Das Kommen des Herrn, Israel und die Gemeinde

Gottes Verheißungen in Bezug auf die Erde

Im ersten Teil haben wir zwei Arten von Hoffnung gesehen, die die Schrift uns vorstellt: die Hoffnung des Gläubigen, die Erlösung des Leibes und die Hoffnung der Schöpfung, die Befreiung von der „Knechtschaft des Verderbens zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21). Letzteres ist der große Gegenstand der alttestamentlichen Propheten und wird stattfinden, wenn Jesus mit den Seinen wiederkommt, um die Bösen zu richten und seinen Thron in Gerechtigkeit zu errichten.

Warum diese unterschiedlichen Handlungsweisen? Warum diese lange Verschleierung der himmlischen Hoffnung und dann, nach ihrer Erfüllung, eine Rückkehr zur irdischen Hoffnung, die schon lange zuvor angekündigt und so lange verzögert wurde? Diese Frage ist überaus interessant, und wie auch alle anderen Gegenstände, in denen die Ratschlüsse und Absichten Gottes gezeigt werden, wird, wenn sie richtig verstanden werden, immer der Reichtum seiner Herrlichkeit und die Tiefe seiner Weisheit hervorstrahlen. Die ganze Schrift ist die Geschichte zweier Menschen, die so beschrieben werden: „Der erste Mensch ist von der Erde, von Staub; der zweite Mensch vom Himmel“ (1. Kor 15,47). Das Neue Testament zeigt uns den himmlischen Charakter und das himmlische Werk des zweiten Menschen. Das Alte Testament behandelt die Beziehungen dieser beiden Menschen mit der Erde. Es berichtet die Geschichte des ersten Menschen, der in Unschuld geschaffen wurde, unter die Macht der Sünde kam, seine zunehmende Verderbtheit und immer größere Entfremdung von Gott. Es sagt den Triumph des zweiten Menschen voraus, der den Verfall, den der erste Mensch verursacht hat, gut gemacht hat und Gott auf dem Schauplatz der Sünde verherrlicht hat. Der Eintritt der Sünde in die Welt und der Verfall der ersten Schöpfung gab Gott die Gelegenheit (wenn man das so ausdrücken darf), den zweiten Menschen hervorzubringen, in dem alle wunderbaren Eigenschaften seines Wesens offenbart sind und der ganze Reichtum seiner Liebe sichtbar wird. In jeder Stellung, in die Gott den ersten Menschen gestellt hat, werden wir seinen Charakter und das Ausmaß seines Verfalls beobachten und dann sehen wir, wie der zweite Mensch die zerrissene Schnur wieder aufnimmt und die göttlichen Absichten zur vollkommenen Vollendung bringt.

Das wird sehr deutlich, wenn wir uns die verschiedenen Segensverheißungen für den Menschen auf der Erde einmal anschauen. Ich werde zeigen, dass bislang keine dieser Verheißungen vollkommen in Erfüllung gegangen ist (einige noch nicht einmal teilweise) und dass, gemäß neutestamentlicher Prophezeiungen, auf die wir bereits einen Blick geworfen haben, alle auf ihre vollkommene Erfüllung in der „Offenbarung“ des zweiten Menschen, des Herrn aus dem Himmel, warten. Die Verheißungen können auf unterschiedliche Art und Weise klassifiziert werden, für unseren aktuellen Gegenstand reicht es jedoch aus, die folgenden Hauptmerkmale hervorzustellen:

  1. Der Nachkomme der Frau wird den Kopf der Schlange zermalmen (1. Mo 3,15).
  2. Durch Abrahams Nachkommen werden alle Völker der Erde gesegnet werden (1. Mo 12,3; 18,18).
  3. Abrahams Nachkommen sollten das Land Kanaan besitzen und allen anderen Völkern vorstehen (1. Mo 17,8).
  4. Davids Nachkommen sollten über die Erde regieren und sein Königreich sollte kein Ende haben (Jes 9,6).

