Das Kommen des Herrn, Israel und die Gemeinde

Verheißungen, die beim ersten Kommen Christi nicht erfüllt worden sind.

Nun stellt sich die Frage, wann und wie diese Verheißungen erfüllt werden. Der allgemeine Konsens ist, dass bis jetzt noch unerfüllte Verheißungen ihre Erfüllung in der Person und dem Werk Christi finden werden. Aber hier endet dann auch schon die Übereinstimmung. Die meisten Ausleger meinen, dass die Verheißung in Bezug auf das Land bereits erfüllt wurde und dass die anderen Verheißungen entweder schon in Erfüllung gegangen sind oder dass sie unmittelbar bzw. endgültig mit dem ersten Kommen Christi in Erfüllung gehen werden. Ich habe bereits gezeigt, dass die erste dieser Ansichten falsch ist. Nun werden wir untersuchen, ob für die letzte Annahme nicht etwas anderes gilt.

Die Auslegung, dass alle Verheißungen mit dem ersten Kommen des Herrn erfüllt werden, basiert auf zwei Annahmen:

  1. Dass die Kirche die Nachkommenschaft Abrahams ist, der diese Verheißungen gegeben wurden, und
  2. Dass die Universalherrschaft der Nachkommen Davids, der Segen für die Nationen und das Zertreten des Kopfes der Schlange in der Bekehrung der Welt zum Christentum ihre Erfüllung finden werden.

Bevor wir diese Thesen näher untersuchen, möchte ich eine Frage stellen: Könnte wohl irgendein aufmerksamer und geistlicher Jude aus der Zeit vor Christi Geburt beim Lesen in den Schriften der eigenen Propheten und im Vertrauen auf Gott geglaubt haben, dass Gottes Verheißungen sich nicht auf nationalen Segen und Wiederherstellung beziehen, sondern auf Segnungen anderer Art, die einem anderen Volk gegeben wurden, Segnungen, die mit der Zerstreuung beginnen und mit der vollständigen Absorption seines Volkes enden? Wenn nicht, würde ihn die oben angeführte Auslegung der Prophezeiungen nur in die falsche Richtung führen. Aber lasst uns die Dinge im Einzelnen betrachten.

3. Die erste Auslegung ist, dass die Kirche der Same Abrahams sei, dem diese Verheißung gegeben wurde. Dass Gläubige Kinder Abrahams sind, ist unstrittig. Die Frage ist, ob die Kirche sich anstelle von Israel setzt und die dem Stammvater gegebenen Verheißungen von Israel wegnimmt. In einer der Verheißungen Abrahams ist der erwähnte Same Christus selbst, in einer anderen ist die Nachkommenschaft eine unzählbare Menschenmenge. Diesem unzählbaren Samen wurde ein bestimmtes geographisches Gebiet als beständiges Besitztum und eine weltweite Vormachtstellung als Nation auf der Erde versprochen. Wie kann das als Teil der Kirche ausgelegt werden? Da Israel diese Verheißung noch nicht empfangen hat und sie auch nicht das Teil der Kirche ist, muss sie ihre Erfüllung außerhalb der Kirche empfangen. Mit anderen Worten: Die Kirche setzt Israel nicht beiseite oder beansprucht die Verheißung nationalen Segens und Ruhms für sich. Diese Tatsache reicht für unseren Zweck der Betrachtung schon aus. Da die Kirche nicht alle unerfüllten Verheißungen empfängt, ist die allgemeine Auslegung fehlerhaft. Manche haben jedoch ihre Schwierigkeiten mit diesem Thema und deshalb ist es vielleicht ganz gut, wenn wir uns einmal die Schriftstellen ansehen, auf die sich diese Auslegung gründet. In Römer 4, 11–17 heißt es von Abraham: „Er empfing das Zeichen der Beschneidung als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, den er hatte, als er in der Vorhaut war, damit er Vater aller wäre, die in der Vorhaut glauben, damit auch ihnen die Gerechtigkeit zugerechnet werde; und Vater der Beschneidung, nicht allein für die aus der Beschneidung, sondern auch für die, die in den Fußstapfen des Glaubens wandeln, den unser Vater Abraham hatte, als er in der Vorhaut war. Denn nicht durch Gesetz wurde dem Abraham oder seiner Nachkommenschaft die Verheißung zuteil, dass er der Welt Erbe sein sollte, sondern durch Glaubensgerechtigkeit. Denn wenn die vom Gesetz Erben sind, so ist der Glaube zunichtegemacht und die Verheißung aufgehoben. Denn das Gesetz bewirkt Zorn; wo aber kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung. Darum ist es aus Glauben, damit es nach Gnade sei, damit die Verheißung der ganzen Nachkommenschaft fest sei, nicht allein der vom Gesetz, sondern auch der vom Glauben Abrahams, der unser aller Vater ist (wie geschrieben steht: „Ich habe dich zum Vater vieler Nationen gesetzt“) vor dem Gott, dem er glaubte, der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ruft, wie wenn es da wäre“.

