Botschafter des Heils in Christo 1862

Vorrecht und Verantwortung

Vorrecht und Verantwortlichkeit! Ja, dies ist die göttliche Ordnung; und wie wichtig ist es beim Gebrauch der Dinge Gottes, dieselben in die Ordnung zu stellen, in welche Er sie stellt, und sie darin zu lassen! Das menschliche Herz ist immerdar geneigt, die Dinge Gottes aus ihrem rechten Platze zu bringen; und daherkommt es auch, dass man so häufig die Pflichten des Volkes Gottes auf diejenigen zu legen sucht, welche noch in ihren Sünden sind. Dies ist ein großer Fehler. Erst muss ich eine Stellung einnehmen, bevor ich die Pflichten erfüllen kann, welche damit verknüpft sind. Ich muss erst in einer Verwandtschaft sein, bevor ich die Gesinnungen kennen kann, welche ihr eigen sind. Wenn ich kein Vater bin, – wie kann ich die Gesinnung eines Vaterherzens kennen oder äußeren? Unmöglich! Ich kann sie rühmen und preisen; ich kann es versuchen, sie zu beschreiben; aber um sie zu fühlen, muss ich Vater sein.

So ist es auch in den Dingen Gottes. Ich muss eine Stellung, ein Verhältnis einnehmen, bevor ich mich mit den Pflichten vertraut machen kann, welche damit verknüpft sind. Ich muss in einer Verwandtschaft sein, bevor ich die Zuneigungen verstehen kann, welche daraus entspringen. Der Mensch ist in aller möglichen Weise auf die Probe gestellt: – bei der Schöpfung – unter der göttlichen Regierung – unter dem Gesetz – unter Satzungen – durch die Sendung von Propheten – durch das Amt der Gerechtigkeit in der Person des Johannes des Täufers – durch das Amt der Gnade in der Person Christi – durch das Amt des Heiligen Geistes. – Und was ist der Erfolg von all den Proben gewesen? Ein gänzliches Misslingen! – Eine ununterbrochene Kette des Zeugnisses, vom Paradies an bis zum Pfingstfest hin, hat nur dazu gedient, die völlige Verderbtheit des Menschen in jeder nur möglichen Weise offenbar zu machen. In jeder Stellung einer Verantwortlichkeit, in welche der Mensch gebracht worden ist, hat er sich als untauglich erwiesen. Nicht eine einzige Ausnahme kann genannt werden.

Soweit, was die Verantwortlichkeit des Menschen betrifft. Er hat sich selbst in jeder Sache als untreu bewiesen. Er hat nicht einen einzigen Zoll breit Grund, worauf er sich stellen und steifen könnte. Er hat sich selbst verdorben, – aber in Gott ist seine Hilfe. Die Gnade ist ins Mittel getreten in der Person Christi, und sie ist der verzweifelten Lage des Menschen vollkommen begegnet. Das Kreuz ist das göttliche Heilmittel für all das Elend, und durch dieses Kreuz ist der Gläubige auf einen Platz göttlichen und immerwährenden Vorrechts gestellt. Christus ist all der Noch begegnet, hat alle Anforderungen erfüllt, jeder Verantwortlichkeit entsprochen; und nachdem Er dieses durch seinen Tod am Kreuz vollbracht hat, ist Er in der Auferstehung die Grundlage aller Vorrechte der Gläubigen geworden. Wir haben alles in Christus, und wir empfangen Ihn, nicht weil wir allen Anforderungen, die an uns ergingen, entsprochen haben, sondern weil Gott uns liebte, selbst als wir in allen Dingen gefehlt hatten. Wir finden uns, ohne irgendwelche Bedingung, an einem Platz unaussprechlichen Vorrechts. Wir haben uns nicht dahin gearbeitet; – wir haben uns nicht dahin geweint; – wir haben uns nicht dahin gebetet; – wir haben uns nicht dahin gefastet. Wir wurden aufgenommen aus der Tiefe unseres verlorenen Zustandes, aus jener tiefen Grube, in welche wir gefallen waren, weil wir in jeder Verantwortlichkeit gefehlt hatten; – wir sind durch Gottes freie Gnade in eine Stellung unaussprechlichen Segens und Vorrechts versetzt worden, welche Nichts je uns rauben kann. Nicht die vereinigten Mächte der Hölle und der Erde – nicht die ganze Bosheit Satans und seiner Werkzeuge – nicht die ganze Macht der Sünde, des Todes und Grabes, in ihrer furchtbaren Schlachtordnung aufgestellt – können je dem, der an Jesus glaubt, den Platz des Vorrechts rauben, in welchem er durch Gnade steht.