1. Der Mensch wurde als unschuldiges Geschöpf geschaffen. Sein Zustand der Unschuld war geprägt von Abhängigkeit von Gott, Unterordnung unter Gott und Gemeinschaft mit Gott. Es gab weder Krankheit noch Tod und der Mensch hatte die Herrschaft über eine Schöpfung, die Gott gesegnet hatte und von der Er gesagt hatte, sie sei sehr gut. Aber durch Satan, der den Eigenwillen und Unglauben des Menschen hervorbrachte, kam die Sünde in die Welt und zerstörte alles. Der Mensch verlor sein Gefühl der Abhängigkeit von Gott, sein Herz wurde böse und fiel in Unglauben. Er tauschte die Unterordnung unter Gott in Unterwerfung unter Satan, Gemeinschaft mit Gott gegen Entfremdung und den Wunsch, sich vor Ihm zu verstecken. Er wurde Opfer von Krankheit und Tod. Die physikalische Welt, in ihren Grundfesten, wurde um seinetwillen verflucht, so dass von diesem Moment an „die ganze Schöpfung mitseufzt und mit in Geburtswehen liegt bis jetzt“ (Röm 8,22). Während der erste Mensch somit also verdorben ist, spricht Gott von einem, der der „Same der Frau“ genannt wird und dem die erste aller Verheißungen gegeben wird. Adam wurde von Satan überwunden, der Same der Frau jedoch sollte den Sieger bezwingen. Obwohl Er selbst in dieser Auseinandersetzung verwundet werden würde, würde Er doch den Kopf des Zerstörers zermalmen (1. Mo 3,15).

Zwei Dinge sind hier bemerkenswert. Erstens, in dem Fluch über Adam wird nichts gesagt, was über den Tod hinausgeht. Gottes Segnung des Menschen bestand darin, ihn als Herrscher über die Erde einzusetzen und der Fluch hebt daher nur die irdische Segnung auf. Das ist ein wichtiger Aspekt, um den Bereich alttestamentlicher Wahrheiten festzulegen. Aus dem Neuen Testament wissen wir, dass nach dem Tod das Gericht kommt und auch, dass die Patriarchen „nach einem besseren, das ist himmlischen“ Vaterland trachteten (Heb 11,16). Über diese Themen schweigt das Alte Testament jedoch. Es ist also eindeutig, dass das Alte Testament nur Gottes Absichten mit der Erde behandelt. Die Tatsache, dass wir darin nichts finden, was über den Tod hinausgeht, bedeutet nicht, dass es davon keine Kenntnis gab, sondern heißt lediglich, dass diese Wahrheiten außerhalb des Betrachtungsspektrums liegen und in diesem Teil des Wortes Gottes nicht behandelt werden. Das zweite, was wir beobachten müssen, ist, dass es für den ersten Adam keine Verheißung einer Aufhebung oder Abmilderung des Fluches gibt, keinen Hinweis auf einen moralischen oder geistlichen Fortschritt. Es gibt zwar eine Verheißung, diese gründet sich jedoch auf jemand anderen: den Samen der Frau. Der erste Mensch wird aus dem Garten vertrieben, der Zugang zum Baum des Lebens wird ihm verwehrt und er wird hilflos dem Zugriff seines Überlisters überlassen. Krankheit und Tod, eine seufzende Schöpfung und moralische Entfremdung von Gott, die Zeichen seiner Knechtschaft und Beweise seines Falls bestehen heute noch. Dem zweiten Menschen wird jedoch der vollständige Triumph verheißen. Durch Ihn allein kann der Feind Gottes und Verderber der Menschen aus seinem Herrschaftsbereich vertrieben und zu Staub zertreten werden.