Bei der Verheißung hier handelt es sich allerdings nicht um die Verheißung des Landes. Es ist eine Zusammenfassung der Verheißungen Gottes, in der Er seine Absicht verkündet, Abraham zur Wurzel des Segens zu machen. Gläubige sind somit also moralisch Söhne Abrahams, dem Vater aller Glaubenden. Das ist alles, was dieser Abschnitt über Beziehung sagt. Sie werden als Miterben Christi die Welt erben. Die Abraham gegebenen Verheißungen werden von Gott in seiner Gnade variiert und erweitert, um sie darin einzubeziehen. Die spezielle Verheißung für die Nachkommen Abrahams wird nicht auf die Kirche übertragen. Dazu ist sie auch vollkommen ungeeignet. Die tatsächlichen Nachkommen Abrahams sind weit davon entfernt durch die geistlichen Nachkommen beiseite gesetzt zu werden, daher wird ausdrücklich erwähnt, dass die Verheißung sowohl der Nachkommenschaft „vom Gesetz“ als auch der „vom Glauben Abrahams“ gilt.

In Galater 3,7 wird uns gesagt: „Die aus Glauben sind, diese sind Abrahams Söhne“. In Vers 27–29 lesen wir: „Denn so viele ihr auf Christus getauft worden seid, ihr habt Christus angezogen. Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus. Wenn ihr aber Christi seid, so seid ihr denn Abrahams Nachkommen und nach Verheißung Erben“. Hier ist die Verheißung der Segen aller Nationen in dem Samen, das ist in Christus. Nach dieser Verheißung sind Gläubige Erben als mit Christus eins gemacht. In dem Kapitel wird die Verheißung gegenüber der unzählbaren Nachkommenschaft nicht erwähnt, noch weniger sehen wir, dass die Kirche diese Verheißung Israel wegnimmt.

Es steht aber auch geschrieben: „Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, noch ist die äußerliche Beschneidung im Fleisch Beschneidung; sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und Beschneidung ist die des Herzens, im Geist, nicht im Buchstaben; dessen Lob nicht von Menschen, sondern von Gott ist“ (Röm 2,28.29), und „ wir sind die Beschneidung, die wir durch den Geist Gottes dienen“ (Phil 3,3), sowie „und so viele nach dieser Richtschnur wandeln werden – Friede über sie und Barmherzigkeit, und über den Israel Gottes!“ (Gal 6,16). Man könnte sich fragen, ob diese Verse nicht zeigen, dass Christen nun das wahre Israel und die wahre Beschneidung geworden sind. Der erste Abschnitt spricht jedoch überhaupt nicht von Christen, sondern über die Nationen, die das Gesetz erfüllt haben im Gegensatz zu den Juden, die es gebrochen haben. Die zweite Stelle warnt Gläubige ganz einfach davor, wieder zu Symbolen zurückzukehren, da sie das besitzen, wofür diese Symbole nur ein Sinnbild waren. In der dritten Stelle wird der Ausdruck „Israel Gottes“ bildhaft für solche gebraucht, die vorläufig Israels Platz als besonderen Gegenstand der Zuneigung Gottes eingenommen haben, wenn er sich auch nicht beschränkt auf diesen „Überrest nach Auswahl der Gnade“ – dem kleinen Teil des Volkes, der an Jesus glaubt, während „die Übrigen ... aber verhärtet worden“ sind (Röm 11,5–7).