Der Leser kann in seiner Vorstellung darüber nicht einfach genug sein. Wir erlangen nicht unsere Stellung des Vorrechts als eine Frucht unserer Treue in der Stellung der Verantwortlichkeit. Gerade das Gegenteil. Wir haben allenthalben uns untreu bewiesen. „Alle haben gesündigt und erreichen die Herrlichkeit Gottes nicht.“ Wir verdienten den Tod; aber wir haben das Leben empfangen. Wir verdienten die Hölle; aber wir haben den Himmel empfangen. Wir verdienten ewigen Zorn; aber ewige Gunst haben wir empfangen. Die Gnade ist dazwischengetreten, und sie herrscht durch Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn.

Daher wird in der Haushaltung der Gnade das Vorrecht die Grundlage der Verantwortlichkeit, und dies wird in der zu Anfang angeführten Schriftstelle aufs Klarste und Schönste beleuchtet: „Wenn du in einen Krieg ziehst wider deinen Feind, und stehst Rosse und Wagen, ein Volk, das größer ist, denn du, so fürchte dich nicht vor ihnen; denn der Herr dein Gott ist mit dir, der dich aus Ägyptenland geführt hat.“ „Neun ihr nun anrückt zum Streit: so soll der Priester herzutreten, und mit dem Volk reden, und zu ihnen sprechen: Höre Israel! Ihr zieht heute in den Streit wider eure Feinde; euer Herz verzage nicht! Fürchtet euch nicht und erschreckt nicht, und lasst euch nicht grauen vor ihnen; denn der Herr euer Gott geht mit euch, dass Er für euch streite mit euren Feinden, euch zu helfen“ (V 1–4).

Hier finden wir die Vorrechte Israels bestimmt hervorgehoben: – „Der Herr, dein Gott, ist mit dir“, – und zwar in demselben Charakter, in welchem Er sie aus Ägypten geführt hatte. Er war mit ihnen in der Macht jener unumschränkten Gnade, welche sie von dem eisernen Joch Pharaos befreit hatte – welche sie durch das rote Meer geführt und in der „großen und schrecklichen Wüste“ geleitet und behütet hatte. Dies machte den Sieg gewiss. Unmöglich konnte ein Feind Jehova widerstehen, der in steter Gnade auf der Seite seines Volkes stritt.

Und mögen wir es sorgfältig beachten, dass in der angeführten Stelle nicht eine einzige Bedingung durch den Priester gemacht wird. Er bestätigt in der unumschränktesten Weise die Verwandtschaft und das daraus entstehende Vorrecht des Israels Gottes. Er sagt nicht: „Der Herr, dein Gott, wird mit dir sein, wenn du dies und das tust.“ Dies würde nicht die geeignete Sprache für denjenigen sein, der vor dem Volk Gottes stand als der Verwalter jener Vorrechte, welche die Gnade ihnen verliehen hatte. Die Gnade macht keine Bedingungen, errichtet keine Schranken, stellt keine Verträge auf; ihre Sprache ist: „Der Herr, dein Gott, ist mit dir, – Er geht mit dir, – Er streitet für dich, – Er errettet dich.“ Wenn Jehova für sein Volk streitet, so ist es des Sieges gewiss. „Wenn Gott für uns ist, – wer mag wider uns sein?“ Verbürge mir nur dies, dass Gott mit mir ist, und ich rechne auf völligen Sieg über jeden geistigen Feind.

Soweit über die Frage des Vorrechts. Lasst uns jetzt für einen Augenblick die Verantwortlichkeit betrachten.

„Und die Amtleute sollen mit dem Volk reden, und, sagen: Wo jemand ist, der ein neues Haus gebaut hat, und hat es noch nicht eingeweiht, der gehe hin und kehre wieder zu seinem Haus, auf dass er nicht sterbe im Krieg, und ein anderer weihe es ein. Und wo jemand ist, der einen Weinberg gepflanzt hat, und hat ihn noch nicht gemein gemacht, der gehe hin und kehre wieder zu seinem Haus, dass er nicht im Krieg sterbe, und ein anderer mache ihn gemein. Und wo jemand ist, der sich einem Weib verlobt hat, und hat sie noch nicht Heim geholt, der gehe hin und kehre wieder zu seinem Haus, dass er nicht im Krieg sterbe, und ein anderer hole sie heim. Und die Amtleute sollen weiter mit dem Volk reden und sprechen: Wo jemand ist, der sich fürchtet und ein verzagtes Herz hat, der gehe hin und kehre wieder zu seinem Haus, auf dass nicht auch seiner Brüder Herz feig werde, wie sein Herz ist. Und wenn die Amtleute ausgeredet haben mit dem Volk, so sollen sie Hauptleute an des Volkes Spitze stellen“ (V 5–9).