Aus diesen beiden Urquellen – dem gefallenen Adam und dem Samen der Frau – fließen zwei Ströme. Der eine dunkel wie der Tod, der andere reichlich gefüllt mit Verheißungen des Segens, immer breiter und tiefer werdend bis zur vollen Fülle der Herrlichkeit. Die Geschichte des gefallenen Menschen, der erste Strom, nimmt in ihrem Lauf immer düsterere Züge an und gipfelt schließlich in der Verwerfung Christi und der Annahme des Antichristen. Die Enthüllung der Absichten Gottes in seinem Sohn, dem zweiten Strom, wird ebenfalls kontinuierlich fortgeführt und die zunehmende Aufhäufung von Schuld der Menschen fügt zu ihrem Maß nur noch hinzu und stellt die Herrlichkeit Gottes und seines Auserwählten nur noch schöner und strahlender dar. Der Mensch, wenn er auf sich selbst gestellt ist, entwickelt sich von schlecht zu schlimmer. Wissenschaft und Kunst blühen auf, Städte werden gebaut, Wohlstand angehäuft, aber die Erde war verdorben und voller Gewalt, so dass Gott sagte: „Ich will den Menschen, den ich geschaffen habe, von der Fläche des Erdbodens vertilgen“ (1. Mo 6,7). Die Flut kam und vernichtete „die damalige Welt“ und Noah betrat eine gesäuberte, reine Erde. Diese Erde segnete Gott, da Er einen lieblichen Geruch wahrnahm, der dem Wohlgeruch Christi glich. Der Charakter des Menschen blieb jedoch unverändert. „Und der Herr roch den lieblichen Geruch, und der Herr sprach in seinem Herzen: Nicht mehr will ich fortan den Erdboden verfluchen um des Menschen willen; denn das Sinnen des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an; und nicht mehr will ich fortan alles Lebende schlagen, wie ich getan habe. Fortan, alle Tage der Erde, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (1. Mo 8,21.22).

Neben der Aufhebung des Fluches vom Erdboden, hat Gott dem Menschen das Schwert der Regierung anvertraut, indem Er anordnete: „Wer Menschenblut vergießt, durch den Menschen soll sein Blut vergossen werden“ (1. Mo 9,6). Der Mensch wird also auf eine erneuerte Erde gesetzt mit gesellschaftlichen Einrichtungen, die Gott direkt angeordnet hatte. All das ist jedoch ohne Nutzen. Noah ist nicht nur weit davon entfernt, sich als fähig zu erweisen, die Erde zu regieren, er kann noch nicht einmal sich selbst beherrschen. Der Mensch missbraucht die Regierungsgewalt zu gottloser Selbsterhöhung und wird schließlich in Babel in Verwirrung gebracht. In der Zeit vor Abraham fand keine Anbetung Gottes mehr statt, da man stattdessen Dämonen anbetete. „Und Josua sprach zum ganzen Volk: So spricht der Herr, der Gott Israels: Eure Väter wohnten vor alters jenseits des Stromes (dem Fluss Euphrat), Tarah, der Vater Abrahams und der Vater Nahors, und sie dienten anderen Göttern“ (Jos 24,2). Dass diese Götter Dämonen waren, lesen wir an anderer Stelle. „Sie opferten den Dämonen, die nicht Gott sind“ und „und sie opferten ihre Söhne und ihre Töchter den Dämonen“ (Ps 106,37). Auch der Apostel Paulus schreibt: „... sondern dass das, was [die Nationen] opfern, sie den Dämonen opfern und nicht Gott“ (1. Kor 10,20).

2. Die zunehmende Verderbtheit des Menschen dient nur dazu, die grenzenlosen Quellen Gottes noch deutlicher aufzuzeigen. Er ruft Abraham mitten aus dem Götzendienst, führt ihn in ein fremdes Land und gibt ihm und seinen Nachkommen zwei eng miteinander verbundene und dennoch unterschiedliche Verheißungen. Eine dieser beiden Verheißungen, die oft wiederholt und auf unterschiedliche Weise wiedergegeben wird, ist die zuerst angekündigte: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde“ (1. Mo 12,3). In dieser Form wird sie auch Isaak gegenüber erneuert (1. Mo 26,4). Jakob wird gesagt: „In dir und in deinen Nachkommen sollen gesegnet werden alle Familien der Erde“ (1. Mo 28,14). Obwohl es heißt, dass die Verheißung in Abraham sein wird, wird an dieser Stelle deutlich, dass der Same und nicht Abraham der Gegenstand der Gedanken Gottes ist. Abraham war die Wurzel des Segens, indem er der Vater des verheißenen Samens ist. Das geht aus dem Bezug auf diese Verheißung im neuen Testament hervor. Paulus schreibt: „Abraham aber waren die Verheißungen zugesagt und seinem Nachkommen. Er sagt nicht: ‚und den Nachkommen‘, als von vielen, sondern als von einem: ‚und deinem Nachkommen‘, welcher Christus ist“ (Gal 3,16). Das bezieht sich auf die Gesamtheit der Verheißungen, auch solche, in denen der Same nicht erwähnt wird (Vers 8). Somit ist also der Same, von dem an diesen Stellen die Rede ist, nicht das Volk Israel, sondern Christus. Auch hier gilt die Verheißung nicht dem ersten Menschen, sondern dem zweiten, dem Samen der Frau, der, gemäß der ersten Verheißung, der Schlange den Kopf zermalmen wird.

