Botschafter des Heils in Christo 1862

Epaphras

Es gibt einen höchst auffallenden Unterschied zwischen den inspirierten Berichten über das Volk Gottes und allen menschlichen Biographien. Von jenen kann in Wahrheit gesagt werden: „Viel in wenigem;“ während man oft von diesen sagen muss: „Wenig in vielem.“ Die Geschichte eines alttestamentlichen Heiligen – eine Geschichte, die sich über eine Periode von 365 Jahren erstreckt, ist in zwei kurzen Sätzen zusammengefasst: „Henoch nun wandelte mit Gott; und er war nicht, denn Gott nahm ihn hinweg“ (1. Mo 5,24). Wie kurz! Aber doch wie voll! wie umfassend! Wie viele Blätter würde der Mensch mit der Aufzeichnung eines solchen Lebens gefüllt haben? Und doch, was würde mehr gesagt werben können? zu wandeln mit Gott, umfasst alles, was möglicherweise von jemand gesagt werden kann. Ein Mensch mag um die ganze Erde reisen, mag in jedem Erdstrich das Evangelium predigen, mag für das Werk Christi leiden, mag den Hungrigen speisen, den Nackten kleiden, den Kranken besuchen, mag lesen, schreiben, drucken und verbreiten – kurz, er mag alles tun, was je getan ist oder getan werden könnte, so lässt sich doch dies alles in dieses kurze Sätzchen zusammenfassen: „Er wandelte mit Gott.“ Und glücklich für ihn, wenn es so zusammengefasst werden kann. Es kann jemand beinahe alles tun, was vorhin aufgezählt worden ist, und doch nicht eine einzige Stunde mit Gott wandeln – ja, er mag nicht einmal verstehen, was es heißt, mit Gott zu wandeln. Der Gedanke darüber ist höchst ernst und praktisch. Er würde uns zu der eifrigen Ausübung des verborgenen Lebens führen, ohne welches der glänzendste Dienst sich nur als Flachs und Rauch erweisen wird.

Die Art und Weise, in welcher der Name des Epaphras zu unserer Beachtung in das Neue Testament eingeführt ist, enthält etwas besonders Belehrendes. Die Anspielungen auf ihn sind sehr kurz; aber sehr bestimmt und kraftvoll. Er scheint einer von denen gewesen zu sein, die wir auch in gegenwärtiger Zeit so sehr bedürfen. Seine Arbeiten, soweit der inspirierte Schreiber sie aufgezeichnet hat, scheinen nicht sehr glänzend oder anziehend gewesen zu sein. Sie waren nicht berechnet, um dem menschlichen Auge zu begegnen, oder das menschliche Lob hervorzurufen; aber sie waren höchst köstlich, unvergleichlich, unschätzbar. Es waren Arbeiten im verborgenen Kämmerlein – Arbeiten innerhalb der verschlossenen Tür – Arbeiten im Heiligtum – Arbeiten, ohne welche alle die übrigen sich als unfruchtbar und wertlos beweisen müssen. Er ist durch den inspirierten Biographen nicht vor uns hingestellt als ein gewaltiger Prediger, als ein fleißiger Schreiber, als ein großer Reisender, obgleich er dies gewesen sein mag, und welches alles an seinem Platz recht schätzbar ist; doch der Heilige Geist hat uns wenigstens nicht mitgeteilt, dass Epaphras einer von jenen war. Er hat diesen einfachen, anziehenden Charakter vielmehr in einer Weise vor uns hingestellt, die berechnet ist, die Tiefen unseres moralischen und geistlichen seins in Bewegung zu bringen. Er hat ihn vor uns hingestellt als einen Mann des Gebets – des ernsten, inbrünstigen und ringenden Gebets – des Gebets, nicht für sich selbst, sondern für andere. Lasst uns das Zeugnis des Geistes über ihn mit aller Aufmerksamkeit betrachten:

„Es grüßt euch Epaphras, der von euch ist, ein Knecht Christi, allezeit ringend für euch in Gebeten, auf dass ihr steht vollkommen und vollendet in allem Willen Gottes. Denn ich gebe ihm Zeugnis, dass er große Mühe um euch, und um die zu Laodizea und um die zu Hierapolis hat“ (Kol 4,12–13). Ein solcher war Epaphras. O möchten in unseren Tagen Hunderte ihm gleich sein! Wir sind dankbar für Prediger, dankbar für Schreiber, dankbar für Reisende in der Sache Christi; aber wir bedürfen Männer des Gebets, Männer im verborgenen Kämmerlein, Männer gleich Epaphras. Wir sind glücklich, die Füße derer zu sehen, die Christus verkündigen – glücklich, sie befähigt zu sehen, die Feder eines fertigen Schreibers in dieser edlen Sache fleißig zu handhaben – glücklich, sie in wahrem evangelischem Geist ihren Weg „über uns weiter hinaus“ nehmen zu sehen – glücklich, sie in dem wahren Geist eines Hirten wieder und wieder hingehen zu sehen, um in jeder Stadt ihre Brüder zu besuchen. Gott behüte, dass wir solche ehrenvolle Dienste unterschätzen oder verkleinern sollten; ja, wir schätzen sie höher, als Worte auszudrücken vermögen. Doch vor allem bedürfen wir einen Geist des Gebets, – des ernsten, inbrünstigen und ringenden Gebets. Ohne dieses kann nichts gedeihen. Ein gebetsloser Mann ist ein kraftloser Mann; ein gebetsloser Prediger ist ein unnützer Prediger; ein gebetsloser Schreiber wird unfruchtbare Schriften hervorbringen; ein gebetsloser Evangelist wird nicht viel Gutes stiften; ein gebetsloser Hirte wird nur wenig Nahrung für die Herde haben. Wir bedürfen Männer des Gebets – Männer gleich Epaphras – Männer, deren Kämmerlein von ihren ringenden Arbeiten Zeugnis gibt. Dies sind ohne Frage die rechten Männer für die gegenwärtige Zeit.

Es gibt unermessliche Vorteile, welche die Arbeiten des Kämmerleins begleiten – Vorteile ganz eigentümlicher Art, sowohl für die, die damit beschäftigt sind, als auch für diejenigen, für welche diese Beschäftigung geschieht. Es sind ganz ruhige, nicht lästige Arbeiten. Sie werden in der Zurückgezogenheit, in der heiligen, alles unterwerfenden Einsamkeit der göttlichen Gegenwart betrieben, ohne von dem menschlichen Auge gesehen zu werden. Wie wenig würden die Kolosser von den lieblichen und eifrigen Arbeiten des Epaphras gewusst haben, wenn der Heilige Geist sie nicht erwähnt hätte. Es ist möglich, dass sogar Einige von ihnen ihn in der eifrigen Sorge für sie für unzulänglich gehalten haben. Es ist zu vermuten, dass es dort Personen gab, wie es auch jetzt solche gibt, welche die Sorge und die Sympathie eines Mannes nach seinen Besuchen oder Briefen abmessen. Allein dies würde ein falsches Kennzeichen sein. Sie müssten ihn auf seinen Knien sehen, um seine Sorge und Sympathie in Wahrheit ermessen zu können. Die Reiselust könnte mich nach London und nach Paris führen, um die Brüder zu besuchen; die Schreiblust könnte mich leiten, Briefe nach allen Orten hinzusenden. Aber nichts, als eine Liebe für die Seelen, eine Liebe für Christus, konnte je mich leiten für das Volk Gottes zu kämpfen, wie Epaphras tat, „dass sie in allem Willen Gottes vollkommen und vollendet stehen möchten.“

Die köstlichen Arbeiten des Kämmerleins erfordern keine spezielle Gabe, keine besonderen Anlagen, keine hervorstechende, geistige Begabung. Jeder Christ kann darin beschäftigt sein. Er mag nicht die Fähigkeit haben, zu lehren, zu schreiben oder zu reisen; aber er kann beten. Man hört oft von einer Gabe des Gebets reden, ein Ausdruck, der höchst unpassend ist. Man versteht darunter nicht selten nur ein fließendes Vortragen gewisser, bekannter Wahrheiten, die das Gedächtnis behält und die Lippen aussprechen, und ist nur zu oft nichts weniger als ein Gebet. Das war nicht die Weise des Epaphras; das ist auch nicht das, was wir jetzt bedürfen und wonach wir uns sehnen. Wir bedürfen einen wirklichen Geist des Gebets; wir bedürfen einen Geist, der in die gegenwärtige Noch der Kirche eintritt, der diese Not trägt und sie in beharrlicher, inbrünstiger und gläubiger Fürbitte vor den Thron der Gnade bringt; dieser Geist kann zu aller Zeit und in allen Umständen in Übung gebracht werden. Der Morgen, der Mittag, der Abend und die Mitternacht werden für den Arbeiter im verborgenen Kämmerlein passend sein. Zu jeder Zeit kann das Herz mit Gebet und Flehen zum Thron der Gnade aufspringen. Das Ohr unseres Vaters ist immer geöffnet, und seine Gegenwart immer zugänglich. Wir mögen kommen, wann oder womit wir wollen, Er ist immer bereit zu hören und immer bereit zu antworten. Er ist der Hörer, der Antwortgeber und der Freund des zudringlichen Gebets. Es gibt keine Sprache, die Er mehr liebt, als diese: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ Er selbst hat gesagt: „Bitte – suche – klopfe an;“ – „man soll zu jeder Zeit beten und nicht nachlassen.“ – „Alles, was ihr irgend im Gebet bittet, glaubt, dass ihr es empfangt;“ – „wenn jemanden von euch Weisheit mangelt, so bitte er von Gott.“ Diese Worte erleiden eine allgemeine Anwendung. Sie sind auf alle Kinder Gottes auszudehnen. Das schwächste Kind Gottes kann beten, kann wachen, kann eine Antwort empfangen und Dank sagen.