Eine ungemeine Schönheit liegt in der Ordnung, in welcher der Priester und die Amtleute in dieser Stelle eingeführt werden. Der Erstere ist der Verwalter von Israels Vorrechten; der Letztere von Israels Verantwortlichkeit. Aber wie wichtig ist es, zu sehen, dass zuerst der Priester sie mit ihren köstlichen Vorrechten bekannt gemacht hatte, ehe es den Amtleuten erlaubt wurde, die Gemeinde auf ihre große Verantwortlichkeit hinzuweisen. Stelle dir den umgekehrten Fall vor! Denke dir, des Amtmanns Stimme wäre zuerst gehört worden, was würde die Folge davon gewesen sein? Furcht, Niedergeschlagenheit und Verzagtheit. Verantwortlichkeit zu übernehmen, ehe ich meine Stellung kenne – Gesinnungen der Liebe verlangen, ehe ich in der Familie bin – das heißt ein unerträgliches Joch auf den Nacken werfen, eine unleidliche Last auf die Schulter legen. Dies ist Gottes Weise nicht. Wenn du vom 1. Buch Mose bis zur Offenbarung des Johannes suchst, so wirst du finden, ohne eine einzige Ausnahme, dass die göttliche Ordnung ist: Vorrecht und Verantwortlichkeit, und nicht: Verantwortlichkeit und Vorrecht. Stelle mich auf den Fels des Vorrechts, und ich bin im Stande, meine Verantwortlichkeit zu verstehen und zu erfüllen; aber wenn du mir von Verantwortlichkeit redest, während ich noch in der Grube des Verderbens, in dem Schlamm der Gesetzlichkeit oder in dem Sumpf der Verzweiflung liege, so raubst du mir dadurch alle Hoffnung, jemals zu jener heiligen Höhe erhoben zu werden, auf welche das Sonnenlicht göttlicher Gunst sich in lebendigem Glänze ergießt, und wo allein Pflichten, zum Ruhm des Namens Jesu, erfüllt werden können.

Es gibt manche, welche von „Bedingungen des Evangeliums“ zu uns reden. Wer hörte aber je von einer frohen Botschaft, die von Bedingungen umzäunt war? Wir kennen Bedingungen des Gesetzes; aber ein Evangelium mit Bedingungen ist ein anderes Evangelium, als Paulus uns gebracht hat (Gal 1,6–7), so es doch kein anderes gibt. Bedingungen, welche durch das Geschöpf erfüllt werden müssen, gehören nicht zu dem Evangelium, sondern zum Gesetz. Der Mensch ist unter allen nur möglichen „Bedingungen“ auf die Probe gestellt worden. Und was ist der Ausgang gewesen? Übertretung! Ja, Übertretung allein – Übertretung beständig. Der Mensch ist eine Ruine – ein Wrack – ein Bankrott. Welchen Nutzen kann es irgendwie haben, einen solchen unter Bedingungen zu stellen, selbst wenn man diesen den ungereimten Namen „Bedingungen des Evangeliums“ beilegen sollte. Gar keinen Nutzen! Der Mensch kann sich unter jeder Art von Bedingungen nur als untreu beweisen. Er ist in der Wage gewogen und zu leicht erfunden worden. Er ist gerichtet worden – Wurzel samt Zweige. „Diejenigen, die im Fleisch sind, können Gott nicht gefallen“ (Röm 8,8). Dies heißt nicht: „Diejenigen, die im Leib sind“; sondern: „im Fleisch“. Aber der Gläubige ist nicht im Fleisch, obschon er im Leib ist. Er wird nicht betrachtet, als stehend in der alten Schöpfung – in dem Zustand des alten Adams in welchem er versucht und gerichtet worden ist. Christus ist herniedergekommen und unter dem vollen Gewicht der Schuld des Menschen gestorben. Er hat die Stelle des Sünders mit all dessen Verbindlichkeiten eingenommen, und hat durch seinen Tod alles und jedes in Ordnung abbracht. Er lag im Grab, nachdem Er jedem Anspruch Genüge geleistet und jeden Feind zum Schweigen gebracht hatte: Gerechtigkeit, Gesetz, Sünde, Tod, Zorn, Gericht, Satan und alles, was gegen den Menschen war. Da lag der göttliche Bürge in dem schweigsamen Grab, und Gott trat ins Mittel, erweckte Ihn vom Tod auf, setzte Ihn zu seiner Rechten in den Himmel, sandte den Heiligen Geist herab, um von einem auferstandenen und erhöhten Erlöser zu zeugen, und um mit Ihm, dem Auferstandenen und Erhöhten, alle zu vereinigen, welche an seinen Namen glauben.