3. Abraham wurde jedoch noch eine andere Verheißung gegeben: „Und ich will dich zu einer großen Nation machen und dich segnen, und ich will deinen Namen groß machen; und du sollst ein Segen sein! Und ich will die segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den werde ich verfluchen“ (1. Mo 12,2.3). Diese Verheißung wurde wiederum von einer weiteren Verheißung begleitet: „Deiner Nachkommenschaft will ich dieses Land geben“ (Vers 7). Und noch etwas später sagt der Herr zu ihm: „Erhebe doch deine Augen und schau von dem Ort, wo du bist, nach Norden und nach Süden und nach Osten und nach Westen! Denn das ganze Land, das du siehst, dir will ich es geben und deiner Nachkommenschaft bis in Ewigkeit“ (1. Mo 13,14.15). Die Grenzen der Gabe werden danach mitgeteilt: „Deiner Nachkommenschaft gebe ich dieses Land vom Strom Ägyptens bis an den großen Strom, den Strom Euphrat“ (1. Mo 15,18). Im Anschluss wird dann die Dauer des Besitztums garantiert: „Und ich werde dir und deinen Nachkommen nach dir das Land deiner Fremdlingschaft geben, das ganze Land Kanaan, zum ewigen Besitztum“ (1. Mo 17,8). Darüber hinaus wird die Vormachtstellung über andere Nationen verheißen: „Ich [werde] dich reichlich segnen und deine Nachkommen sehr mehren [...], wie die Sterne des Himmels und wie der Sand, der am Ufer des Meeres ist; und deine Nachkommen werden das Tor ihrer Feinde besitzen; und in deinem Nachkommen werden sich segnen alle Nationen der Erde: weil du meiner Stimme gehorcht hast“ (1. Mo 22,17.18). Diese Verheißung wird ohne wesentliche Veränderungen Isaak gegenüber wiederholt (1. Mo 26,3). In der prophetischen Segnung Jakobs durch seinen Vater finden wir jedoch den Zusatz: „Völker sollen dir dienen und Völkerschaften sich vor dir niederbeugen! Sei Herr über deine Brüder, und vor dir sollen sich niederbeugen die Söhne deiner Mutter! Wer dir flucht, sei verflucht, und wer dich segnet, sei gesegnet!“ (1. Mo 27,29). Die gleiche Verheißung wird Jakob in Bethel gegeben (1. Mo 28,13.14) und erneut bei seiner Rückkehr ins Land (1. Mo 35,11.12). In der Vision Bileams finden wir diesen Gedanken erneut: „Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel! Wie Täler breiten sie sich aus, wie Gärten am Strom, wie Aloebäume, die der HERR gepflanzt hat, wie Zedern am Gewässer! Wasser wird fließen aus seinen Eimern, und seine Saat wird in großen Wassern sein; und sein König wird höher sein als Agag, und sein Königreich wird erhaben sein. Gott hat ihn aus Ägypten herausgeführt; sein ist die Stärke des Wildochsen. Er wird die Nationen, seine Feinde, fressen und ihre Gebeine zermalmen und sie mit seinen Pfeilen zerschmettern. Er duckt sich, er legt sich nieder wie ein Löwe und wie eine Löwin; wer will ihn aufreizen? Die dich segnen, sind gesegnet, und die dich verfluchen, sind verflucht!“ (4. Mo 24,5–9).