Das kollektive Zeugnis dieser Abschnitte ist demnach, dass Gläubige geistlich gesehen Kinder Abrahams sind, dass sie in Christus Erben der Verheißungen sind, dass sie das haben, was die Beschneidung nach außen hin ausdrücken sollte und dass sie den bevorzugten Platz in Gottes derzeitigem Handeln einnehmen, den zuvor Israel innehatte. Dass jedoch die speziellen Verheißungen für Israel der Kirche übertragen werden, ist eine Auffassung, die keine dieser Stellen auch nur andeutungsweise stützt und die an einer Stelle sogar ausdrücklich abgelehnt wird, indem es dort heißt, dass die Verheißung den Nachkommen „vom Gesetz“ vorbehalten ist. Auch der Apostel Paulus schreibt, während er die Ratschlüsse Gottes in Bezug darauf, dass Israel für eine Zeit beiseitegesetzt wird, vollständig enthüllt, dass den Israeliten immer noch „die Sohnschaft ist und die Herrlichkeit und die Bündnisse und die Gesetzgebung und der Dienst und die Verheißungen“ (Röm 9,4). Auf den positiven Aspekt dieser Frage werde ich später näher eingehen. Diesen Vers zitiere ich nur als direktes Gegenargument zu den häufig vorschnell gezogenen Rückschlüssen zu den oben zitierten Passagen.

4. Die zweite Auslegung besagt, dass die Universalherrschaft der Nachkommen Davids, der allumfassende Segen der Nationen und das Zertreten des Kopfes der Schlange eine Folge der Hinwendung der Welt zum Christentum sei. Sicherlich wird niemand leugnen, dass das Christentum für die Nationen ein unermesslicher Segen ist. Das Teil des Gläubigen ist so großartig, dass wir, wenn wir unseren eigenen Gedanken überlassen wären, wohl annehmen könnten, dass diese Segnungen Gottes Absichten der Gnade vollständig erfüllten. Die Schrift lehrt uns jedoch etwas anderes. In Bezug auf Israel und ihre momentane Ablehnung, sagt sie: „Wenn aber ihr Fall der Reichtum der Welt ist und ihr Verlust der Reichtum der Nationen, wie viel mehr ihre Vollzahl!“ (Röm 11,12). Das volle Maß des Segens für die Welt wird demnach nur durch die „Vollzahl“ Israels erreicht. Man könnte sich fragen, ob damit nicht die Umkehr der Juden zum Christentum gemeint ist. Das Wort Gottes sagt nichts dergleichen und die gesamte Erörterung in dem Kapitel führt zu einer gegenteiligen Schlussfolgerung:

  1. Denn zuerst heißt es: „Hinsichtlich des Evangeliums sind sie zwar Feinde, um euretwillen, hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte, um der Väter willen“ (Vers 28). Wenn sie nun auf die gleiche Weise den gleichen Segen empfangen wie die Nationen, wo ist dann der Unterschied? In diesem Fall: Welchen Segen erhalten die Nationen durch die Juden, die Feinde des Evangeliums sind? Oder: Wo ist die Auserwählung „um der Väter willen“, wenn die Juden nur das gleiche Teil empfangen wie die, die nicht von den Vätern abstammen?
  2. Die Nationen werden davor gewarnt, ausgeschnitten zu werden. Diese Warnung wird zur ernsten Gewissheit, wenn wir sehen, dass die Dauer der Zuwendung von ihrer Treue abhängt, worin sie vollkommen versagten, denn die Verheißung Gottes lautete: „Wenn du an der Güte bleibst; sonst wirst auch du ausgeschnitten werden“ (Röm 11,22).
  3. Der Ausschluss Israels „bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist“ (Röm 11,25) zeigt, dass die Zeit des Segens für die Nationen enden wird und dass die Juden nicht zeitgleich mit den Nationen gesegnet werden. Mit anderen Worten: die Segnungen sind ihrem Charakter nach verschieden.
  4. Die gesamte Argumentation des Kapitels deutet auf das Ende der Segenszeit für die Nationen und die Erneuerung des jüdischen Segens hin. Dies bezeichnet einen einschneidenden Wechsel in der göttlichen Haushaltung, der durch den aus Zion kommenden „Erretter“ gekennzeichnet wird und der die „Gottlosigkeiten von Jakob abwenden“ wird (Röm 11,26), eine Beschreibung, die vollkommen unverständlich wäre, wenn sie sich auf die Umkehr Israels zum Christentum bezöge. Somit wird also die Herrschaft der Nachkommenschaft Davids und die Segnung der Nationen nicht, wie die oben genannte Auslegung es fordert, durch die Christianisierung der Welt hervorgebracht, sondern beginnt im weitesten Sinn erst nach der Zeit des Christentums, nachdem Israel wiederhergestellt wurde.

Aber noch einmal die Frage: Wenn diese Art der Auslegung korrekt ist und alle alttestamentlichen Verheißungen und Prophezeiungen ihre Erfüllung in dem Christentum fänden, warum sagt das Neue Testament nichts darüber? Warum haben die Schreiber, die der Heilige Geist inspiriert hat, die Wahrheit über das Christentum darzulegen, kaum einen Bezug darauf genommen? Die Prophezeiungen Jesajas sind voll mit wunderbaren Vorhersagen: Der Berg des Hauses des Herrn wird über die Hügel erhaben sein, sie werden Schwerter zu Pflugscharen schmieden und die Erde wird voll Erkenntnis des Herrn sein, wie die Wasser den Meeresgrund bedecken (Jes 2,2.4; Jes 11,9). Viele Geistliche sprechen immer wieder von diesen Prophezeiungen als Verheißungen, die ihre Erfüllung in dem Triumph des Evangeliums haben. Hat Jesus das in seinen Predigten getan? Oder Paulus? Warum nicht? Standen diese wunderbaren prophetischen Aussagen Paulus weniger deutlich vor Augen als den Geistlichen heute? Warum unterscheiden sie sich so in ihren Erklärungen? Sein Schweigen über dieses herrliche Thema wäre unerklärlich, es sei denn, er wurde vom Heiligen Geist unterwiesen, dass die alttestamentlichen Prophezeiungen nicht durch das Christentum erfüllt werden, sondern auf ganz andere Art.

Es ist jedoch nicht nur das Schweigen der Schrift, wie vielsagend dies auch sein mag, das mit dieser Auslegung nicht übereinstimmt. Das Neue Testament liefert den stärksten Beweis dafür, dass das Christentum, anstatt sich auf der Erde auszubreiten und die letzte Periode des Segens, die in den alttestamentlichen Prophezeiungen vorhergesagt wird, einzuläuten, leider einen anderen Verlauf nimmt. Wir haben bereits einen Blick auf den Abschnitt geworfen, in dem den Nationen gesagt wird, dass Gottes Güte sich auf sie ausdehnen wird: „Wenn du an der Güte bleibst; sonst wirst auch du ausgeschnitten werden“ (Röm 11,22). Die Nationen werden also als Ganzes in die gleiche Stellung der Verantwortung und Erprobung gebracht, wie die Juden zuvor. Wer würde wohl behaupten wollen, dass die Nationen zuverlässiger als die Juden mit dem ihnen anvertrauten Gut umgegangen wären? Oder gibt es einen, der sagen würde, dass sie als Gesamtheit in Gottes Güte geblieben sind? Wenn nicht, müssen sie ausgeschnitten werden. Und wenn Gott sie in Sicherheit setzen wollte, wie Er es Israel gegenüber versprochen hat, hätte Er dann jemals davon gesprochen, sie auszuschneiden? Dieser Abschnitt sagt also nicht die weltweite Ausbreitung des Christentums vorher, sondern deutet dessen Ende an und dass Gottes Segensabsichten für die Erde auf andere Art und Weise erfüllt werden.