Ferner ist nichts so berechnet, uns ein tiefes Interesse für das Volk Gottes zu geben, als die Gewohnheit des beständigen Gebets für sie. Epaphras war in einem hohen Gerade mit Teilnahme erfüllt für die Christen zu Kolossä, für die zu Laodizea und für die zu Hierapolis. Seine Teilnahme ließ ihn beten und seine Gebete erweckten und vermehrten diese Teilnahme. Je mehr Teilnahme wir für jemand haben, desto mehr werden wir für ihn beten; und je mehr wir beten, desto mehr wird unsere Teilnahme wachsen. Wenn wir für das Volk Gottes mit Gebet anhalten, so werden wir uns sicher an seinem Wachstum und an seiner Wohlfahrt erfreuen. Ebenso ist es in Betreff der Unbekehrten. Wenn wir dahin gebracht sind, für sie auf Gott zu warten, so wird ihre Bekehrung mit der tiefsten Besorgnis gesucht, und wenn sie stattgefunden, mit ungeheuchelter Dankbarkeit begrüßt werden. Dieser Gedanke sollte uns reizen, dem Epaphras nachzuahmen, dem der Heilige Geist, in Verbindung mit seinen Gebeten für das Volk Gottes den ehrenvollen Titel: „ein treuer Diener Christi“ beigelegt hat (Kap 1,7).

Der höchste Beweggrund endlich, welcher dargestellt werden kann, den Geist des Epaphras in uns zu erwecken, ist die Tatsache, dass er in Übereinstimmung mit dem Geist Christi ist. Dies ist der erhabenste Beweggrund. Christus ist für sein Volk beschäftigt. Er wünscht, „dass sie in allem Willen Gottes vollkommen und vollendet stehen möchten“, und diejenigen, welche im Gebet in Betreff dieses Gegenstandes vorangehen, haben das Vorrecht, die hohe Gemeinschaft mit dem großen Vermittler oder Fürbitter zu genießen. Wie wunderbar, dass es armen, schwachen Geschöpfen hier unten erlaubt ist, über das zu beten, was die Gedanken und das Interesse des Herrn der Herrlichkeit so völlig in Anspruch nimmt! Welch ein mächtiges Band war zwischen dem Herzen des Epaphras und dem Herzen Christi, wenn jener inbrünstig arbeitete für seine Brüder zu Kolossä!

Geliebte Brüder, lasst uns das Beispiel des Epaphras erwägen; lasst es uns nachahmen! Lasst uns im Gebet für die Christen inbrünstig beschäftigt sein. Wir leben in einer höchst ernsten Zeit – in einer Zeit, worin Männer, wie Epaphras, ein dringendes Bedürfnis sind – Männer, die bereit sind, für das Werk des Herrn auf ihren Knien zu arbeiten oder die edlen Bande des Evangeliums, wenn es sein sollte, zu tragen. Ein solcher war Epaphras. Die erste Kunde, welche wir über ihn haben, zeigt uns ihn als einen Mann des Gebets (Kol 4,12) und die letzte als einen Gefährten in den Banden mit dem so völlig ergebenen Apostel der Heiden (Phlm 1,23).

O möge der Herr unter uns einen Geist des ernstesten Gebets und der anhaltensten Fürbitte erwecken; ja, möge Er recht viele Solcher erwecken, die im Geist des Epaphras für das Werk des Herrn arbeiten! Dies sind die Männer, welche die gegenwärtige Zeit so sehr bedarf.

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