Aus dem Ausspruch gegenüber Abraham, Isaak und Jakob geht klar hervor, dass die Nachkommenschaft, auf die sich diese Verheißung bezieht, nicht Christus, sondern eine Menge Menschen ist, wie der Sand am Ufer des Meeres. Die Worte, die der Geist Gottes Bileam in den Mund legt, zeigen, dass es sich bei der Menge um das Volk Israel handelt. Das mag auf den ersten Blick kontrovers zu dem zuvor gesagten sein, nämlich, dass sich alle Verheißungen auf Christus beziehen und dass alle Segnungen durch Ihn auf die Erde kommen. Ich werde zeigen, dass es sich hier nur um einen vermeintlichen Widerspruch handelt und dass diese Verheißungen noch nicht erfüllt wurden, sondern durch die Sünde und Verderbtheit des ersten Menschen verhindert wurden. Sie werden erst durch das Kommen des zweiten Menschen und dessen Werke in Erfüllung gehen.

Wenn man die Verheißungen mit der Geschichte Israels vergleicht, wird deutlich, dass sich diese Verheißungen teilweise und unvollkommen erfüllt haben. Die Verheißungen wurden zuerst den Patriarchen gegeben und waren an keine Bedingungen geknüpft. Die Israeliten jedoch hatten das Land Kanaan zu keiner Zeit bedingungslos in ihrem Besitz, sondern der Zugang zum Land war nur unter folgenden Voraussetzungen möglich: „Wenn ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Gebote haltet und sie tut, so werde ich euch Regen geben“. Diesem folgen weitere Versprechen. „Und ich werde mich zu euch wenden und euch fruchtbar machen und euch mehren und meinen Bund mit euch aufrechterhalten“ (3. Mo 26,3–9). „Wenn ihr mir aber nicht gehorcht und nicht alle diese Gebote tut“ ... werde ich ... das Land verwüsten, dass eure Feinde, die darin wohnen, sich darüber entsetzen sollen. Euch aber werde ich unter die Nationen zerstreuen, und ich werde das Schwert ziehen hinter euch her; und euer Land wird eine Wüste sein und eure Städte eine Einöde“ (Verse 14–33). Das gleiche finden wir, noch schärfer ausgedrückt, in 5. Mose 28. Die Israeliten hatten das Land immer nur unter bestimmten Bedingungen in Besitz und es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass eine vorbehaltliche Gabe nicht die Erfüllung einer bedingungslosen Verheißung darstellt. Dieser Punkt wird jedoch nicht unserer Beurteilung überlassen, sondern Paulus schreibt dazu im Galaterbrief: „Dieses aber sage ich: Einen vorher von Gott bestätigten Bund macht das 430 Jahre danach entstandene Gesetz nicht ungültig, dass es die Verheißung aufhebt. Denn wenn die Erbschaft aus Gesetz ist, so nicht mehr aus Verheißung; dem Abraham aber hat Gott sie durch Verheißung geschenkt“ (Gal 3,17.18).

Außer einer kurzen Periode am Ende der Regierungszeit Davids und zu Beginn der Herrschaft Salomos, besaß Israel nicht das Tor seiner Feinde, noch wurden andere Völker gesegnet oder verflucht, je nachdem, ob sie Israel gesegnet oder verflucht hatten. Im Gegenteil: die Geschichte Israels ist eine Geschichte von Hungersnöten, Knechtschaft, Niederlage und endet in vollständigem Niedergang und Gefangenschaft.

Außerdem umschlossen die Grenzen des Landes, das Israel in Besitz genommen hatte, anstatt sich „vom Strom Ägyptens bis an den großen Strom, den Strom Euphrat“ auszudehnen, nur einen Bruchteil dieses Gebiets. Und selbst innerhalb dieses begrenzten Teils, den sie besaßen, war kein unerheblicher Bereich in der Hand ihrer Feinde.