Wir haben jedoch andere Hinweise auf die Zukunft des Christentums als bekennendes System in der Welt. Paulus warnt die Ältesten in Ephesus: „Ich weiß, dass nach meinem Abschied reißende Wölfe zu euch hereinkommen werden, die die Herde nicht verschonen. Und aus euch selbst werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her“ (Apg 20,29.30). Hier haben wir die Saat, lasst uns nach den Pflanzen schauen. „Der Geist aber sagt ausdrücklich, dass in späteren Zeiten einige von dem Glauben abfallen werden, indem sie achten auf betrügerische Geister und Lehren von Dämonen“ (1. Tim 4,1). Die „späteren Zeiten“ der Christenheit entsprechen also der Vorhersage des Apostels. Und so schildert der Prophet Israels die „späteren Zeiten“: „Danach werden die Kinder Israel umkehren und den Herrn, ihren Gott, und David, ihren König, suchen; und sie werden sich zitternd zu dem Herrn und zu seiner Güte wenden am Ende der Tage“ (Hos 3,5). Sprechen der Apostel und der Prophet von der gleichen Sache? Unmöglich! Wenn dem nicht so ist, haben die alttestamentlichen Prophezeiungen ihre Erfüllung nicht in der Kirche und dem Christentum.

Dies sind übrigens nur die „späteren Zeiten“. Gibt uns der Geist denn irgendein deutlicheres Bild der „letzten Tage“? Die Worte Paulus‘ dazu sind: „Dies aber wisse, dass in den letzten Tagen schwere Zeiten eintreten werden; denn die Menschen werden selbstsüchtig sein, geldliebend, prahlerisch, hochmütig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, unheilig, ohne natürliche Liebe, unversöhnlich, Verleumder, unenthaltsam, grausam, das Gute nicht liebend, Verräter, verwegen, aufgeblasen, mehr das Vergnügen liebend als Gott, die eine Form der Gottseligkeit haben, deren Kraft aber verleugnen; und von diesen wende dich weg“ (2. Tim 3,1–5). Auch Petrus spricht von falschen Lehrern: „die Verderben bringende Sekten nebeneinführen werden und den Gebieter verleugnen, der sie erkauft hat“ und „durch Habsucht werden sie euch ausbeuten mit erdichteten Worten“ (2. Pet 2,1–3). Folgt diesem eine Besserung? Im Gegenteil: „Indem ihr zuerst dieses wisst, dass in den letzten Tagen Spötter mit Spötterei kommen werden, die nach ihren eigenen Begierden wandeln und sagen: Wo ist die Verheißung seiner Ankunft?“ (2. Pet 3,3.4). Judas warnt die Gläubigen: „Erinnert euch an die von den Aposteln unseres Herrn Jesus Christus zuvor gesprochenen Worte, dass sie euch sagten, dass am Ende der Zeit Spötter sein werden, die nach ihren eigenen Begierden der Gottlosigkeit wandeln. Diese sind es, die sich absondern, natürliche Menschen, die den Geist nicht haben“ (Jud Verse 17–19). Und Johannes schreibt: „Kinder, es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört habt, dass der Antichrist kommt, so sind auch jetzt viele Antichristen geworden; daher wissen wir, dass es die letzte Stunde ist“ (1. Joh 2,18). Wir sehen, dass die Erscheinung von Antichristen ein Kennzeichen der „letzten Tage“ ist, ein Zustand, der im Prinzip mit dem frühen Verfall schon begonnen hatte.

