das doch mit der Vorhersage Joels und den großen Linien alttestamentlicher Prophetie überein! In der Bibel werden die Juden immer als ein für einen bestimmten Zeitraum von Gott vergessenes Volk dargestellt. Nach Ablauf dieser Zeit wird der Herr „die Gefangenschaft Judas und Jerusalems wenden“ und die Nationen für ihre grausame Unterdrückung mit der sie dieses Volk, vor allem im letzten Abschnitt dieser Epoche, behandelt haben, richten. Es stimmt, dass in der in Matthäus beschriebenen Szene die Gläubigen nicht als Begleiter des Herrn Jesus erwähnt werden, aber, wie ich bereits zuvor gezeigt habe, hat unser Herr dieses Thema in seiner ganzen Lehre bewusst unberücksichtigt gelassen. Andererseits werden jedoch die Engel erwähnt, weshalb die Erzählung in enger Übereinstimmung mit 2. Thessalonicher 1 Verse 7 und 8 ist, wo wir das Kommen des Herrn zum Gericht finden. Dieses Gericht der Nationen, das bereits in den alttestamentlichen Schriften vorhergesagt wurde, ist zweifellos genau das gleiche Gericht, das wir hier, überaus deutlich, bildlich in dem vor uns liegenden Abschnitt haben. Mit „diese meine Brüder“ ist der gläubige Überrest Israels gemeint, der, da er aus des Herrn Hand ein doppeltes Maß für all seine Sünden empfangen hat, nun von seinen Feinden erlöst und von Christus als sein Volk angenommen ist. „Alle Nationen“ sind die nicht-jüdischen Völker, mit denen nun entsprechend ihrem Verhalten gegenüber dem auserwählten Volk Gottes – Wohlwollen oder Feindschaft – verfahren wird.

Der Abschnitt zeigt uns, wie einfach die Schrift ist, wenn man sie direkt betrachtet und störende Einflüsse menschlicher Theologien unberücksichtigt lässt. Als Gericht über die Nationen bei dem Kommen des Herrn zur Wiederherstellung Israels, ist dieser Bericht völlig problemlos zu verstehen und wir finden darin eine beeindruckende Erfüllung alttestamentlicher Prophetie. Als Bild einer allgemeinen Auferstehung und Gericht, ist diese Schilderung voller Widersprüche und Absurditäten: es wäre eine Darstellung eines universellen Gerichts, in dem einige wiederum nicht gerichtet werden, und einer allgemeinen Auferstehung, bei der jedoch niemand aufersteht!

4. Einige Leser werden sicherlich noch an weitere Stellen in der Schrift denken. „Denn wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, damit jeder empfange, was er in dem Leib getan hat, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses“ (2. Kor 5,10). Und: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder auch du, was verachtest du deinen Bruder? Denn wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden“ (Röm 14,10). Das sind sehr ernste Worte und wir tun gut daran, diese einmal in unseren Herzen zu erwägen. Der gleiche Retter, der sich selbst als liebender Freund vorgestellt hat, der einen Platz für uns bereitet hat und darauf wartet, wiederzukommen und uns zu sich zu holen, offenbart sich auch als der Richter, der inmitten der Leuchter wandelt „seine Augen wie eine Feuerflamme und seine Füße gleich glänzendem Kupfer“ (Off 2,18). „So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben“ (Röm 14,12) – der Verlorene, wenn Er kommt, um die Toten auf Grundlage dessen zu richten, was in den Büchern geschrieben steht und die Erlösten, wenn Er mit seinen Knechten abrechnet und Belohnungen austeilt.