Und schließlich war das Land den Nachkommen Abrahams gegeben worden „bis in Ewigkeit“ oder, wie es an anderer Stelle heißt: „zum ewigen Besitztum“. Dass das bei Israel in Bezug auf den Besitz Kanaans nicht der Fall war, ist klar. Aber hatte der HERR seine Verheißung vergessen? Oder sollen wir annehmen, dass diese Verheißung gar nicht Israel galt? Wir finden, dass der HERR in der gleichen Prophezeiung, in der Er von einem vorbehaltlichen Besitz spricht und die Vertreibung Israels als Folge ihres Ungehorsams vorhersagt, auch auf die Zeit vorausschaut, wenn die Verheißung, die Abraham gegeben wurde, ihre wahre Erfüllung findet. „Aber selbst auch dann, wenn sie im Land ihrer Feinde sind, werde ich sie nicht verachten und sie nicht verabscheuen, sie zu vernichten, meinen Bund mit ihnen zu brechen; denn ich bin der HERR ihr Gott“ (3. Mo 26,44). Er sagt auch: „So werde ich meines Bundes mit Jakob gedenken; und auch meines Bundes mit Isaak und auch meines Bundes mit Abraham werde ich gedenken, und des Landes werde ich gedenken“ (3. Mo 26,42). Lange Zeit danach wird erneut die Beständigkeit des Bundes bestätigt: „Er gedenkt ewig seines Bundes – des Wortes, das er geboten hat auf tausend Geschlechter hin –, den er geschlossen hat mit Abraham, und seines Eides, den er Isaak geschworen hat. Und er stellte ihn Jakob zur Satzung, Israel zum ewigen Bund, indem er sprach: Dir will ich das Land Kanaan geben als Schnur eures Erbteils“ (Ps 105,8–11). Der bedingte und zeitlich begrenzte Besitz, den Israel genoss, ist daher nicht die Erfüllung des Bundes mit den Vätern.

Wir sehen also, dass Israel nie die Erfüllung der Verheißung empfangen hat. Zweifellos hat eine teilweise Erfüllung stattgefunden, was Gottes allgemeiner Handlungsweise entspricht. Wenn eine Verheißung gegeben wird, wird der erste Mensch geprüft, ob er diese empfangen kann. Das ist die teilweise Erfüllung und das Ergebnis ist stets ein Beweis dafür, dass der Mensch nach dem Fleisch keine Segnung aus Gottes Hand zu empfangen vermag. Das bringt Gott jedoch nicht dazu, seine Absichten zu ändern oder die Verheißung unerfüllt zu lassen. Denn Er hat den zweiten Menschen im Blick, der den Mittelpunkt bildet, in dem alle Verheißungen zusammenlaufen. Der Mann seiner Rechten, den Er zu seiner Zeit voranbringen wird, damit Er all das empfange, in dem der erste Mensch versagt hatte, es zu empfangen und all das vollbringe, woran der erste Mensch gescheitert ist, es zu tun. Die Schrift zeigt, dass sich die nationalen Segnungen und Herrlichkeit Israels in der Herrschaft Christi erfüllen werden. Auch mit dem Charakter dieser Herrschaft werden wir uns im Anschluss beschäftigen. Wenn wir jedoch gerade einen Blick auf die vierte Verheißung werfen, werden wir genug Beweise finden, die uns in unserem derzeitigen Stadium der Betrachtung genügen.

1.     Wie wir gesehen haben, wartet die dritte Verheißung noch auf ihre vollständige Erfüllung. Mit dem Einzug der Israeliten in das Land Kanaan und ihrer bewegten Geschichte innerhalb des Landes, hat jedoch eine teilweise Vorab-Erfüllung stattgefunden. Schließlich hat Gott einen Mann nach seinem Herzen berufen, dem Er die letzte der vier großen, oben genannten, Verheißungen gibt. „Und nun sollst du so zu meinem Knecht David sagen: So spricht der Herr der Heerscharen: Ich habe dich von der Weide genommen, hinter dem Kleinvieh weg, damit du Fürst sein solltest über mein Volk, über Israel; und ich bin mit dir gewesen überall, wohin du gezogen bist, und habe alle deine Feinde vor dir ausgerottet; und ich habe dir einen großen Namen gemacht, gleich dem Namen der Großen, die auf der Erde sind. Und ich werde einen Ort setzen für mein Volk, für Israel, und werde es pflanzen, dass es an seiner Stätte wohne und nicht mehr beunruhigt werde, und die Söhne der Ungerechtigkeit sollen es nicht mehr bedrücken, wie früher und seit dem Tag, als ich Richter über mein Volk Israel bestellt habe. Und ich habe dir Ruhe verschafft vor allen deinen Feinden; und der HERR tut dir kund, dass der HERR dir ein Haus machen wird. Wenn deine Tage erfüllt sein werden und du bei deinen Vätern liegen wirst, so werde ich deinen Nachkommen nach dir erwecken, der aus deinem Leib kommen soll, und werde sein Königtum befestigen. Der wird meinem Namen ein Haus bauen; und ich werde den Thron seines Königtums befestigen in Ewigkeit. Ich will ihm Vater sein, und er soll mir Sohn sein, so dass, wenn er verkehrt handelt, ich ihn züchtigen werde mit einer Menschenrute und mit Schlägen der Menschenkinder; aber meine Güte soll nicht von ihm weichen, wie ich sie von Saul weichen ließ, den ich vor dir weggetan habe. Und dein Haus und dein Königtum sollen vor dir beständig sein in Ewigkeit, dein Thron soll fest sein in Ewigkeit“ (2. Sam 7,8–16).