Im Kontrast dazu gibt uns der Prophet Jesaja folgende Beschreibung der „letzten Tage“: „Und es wird geschehen am Ende der Tage, da wird der Berg des Hauses des Herrn feststehen auf dem Gipfel der Berge und erhaben sein über die Hügel. Und alle Nationen werden zu ihm strömen; und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt und lasst uns hinaufziehen zum Berg des Herrn, zum Haus des Gottes Jakobs! Und er wird uns belehren aus seinen Wegen, und wir wollen wandeln auf seinen Pfaden. Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen, und das Wort des Herrn von Jerusalem; und er wird richten zwischen den Nationen und Recht sprechen vielen Völkern. Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern; nicht wird Nation gegen Nation das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen“ (Jes 2,2–4). Kann es einen größeren Gegensatz geben? Gemäß der Auslegung, die wir untersuchen, spräche Jesaja von der gleichen Sache und beschriebe die gleiche geschichtliche Epoche wie Paulus und Johannes.

Hat nicht Jesus selbst in den Gleichnissen vom Senfkorn und dem Sauerteig die Umkehr der Welt vorhergesagt? Jeder weiß, dass die Gleichnisse ständig so ausgelegt werden. Aber ist diese Interpretation auch richtig? Die Gleichnisse sind Teil einer Dreiergruppe, in der Jesus seinen Jüngern offenbart, wem gegeben ist „die Geheimnisse des Reiches der Himmel zu erkennen“, die geheimnisvolle Form, in der es errichtet werden sollte. Das erste Gleichnis zeigt, dass in diesem Reich Weizen und Unkraut nebeneinander wachsen bis zur „Vollendung des Zeitalters“. Jesus spricht also nicht von wahren Gläubigen, sondern meint hier die Christenheit. In dieser gibt es keinen weltumfassenden Triumph des Evangeliums, sondern Weizen und Unkraut wachsen nebeneinander bis zum Ende. Es ist nun unmöglich, dass die beiden folgenden Gleichnisse, diesem widersprechen. Was ist denn nun ihre wahre Bedeutung? Das erste vergleicht das Reich der Himmel, diese Mischung aus Weizen und Unkraut – mit einem Senfkorn „das zwar kleiner ist als alle Samenkörner, aber wenn es gewachsen ist, ist es größer als die Kräuter und wird ein Baum, so dass die Vögel des Himmels kommen und sich niederlassen in seinen Zweigen“ (Mt 13,32). Wo ist hier von einer Umkehr der Welt die Rede? Das Gleichnis zeigt lediglich, dass das Reich der Himmel oder die Christenheit, von etwas ganz Kleinem zu einem Baum, einem Symbol für irdische Macht, heranwächst, in dem die Vögel des Himmels – reine und unreine Dinge – ihre Behausung haben.

Das andere Gleichnis vergleicht das Reich mit dem „Sauerteig, den eine Frau nahm und unter drei Maß Mehl mengte, bis es ganz durchsäuert war“ (Mt 13,33). Gemäß der allgemeinen Auslegung sei das Mehl die Welt, der Sauerteig das Evangelium und die Durchsäuerung des Teigs die universelle Ausbreitung des Christentums. In der Schrift ist das Mehl immer ein Symbol des Guten, die vorhin zitierte Auslegung macht es an dieser Stelle jedoch zu etwas Schlechtem. Der Sauerteig, der in der biblischen Symbolik stets ein Bild für das Böse ist, stellt in dieser Auslegung das Gute dar. Die Durchsäuerung des Mehls, in der Schrift immer gleichbedeutend mit der Verunreinigung von etwas Reinem, soll in dieser Auslegung die Reinigung von etwas Verdorbenem bedeuten. Dem Zusammenhang der Schrift nach wird das Reich der Himmel durch das Werk Satans verdorben und dieser verdorbene Zustand wird bis zum Ende andauern. Nach der allgemein üblichen Auslegung würde Satans Werk gänzlich zunichte gemacht, und der von ihm verursachte Schaden würde nicht bis zum Ende anhalten. Schließlich wird die gewöhnliche Auslegung dieses Gleichnisses in keiner Weise durch Tatsachen gestützt, während das Gleichnis bei schriftgemäßer Auslegung des unmittelbaren Textzusammenhangs in trauriger Übereinstimmung mit der Geschichte der Christenheit zu allen Zeiten ist.