Wir finden jedoch nichts darüber, dass diese beiden Gruppen zum gleichen Zweck zusammenstehen. Im Gleichnis von den Pfunden, das uns im Lukasevangelium berichtet wird, gibt es neben dem Unterschied zwischen den treuen und nachlässigen Knechten auch innerhalb der Gruppe der treuen Knechte Unterschiede, die gemäß ihren Verdiensten gemacht werden. Das zeigt uns, dass auch die Gläubigen nach dem Maß ihrer Treue unterschiedlich belohnt werden. Dass Gläubige hinsichtlich ihrer Werke offenbar werden, lehrt auch Paulus. Die Knechte werden aufgefordert ihre Arbeit gutwillig zu tun „als dem Herrn und nicht den Menschen, da ihr wisst, dass, was irgend ein jeder Gutes tut, er dies vom Herrn empfangen wird, er sei Sklave oder Freier“ (Eph 6,7.8). In einem anderen Brief wird der gleichen Personengruppe gesagt „ihr wisst, dass ihr vom Herrn die Vergeltung des Erbes empfangen werdet; ihr dient dem Herrn Christus. Denn wer unrecht tut, wird das Unrecht empfangen, das er getan hat; und da ist kein Ansehen der Person“ (Kol 3,24.25). Den umfassendsten Ausspruch dieser Wahrheit finden wir jedoch in folgendem Abschnitt: „Wenn aber jemand auf diesen Grund baut Gold, Silber, wertvolle Steine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar werden, denn der Tag wird es klar machen, weil er in Feuer offenbart wird; und welcherart das Werk eines jeden ist, wird das Feuer erproben. Wenn das Werk jemandes bleiben wird, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen; wenn das Werk jemandes verbrennen wird, so wird er Schaden leiden, er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durchs Feuer“ (1. Kor 3,12–15). Das zeigt uns, dass die Gläubigen nach ihren Werken offenbart werden. Das ist sicherlich eine sehr ernste und zutiefst reale Sache, genauso wie das Gericht der Verlorenen. Dennoch ist beides grundverschieden voneinander, sowohl was den Zeitpunkt als auch die Umstände des jeweiligen Ereignisses angeht.

Das mit „Richterstuhl“ übersetzte Wort meint nur eine Stufe oder ein Podest, was eine Person in Ausübung ihrer Autorität oder für das Halten einer Rede einnimmt. Es beinhaltet auch den „großen weißen Thron“ vor dem die Toten erscheinen müssen, um ihr letztes Urteil zu empfangen, ist in seiner Bedeutung jedoch noch umfassender und meint nicht unbedingt oder in erster Linie, dass dieser Stuhl von einem Richter oder Strafgericht besetzt ist. Es wird auch für die Tribüne verwendet, auf der Herodes saß als er die Gesandten von Tyrus und Sidon empfing (Apg 12,21) und wird an dieser Stelle mit „Thron“ wiedergegeben. Der Begriff kann sowohl für den Stuhl verwendet werden, den ein Richter während eines Zivilprozesses einnimmt oder ein Beisitzer, der über Entschädigungszahlungen entscheidet, als auch für den Sitz eines Richters, der über einen Fall entscheidet, bei dem es um Leben und Tod geht. Genau um diese beiden unterschiedlichen Ereignisse geht es hier. Der Verlorene wird vor dem Gericht erscheinen und sich anhand der Dinge, die in den Büchern geschrieben stehen (Off 20,12), einer Befragung auf Leben und Tod stellen müssen. Wie könnte das auf Gläubige zutreffen? Kann der bußfertige Schächer aus dem Paradies weg zum Gericht über Leben oder Tod gebracht werden? Kann Paulus, nachdem er über 19 Jahrhunderte beim Herrn war, von Ihm vorgeladen werden, damit Er darüber entscheidet, ob er leben oder sterben soll? Unmöglich! Nein, das Erscheinen vor dem Richterstuhl ist im Fall der Gläubigen etwas anderes, es hat einen anderen Zweck und findet zu einer anderen Zeit statt, nämlich vor der Herrschaft Christi und nicht am Ende der Welt. Bei diesem Ereignis wird nicht darüber bestimmt, ob jemand errettet oder verloren ist, – eine Frage, die sich für jemanden, den Gott gerechtfertigt hat, niemals mehr stellen kann – sondern es geht um die Belohnung, die der Gläubige nach dem Maß seiner Treue erhält. Ob er „Gold, Silber, wertvolle Steine“ gebaut hat, die dem Feuer göttlicher Prüfung standhalten oder „Holz, Heu, Stroh“, das einen richterlichen Test nicht bestehen wird. Diese werden „wie durchs Feuer“ Gerettete sein. Bei der Zuteilung der Herrschaftsbereiche unter den „Miterben“ finden wir das Maß darin, dass sie Herrscher über zehn oder fünf Städte sein werden.