Diese Verheißung hat offensichtlich eine zweifache Anwendung. Sie bezieht sich zum Teil auf Davids unmittelbare Nachfolger, die für ihr frevelhaftes Handeln mit der Menschenrute gezüchtigt wurden. Es ist jedoch offensichtlich, dass die prophetischen Aussagen nur in sehr geringem Umfang mit der Geschichte der jüdischen Herrscher übereinstimmen und dass das hier beschriebene beständige Königtum bisher noch nicht ansatzweise in Erfüllung gegangen ist. Es kann daher keinen Zweifel geben, dass die Prophezeiung noch erfüllt werden muss und dass diese Erfüllung in dem „zweiten Menschen“ zu finden ist. Der Hebräerbrief macht das deutlich, denn hier finden wir einen Teil dieser Prophezeiung. Der Satz „ich will ihm zum Vater, und er soll mir zum Sohn sein“ bezieht sich ausdrücklich auf Christus. Und dass David selbst ihn auch so verstanden hat, geht aus Petrus‘ Aussage an Pfingsten hervor, wenn er von David sagt, dass „er nun ein Prophet war und wusste, dass Gott ihm mit einem Eid geschworen hatte, von der Frucht seiner Lenden auf seinen Thron zu setzen“ (Apg 2,30). Die Prophezeiung bringt jedoch noch eine andere Sache hervor, die in Verbindung zu der zuletzt betrachteten Verheißung gegenüber Abraham steht. Obwohl diese Prophezeiung in Israels ruhmreichster Zeit ausgesprochen wurde, sagt Gott, dass Er Israel einmal in Frieden und Sicherheit setzen wird – als zukünftiges Ereignis: „Und ich werde einen Ort setzen für mein Volk, für Israel, und werde es pflanzen, dass es an seiner Stätte wohne und nicht mehr beunruhigt werde, und die Söhne der Ungerechtigkeit sollen es nicht mehr bedrücken, wie früher“. Diesen festen und beständigen Besitz verbindet Er mit der Herrschaft des Sohnes Davids, von dem Er sagt: „Sein Name wird ewig sein. Solange die Sonne besteht, wird sein Name sprossen; und in ihm wird man sich segnen; alle Nationen werden ihn glücklich preisen“ (Ps 72,17).

Wir finden also eine Verbindung zwischen den zwei Verheißungen Abrahams und Davids Verheißung, die alle ihre Erfüllung in dem zweiten Menschen erwarten, der Gottes Segensabsichten mit der Erde wieder aufnehmen und zu seiner Verherrlichung ausführen wird. Als sie dem ersten Menschen gegeben wurden, hat dieser vollkommen versagt. Der zweite Mensch wird sie zu einem triumphalen Abschluss bringen. Er ist es, der den Kopf des Verführers der Welt zertreten wird. In Ihm werden alle Nationen der Erde gesegnet werden. Er wird Israel aus der Hand seiner Feinde erretten, dass sie Ihm dienen ohne Furcht. Er wird herrschen von Meer zu Meer und sein Reich wird kein Ende haben. Und, wie die Myriaden von Engeln verkünden, ist Er allein würdig „zu empfangen die Macht und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit und Segnung“ (Off 5,12).

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