Es gibt nur noch einen weiteren Punkt, den ich kurz erwähnen muss. Wir haben gesehen, dass die in der Schrift vorgestellte Hoffnung der Gläubigen das Kommen Christi zur Entrückung der Kirche ist. Die Unvereinbarkeit einer solchen gegenwärtigen Hoffnung zu der angenommenen Umkehr der Welt zum Christentum muss ich wohl kaum erklären. Ich beziehe mich an dieser Stelle nur darauf, um zu zeigen, wie vollkommen harmonisch und übereinstimmend das Wort Gottes in sich selbst ist und in welch absoluten Gegensatz dazu die theologischen Lehrmeinungen und traditionellen Auslegungen stehen, die durch das verdorbene Christentum hervorgebracht wurden. Das Geheimnis göttlichen Wirkens missachtend, ist das Christentum in seinen Augen weise geworden. Statt Ehrfurcht finden wir Hochmut, es rühmt sich gegen die Zweige und lacht verächtlich über die ernste Warnung: „Wenn Gott die natürlichen Zweige nicht verschont hat – dass er auch dich etwa nicht verschonen werde“ (Röm 11,20–25). Und was ist das Ergebnis? Anstatt sich seiner eigenen himmlischen Segnungen zu freuen, hat es sich die jüdischen irdischen Segnungen angeeignet. Es hat die prophetischen Ströme in kirchliche Kanäle umgeleitet, durch die sie niemals fließen sollten und, gestärkt durch Vorhersagen, die nicht für das Christentum bestimmt waren, hat es vergessen, dass es ausgeschnitten werden wird, wenn es nicht in Gottes Güte bleibt. Das Judentum, wie es sich, selbstsicher aufgrund seiner Verheißungen, blind gegenüber den Zeichen der Zeit, voll Überheblichkeit auf seine unvorhergesehene Zerstörung zubewegte, war ein Anblick, der unseren Herrn innerlich bewegte und zu Tränen rührte. Was sind wohl seine Gedanken, wenn Er sich die Christenheit anschaut: genauso selbstsicher, genauso blind, sich prahlerisch in falscher Sicherheit wähnend, das schreckliche Gericht, dem es unbekümmert entgegeneilt, missachtend?

Lasst uns nun einen Moment zurückblicken auf das, was die Schrift in Bezug auf die Frage, ob die alttestamentlichen Prophezeiungen in der Christenheit erfüllt wurden, sagt. Wir haben gesehen, dass, obwohl Gläubige durch Gottes Gnade in den Kreis der Nachkommenschaft Abrahams gebracht worden und somit Teilhaber seiner Verheißungen sind, es noch eine andere Gruppe gibt: die natürliche Nachkommenschaft, von der gesagt wird, dass ihr diese Verheißungen immer noch gehören und dass die Nationen ihren vollen Segen nicht erst empfangen werden, wenn diese Gruppe – Israeliten der Herkunft nach – ihr Teil erhalten. Wir haben außerdem verstanden, dass es keinen Grund zur Annahme gibt, dass die Welt durch die Verkündigung des Evangeliums umkehren wird, sondern, dass es den stärksten Beweis für das Gegenteil gibt und dass die Hoffnung des Kommens des Herrn im Widerspruch zu dieser traditionellen Erwartung steht. Wir müssen daher immer genau prüfen, welche Informationen uns die Schrift darüber gibt, wie diese mächtigen Verheißungen irdischen Segens erfüllt werden.

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