In Übereinstimmung mit dem, was bereits gesagt wurde, stellen wir wieder einmal die vollkommene göttliche Genauigkeit fest, in der sich Gott hier durch den Heiligen Geist ausdrückt. Es heißt, dass alle vor dem Richterstuhl (oder Thron) erscheinen müssen, damit ist gemeint, dass alle offenbar werden. Mit „alle“ sind tatsächlich alle gemeint, Gläubige und Ungläubige. Das Wort, das hier verwendet wird, hat daher etwa die Bedeutung von „stehen“ oder „offenbar werden“ und heißt nicht, dass sie „gerichtet“ werden. Wenn die Schrift jedoch von den ungläubigen Toten spricht, die vor dem großen weißen Thron erscheinen müssen, wird das Wort „gerichtet“ gebraucht. Dabei handelt es sich nicht um eine fantasievolle oder raffinierte Unterscheidung. Unser Herr selbst sagte, während Er noch auf der Erde war: „Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht“ (Joh 5,24). Fast unmittelbar danach spricht Er von zwei Auferstehungen, einer „Auferstehung des Lebens“ und einer „Auferstehung des Gerichts“ (Vers 29). Sicherlich zeigen zwei Schriftstellen, die derart eng nebeneinanderstehen, dass das Gericht, was die Frage der Errettung angeht, eine Sache ist, der der Gläubige bereits entkommen ist. Als Gerechtfertigter kann ein Gläubiger unmöglich gerichtet werden. Somit ist also die Tatsache, dass alle, die in der letzten Szene am Ende der Welt auferweckt werden, gerichtet werden, der schlüssige Beweis dafür, dass die Gläubigen in Christus nicht dabei sein werden. Wenn ihre Werke geprüft werden, so ist dies nicht, um Gericht zu üben, sondern damit sie offenbar werden und eine Belohnung nach dem Maß ihrer Treue hier auf der Erde erhalten.

5. Es ist möglich, dass einige in der Aussage „ich werde ihn auferwecken am letzten Tag“ (Joh 6,40.44.54) und dem Ausdruck „bei der letzten Posaune“ (1. Kor 15,52) ein Argument für eine allgemeine Auferstehung am Ende der Welt sehen. „Das Letzte“ ist jedoch nicht das allerletzte Ereignis in der Weltgeschichte, sondern nur das letzte Ereignis in dem Prozess, der an dieser Stelle gerade betrachtet wird. In Johannes 6 spricht der Herr Jesus von der Fürsorge für die Seinen, die Ihm der Vater gegeben hat und sagt, dass Er nichts verlieren wird, sondern es am letzten Tag auferwecken wird. Das Ihm übertragene Werk der Fürsorge wird dann zu Ende sein, die Aufgabe, die Ihm der Vater anvertraut hat, wird dann vollständig vollbracht sein, der letzte Tag in seiner verantwortlichen Stellung ist gekommen und der Gläubige, den Er in Fürsorge getragen hat, wird nun zur Vollkommenheit umgestaltet. So ist also die „letzte Posaune“ das letzte Ereignis dieser Art in der beschriebenen Szene. Dieses Kapitel hat, wie bereits erwähnt, nichts mit der Auferstehung der Verlorenen zu tun, sondern ist ganz einfach eine Schilderung dessen, was aus den Gläubigen werden wird. Für eine Zeit lang werden einige von ihnen im Grab sein, aber dieser Zustand endet, wenn sie „bei der letzten Posaune“ zu Leben und Herrlichkeit gerufen werden. Der verwendete Ausdruck ist in der oben erklärten Bedeutung in unserer Alltagssprache durchaus gebräuchlich: ein Anwalt meint mit dem letzten Tag z. B. den letzten Tag einer vereinbarten Frist, für einen Soldaten ist der letzte Trompetenschall der letzte Aufruf zu der Übung, die er gerade absolviert. Keiner versteht darunter den letzten Tag, der jemals heraufdämmern oder die letzte Posaune, die je erklingen wird.