Hier gelangen wir dann zu einem gänzlich neuen Grund, um darauf zu stehen vor unserem Gott. Wir vermögen jetzt dem „Amtmanne“ zuzuhören, wenn er uns die Anforderungen Christi an alle, welche mit Ihm vereinigt sind, kundtut. Der Priester hat zu uns gesprochen, und uns den unvergänglichen, festen Grund mitgeteilt. auf welchem wir stehen, die unzerstörbare Verwandtschaft, in welche hinein wir wiedergeboren sind; und nun sind wir in der Lage, auf die Worte Desjenigen zu lauschen, welcher vor uns steht, als der Verwalter unserer hohen und heiligen Verantwortlichkeit. Wäre der „Amtmann“ zuerst gekommen, so hätten wir seine Gegenwart fliehen müssen, entmutigt und zu Boden geworfen durch das Gewicht und den Ernst seiner Worte, und wären zu der verzweifelnden Frage getrieben worden: „Wer kann dann selig werden“? Aber nachdem der „Priester“ – der Vermittler der Gnade – der Verwalter des Vorrechts – unsere Füße auf den Grund der neuen Schöpfung gestellt, und unsere Herzen durch die Entfaltung der freien, unbedingten Gnade, in welcher wir stehen, gestärkt hat, vermögen wir den „Geboten“ des „Amtmanns“ zuzuhören und finden sie „nicht schwer“, weil sie vom Thron der Gnade an uns ergehen.

Und was sagt der „Amtmann“ zu uns? Dieses ist es: „Niemand, der Kriegsdienste tut, verwickelt sich in Beschäftigungen des Lebens, auf dass er dem, der ihn angeworben, gefalle“ (2. Tim 2,4). Dies ist die Summe und der Inhalt der Botschaft des „Amtmanns“. Er verlangt von den Streitern Gottes eine völlige Hingabe des Herzens. Es ist dies nicht eine Frage der Errettung, oder ob man ein Kind Gottes, ein wahrer Israelit sei; es ist einfach eine Frage der Fähigkeit für einen treuen Kriegsdienst; und klar ist es, dass ein Mann nicht wohl streiten kann, wenn sein Herz verflochten ist mit „einem Haus“ – „einem Weinberg“ – „einem Weib“.

Auch war es nicht eine Frage, ob man solche Dinge besitzen dürfe oder nicht; keineswegs. Taufende von denen, welche auszogen, um das Schlachtfeld zu betreten und Siegesbeute zu sammeln, hatten Häuser und Äcker und Familien. Die Amtleute hatten keine Einwendung gegen den Besitz dieser Dinge zu erheben; der einzige Punkt, um den es sich handelte, war, nicht mit denselben verflochten zu sein. Der Apostel sagt nicht: „Niemand, der Kriegsdienste tut, lässt sich in die Beschäftigungen dieses Lebens ein.“ Hätte er dies gesagt, so müssten wir alle im Müßigang und in der Einsamkeit leben, während er uns anderswo bestimmt erklärt, dass, „wer nicht arbeiten will, auch nicht essen soll.“ Der große Gegenstand, um den es hier sich handelt, ist, das Herz unverflochten zu halten Gottes Streiter müssen freie Herzen haben, und der einzige Weg, um frei zu sein, ist: alle unsere Sorgen auf den zu werfen, der für uns sorgt. Ich kann auf dem Kampfplatz mit einem freien Herzen stehen, wenn ich mein Haus, meinen Weinberg, und mein Weib in die göttliche Obhut gestellt habe.

Aber dann müssen die Streiter Gottes auch mutige Herzen haben, eben sowohl, wie freie Herzen. „Die Furchtsamen und Feigherzigen“ können nimmer im Streit stehen, oder den Lorbeer des Sieges davontragen. Unsere Herzen müssen sowohl von der Welt los und ledig, als auch durch ein kindliches Vertrauen auf Gott mutig sein; und möge es wohl bedacht werden, dass diese Dinge nicht „Bedingungen des Evangeliums“, sondern „Folgen des Evangeliums“ sind – ein sehr wichtiger Unterschied! Welch ein Irrtum, von den Bedingungen der frohen Botschaft zu sprechen! Dies heißt nichts anderes, als den alten Sauerteig der Gesetzesgerechtigkeit in einer neuen und sonderbaren Form wiederaufzurichten, und ihn mit einem Namen zu belegen, der in sich selbst einen Widerspruch einschließt. Wenn jene köstlichen Trauben, welche die Frucht der Bereinigung mit dem lebendigen Weinstock sind, dargestellt werden als die notwendigen Bedingungen dieser Vereinigung – was muss dann aus dem Sünder werden? Wo sollen wir Früchte tragen, als allein in Christus? Und wie werden wir mit Christus vereinigt? Durch Bedingungen? O nein, sondern durch Glauben.

Möge der Heilige Geist meinen geliebten Leser über die göttliche Ordnung der Dinge recht erleuchten, nämlich: „Vorrecht und Verantwortlichkeit.“

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