Wir haben nun die Schriftstellen untersucht, die im Allgemeinen als Beweis für eine allgemeine Auferstehung und ein allgemeines Gericht am Ende der Welt zitiert werden und haben festgestellt, dass keine von ihnen dieses theologische Gedankengut stützt. Die meisten von ihnen haben überhaupt nichts mit einer Auferstehung zu tun. In keiner dieser Stellen finden wir Ereignisse beschrieben, die Gläubige am Ende der Welt erleben werden. Die Schrift dagegen spricht von zwei Auferstehungen. Eine wird stattfinden, wenn Christus für die Seinen kommt. Die Gläubigen, seien sie in der ersten oder dritten Nachtwache, werden aufgefordert zu wachen. Die zweite Auferstehung wird am Ende der Welt stattfinden. Bei der „ersten Auferstehung“ werden alle „die des Christus sind“, ob Lebende oder Tote, entrückt, um „allezeit bei dem Herrn (zu) sein“ (1. Thes 4,17). Sie werden mit Ihm kommen, wenn Er erscheint, um die Nationen mit eisernem Zepter zu zerschmettern und als seine Miterben werden sie „mit ihm herrschen 1000 Jahre“ (Off 20,6).

Nun kommt eine sehr wichtige Frage auf – eine Frage, auf die schon oft Bezug genommen wurde: Wie kann es sein, dass die Erfüllung einer Hoffnung, die die Gläubigen von Beginn an erwarten sollten, sich so lange hinzieht? Ist nicht eine Verheißung, die über so viele Generationen zurückgehalten wurde, entweder insgesamt eine Täuschung oder ihre Erfüllung in unserer Zeit zumindest so unwahrscheinlich, dass es töricht wäre, diese immer noch als gegenwärtige Hoffnung hochzuhalten? Es wurde bereits viel zu diesem Thema gesagt und soll hier nicht wiederholt werden. Ergänzend zu dem, was zuvor schon erwähnt wurde, würden wir jedoch auf diese Frage folgendes antworten:

  • Erstens: wenn uns das Wort Gottes das Kommen des Herrn als eine gegenwärtige Hoffnung vorstellt, haben wir nicht das Recht, seine Wahrhaftigkeit anzuzweifeln, da wir die Grundsätze seines Handels nicht verstehen können.
  • Zweitens: Diese Hoffnung wird den Herzen gegeben und nicht dem Verstand, und wenn ein Herz dem Herrn wirklich treu ist und sich nach seiner Wiederkehr sehnt, wird es diese wartende Haltung nicht wegen der Verzögerung, die zwischen ihm und dem Gegenstand seiner Sehnsucht ist, verlassen.
  • Drittens: Der Herr Jesus warnt seine Jünger ausdrücklich davor, dass sie in ihren Herzen sagen: „Mein Herr bleibt noch aus“ und während Er andeutet, dass einige Zeit vergehen mag, bevor die Stunde gekommen ist, sagt Er: „Glückselig jener Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, damit beschäftigt finden wird“ auf Ihn zu warten.
  • Viertens: der Heilige Geist kündigt Ihn an und warnt uns gleichzeitig ernstlich vor dem Geist der Spötter, der fragt: „Wo ist die Verheißung seiner Ankunft? Denn seitdem die Väter entschlafen sind, bleibt alles so von Anfang der Schöpfung an“. Er erinnert uns daran, dass das Wort, das der Mensch missachtete als es die Flut vorhersagte, von den viel schrecklicheren Gerichten sprach, die noch bevorstehen (2. Pet 3,4–7).
  • Fünftens: „Ein Tag bei dem Herrn ist wie tausend Jahre, und tausend Jahre wie ein Tag“, somit ist trotz der offensichtlich langen Zeitspanne folgendes wahr: „Der Herr zögert die Verheißung nicht hinaus, wie es einige für ein Hinauszögern halten, sondern er ist langmütig euch gegenüber, da er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen“ (Verse 8.9). Ist es nicht ein zutiefst ernster Gedanke, dass der Mensch, heute wie damals, den Reichtum göttlicher Güte, Geduld und Ausdauer verschmäht und die Gnade, in der Er handelt, zum Anlass nimmt, seine Verheißungen zu verspotten und seine Gebote zu missachten? Und damit nicht genug: Wie viele Kinder Gottes können wohl einen Blick auf ihr Herz werfen und sagen: in dieser Sache bin ich nicht schuldig geworden?
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